Massenentlassungen haben große wirtschaftliche Tragweite, entsprechend müssen kündigende Arbeitgeber genaue Angaben machen. Das LAG Hessen schränkt ihren Spielraum, was anzuzeigen ist, dabei nun erheblich ein, zeigt Alexander Willemsen.
Die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung kann – unter anderem – von einer wirksam erstatteten Massenentlassungsanzeige abhängen. Bislang herrschte Einigkeit darüber, welche Angaben der Arbeitgeber in dieser Anzeige machen muss und welche er (freiwillig) machen kann. Ein Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts (LAG) stellt die gängige Praxis nun auf den Kopf (Urt. v. 25.06.2021, Az. 14 Sa 1225/20). Es schafft neue Fallstricke, die Unternehmen bei der Vorbereitung einer Massenentlassungsanzeige kaum erkennen können.
Nach der europäischen Massenentlassungsrichtlinie (iMERL) und § 17 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) hat der Arbeitgeber unter gewissen Voraussetzungen eine Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit zu erstatten. Die Anzeige dient vornehmlich dem Zweck, die Agentur für Arbeit vorzuwarnen und eine Weitervermittlung der betroffenen Arbeitnehmer in eine neue Beschäftigung zu erleichtern. Besondere Bedeutung gewinnt das Massenentlassungsanzeigeverfahren dadurch, dass eine ordnungsgemäße Erfüllung aus Sicht des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) Voraussetzung für die Wirksamkeit der entsprechenden betriebsbedingten Kündigungen ist (vgl. BAG, Urt. v. 22.01.2012 – 2 AZR 371/11). Insofern ist die ordnungsgemäße Erstattung der Massenentlassungsanzeige gerade bei umfangreichen Restrukturierungen besonders wichtig.
Welche Angaben der Arbeitgeber dabei gegenüber der Agentur für Arbeit machen muss, ergibt sich aus § 17 Abs. 3 S. 4 und 5 KSchG. Die sogenannten Muss-Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG umfassen den Namen des Arbeitgebers, den Sitz und die Art des Betriebes, die Gründe für die geplanten Entlassungen, Zahl und Berufsgruppen der zu entlassenden und in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, Zeit, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, und die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer. Demgegenüber zählen zu den sogenannten Soll-Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer.
In der Praxis sieht die Differenzierung zwischen beiden Regelungen so aus, dass die Muss-Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG in das Formblatt der eigentlichen Entlassungsanzeige eingegeben werden, wohingegen die unter § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG genannten Soll-Angaben in einem gesonderten Formblatt erfasst werden. Auf diesem Formblatt (Stand Januar 2019) befindet sich der Hinweis, dass alle Angaben freiwillig sind und auch später nachgereicht werden können. Im Merkblatt für Arbeitgeber der Agentur für Arbeit (Stand Oktober 2017) wird zu den Soll-Angaben ausdrücklich ausgeführt, dass diese Angaben freiwillig sind und nicht Voraussetzung für die Wirksamkeit der Entlassungsanzeige seien.
Hessisches LAG macht aus dem Soll ein Muss
In seinem Urteil bricht das Hessische LAG mit dieser etablierten Praxis und stellt fest, dass eine Massenentlassung unwirksam sei, wenn nicht auch die Soll-Angaben in der Anzeige enthalten sind.
Zur Begründung führt das Hessische LAG an, dass die Massenentlassungsanzeige nach Art. 3 Abs. 4 S. 1 MERL alle zweckdienlichen Angaben enthalten muss, die dem Arbeitgeber zur Verfügung stehen. Dabei sei kein Unterschied zwischen Soll- und Muss-Angaben zu machen: Der Gesetzgeber habe beide Kategorien von Informationen für zweckdienlich erachtet. Der Unterschied zwischen den Formulierungen „müssen“ und „sollen“ sei lediglich dem Umstand geschuldet, dass der Arbeitgeber stets über alle Muss-Angaben verfügt, während die Soll-Angaben nicht aus seiner Sphäre stammen und daher nur insoweit anzugeben sind, wie sie dem Arbeitgeber vorliegen.
Entgegen der jahrelangen Praxis, der ausdrücklichen Aussagen im offiziellen Merkblatt der Agentur für Arbeit und den Angaben auf den jeweiligen Formularen der Massenentlassungsanzeige hielt das Hessische LAG die Soll-Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG für zwingend notwendig und die Massenentlassungsanzeige in dem vorliegenden Rechtsstreit für unwirksam, da die entsprechenden Angaben nicht enthalten waren. In der Folge hielt es die ausgesprochenen Kündigungen ebenfalls für unwirksam.
Können Unternehmen alle notwendigen Details wissen bzw. in Erfahrung bringen?
Die Entscheidung des Hessischen LAG ist noch nicht rechtskräftig. Es ist derzeit offen, ob das beklagte Unternehmen Revision vor dem BAG einlegen wird und wie dieses Verfahren dann ausgeht.
Jedenfalls bis dahin schafft das Urteil allerdings ein erhebliches Maß an Rechtsunsicherheit: Verzichtet der Arbeitgeber auf die Einreichung des Formblatts „BA-KSchG 2“, in dem die Soll-Angaben aufgeführt sind und das bislang als freiwilliger Zusatz galt, droht den betriebsbedingten Kündigungen, die im Rahmen der Massenentlassung ausgesprochen werden, die Unwirksamkeit. Arbeitgeber sind also gut beraten, bis auf Weiteres auch die Soll-Angaben zwingend in ihre Massenentlassungsanzeige aufzunehmen.
Daraus folgt indes ein erheblicher Mehraufwand bei der Erstellung der Massenentlassungsanzeige: In der Regel liegen dem Arbeitgeber Angaben zu beispielweise dem erlernten Beruf der Betroffenen nicht vor. Insbesondere bei Anlerntätigkeiten kann ein erheblicher Unterschied zwischen der aktuell ausgeübten Position und dem ursprünglich erlernten Beruf bestehen. Arbeitgeber werden aufgrund des neuen Urteils gezwungen sein, trotz des Zeit- und Kostendrucks bei Restrukturierungen noch entsprechende Informationen zusammentragen zu müssen.
Alles andere wäre zu riskant: Das Hessische LAG stellt zwar klar, dass vom Arbeitgeber nur solche Angaben gefordert werden könnten, die diesem - gegebenenfalls nach entsprechenden Nachforschungen – auch möglich sind. Unternehmