Gernot Lehr: Die Vorwürfe zu Eigen gemacht
Die Verdachtsberichterstattung ist ein sehr wichtiges und für den freien Wertebildungsprozess der Gesellschaft unverzichtbares journalistisches Instrument. Für die jeweils Betroffenen ist sie hochgefährlich und oft mit einer lebenslangen Vernichtung von Reputation verbunden; mit negativen Auswirkungen auf das familiäre, private, berufliche und gesellschaftliche Leben. Unverzichtbar, weil ohne diese Möglichkeit zahlreiche Missstände oder Fehlentwicklungen nie bekannt geworden wären; gefährlich, weil die Wirkung des öffentlichen Prangers eines Verdachts in den Zeiten des Internets potenziert werden und existenzvernichtend sein können.
Deshalb bedarf es einer höchst sprachsensiblen Darstellung, wenn in rechtmäßiger Weise über den Verdacht eines Fehlverhaltens berichtet wird: Jegliches, auch nur subtiles Zu-Eigen-Machen des Verdachts muss unterbleiben; dem Rezipienten muss durch die Berichterstattung stets vermittelt werden, dass der Verdacht auch falsch sein kann. Die Offenheit der Verdachtslage muss im Vordergrund stehen.
Sprachlich verlangt das eine große Sorgfalt, bis hin zu einer gewissen Sterilität der Berichterstattung, wie wir sie aus dem Gegendarstellungsrecht kennen. Nur so hat der Betroffene überhaupt eine Chance, dass sich der Verdacht beim Leser, Zuschauer oder Zuhörer nicht als feststehende Tatsachenbehauptung verselbstständigt. Eine öffentliche Verdachtsäußerung muss dem Rezipienten stets vermitteln, dass sie auch unrichtig sein könnte.
Rechtsprechung stärkt zunehmend den Persönlichkeitsschutz
Diesem Anspruch werden viele Verdachtsberichterstattungen nicht gerecht. Die - zunehmend fortschrittliche und die Gefährdungslagen der digitalen Informationsgesellschaft aufnehmende - höchstrichterliche Rechtsprechung muss sich noch weiter fortentwickeln, um einen angemessenen Ausgleich zwischen den Kommunikationsfreiheiten und dem Persönlichkeitsrecht zu erreichen.
In manchen Konstellationen, z.B. in Plagiatsverdachtsfällen, wäre es in der Verdachtsphase auch möglich, über etwaige Untersuchungen zu berichten, ohne identifizierend eine Person zu nennen, die bislang nicht in der Öffentlichkeit stand. Die Berichterstattung wäre häufig auch ohne die Personalisierung informativ.
In anderen Detailfragen entwickelt sich die Rechtsprechung gerade zugunsten des Persönlichkeitsschutzes fort. So hat der BGH die Rechte von Betroffenen in Bezug auf die Pflicht der Presse, diese zu konfrontieren und ihre Stellungnahmen umfassend wiederzugeben, beachtlich gestärkt.
Bewusstseinswandel bei der Nachtragspflicht
Ein wichtiges Thema ist die redaktionelle Nachtragspflicht im Falle einer vorausgegangen rechtmäßigen Verdachtsberichterstattung. Leider weigern sich angesehene Medien immer noch, ihren Lesern mitzuteilen, dass ein von ihnen kolportierter Verdacht zwischenzeitlich widerlegt wurde. Damit wird den Betroffenen, die den Pranger des öffentlichen Verdachts hinnehmen mussten, die Chance der gesellschaftlichen Rehabilitation durch einen redaktionellen Nachtrag versagt.
So liegt dem Bundesverfassungsgericht ein Urteil des Bundesgerichtshofs vor, der zur Veröffentlichung eines Nachtrags verurteilt hat, nachdem ein vorausgegangenes Ermittlungsverfahren mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden war.
Aber ein Bewusstseinswandel hat partiell bereits eingesetzt. Es gibt Redaktionen, die kein Problem damit haben, umfassend, in gleicher Aufmachung und an gleicher Stelle wie bei Ausgangsberichterstattung mitzuteilen, dass ein Verdacht ausgeräumt wurde. Das Versagen in der Medienaffäre um Christian Wulff mag dazu beigetragen haben: Nur wenige Redaktionen hatten die Größe, den monatelangen Veröffentlichungen eines jeden nur denkbaren kleinteiligen Verdachts eine uneingeschränkte Rehabilitation entgegenzusetzen.
Ermittlungsverfahren: Muss der Betroffene sich entlasten?
Ein Sonderproblem stellt die Frage der Berichterstattung während eines noch nicht abgeschlossenen Ermittlungsverfahrens dar, also einer Phase der zwingenden Unschuldsvermutung.
Setzt die Durchsetzung eines Unterlassungsanspruchs gegen eine vorverurteilende Verdachtsberichterstattung voraus, dass der Betroffene die Unrichtigkeit des Verdachts glaubhaft macht, also das Risiko eingehen muss, während eines laufenden Ermittlungsverfahrens eine eidesstattliche Versicherung abzugeben?
Oder reicht für den Unterlassungsanspruch die Verletzung einer der vier Voraussetzungen für die rechtmäßige Verdachtsberichterstattung (Mindestbestand an Beweistatsachen, berechtigtes öffentliches Informationsinteresse, sorgfältige Recherche einschließlich umfassender Konfrontation, offene Darstellung) aus? Eine kürzlich ergangene rechtskräftige Entscheidung des OLG Köln spricht dafür, dass sich die Medien während eines laufenden Ermittlungsverfahrens grundsätzlich an die vier Voraussetzungen halten müssen, ohne dass der Wahrheitsbeweis erforderlich ist.
Die Zeit: Nicht mal mehr Verdachtsberichterstattung
Was bedeutet das für die Berichterstattung "Der Schattenmann" in Die Zeit vom 25. Januar 2018 und die zahlreichen Folgeveröffentlichungen? Die Debatte darüber berührt die Grenzen der Verdachtsberichterstattung nur am Rande.
Die Zeit arbeitet zwar zu Beginn ihres Dossiers mit den typischen Begrifflichkeiten der Verdachtsberichterstattung, indem geschildert wird, dass Wedel mit den detaillierten Vorwürfen der verschiedenen Schauspielerinnen konfrontiert worden sei, aber zuletzt eine konkrete Stellungnahme abgelehnt habe. Zunächst beschränkt sich das Dossier auf die ausführliche Wiedergabe der Schilderungen der betroffenen Frauen.
Zunehmend verliert das beklemmende Stück jedoch die Distanz und macht sich in vielen kleinen Formulierungen die Vorwürfe zu Eigen. So heißt es in einer Unterzeile zu dem Foto einer jungen Schauspielerin aus dem Jahr 1979, dass sie "vom Schicksal ihrer Vorgängerin" bei Wedel nichts gewusst habe. Es wird für den Leser nicht mehr in Frage gestellt, ob einzelne Schilderungen von Übergriffen Wedels, hier das "Schicksal" der "Vorgängerin", zutreffend sind oder nicht.
Damit handelt es sich nicht mehr um eine bloße Verdachtsäußerung, mit der für Die Zeit das Privileg verbunden wäre, auch im Falle einer Unrichtigkeit der wiedergegebenen Verdächtigungen presserechtlich nicht zu haften. Die Zeitung dürfte ganz bewusst auf dieses Privileg einer Haftungsbefreiung verzichtet haben, weil sie von der Richtigkeit und Beweisbarkeit der Vorwürfe überzeugt ist.
Das Eingehen eines solchen journalistischen Risikos verdient Respekt. Sollte Wedel die Vorwürfe widerlegen können, würde ein Tsunami von Unterlassungs-, Richtigstellungs-, Schadensersatz- und hohen Entschädigungsansprüchen über den Verlag und die Autoren hereinbrechen. Derzeit zeichnet sich eine solche Entwicklung im Fall Wedel nicht ab. Unabhängig vom Fall Wedel sollte bei aller Notwendigkeit einer Verdachtsberichterstattung stets verantwortungsvoll jegliche Tendenz zur Vorverurteilung vermieden und die Offenheit des Verdachts betont werden, weil die anderenfalls eintretenden Schäden für den Betroffenen oft nicht korrigierbar sind. Der Fall Kachelmann ist ein prominentes Beispiel für eine solche Fehlentwicklung. Gelungene Verdachtsberichterstattung ist journalistisch anspruchsvoll.
Der Autor Gernot Lehr ist Partner im Bonner Büro von Redeker Sellner Dahs. Er berät und vertritt vor allem im Presse- und Äußerungsrecht, Rundfunkrecht, Informationsfreiheitsrecht, Recht der neuen Medien und Medienverfassungsrecht. Zudem lehrt Gernot Lehr Medienrecht an der Universität Bonn.
Pro & Contra: Berichterstattung über Dieter Wedel: . In: Legal Tribune Online, 07.02.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26927 (abgerufen am: 06.12.2024 )
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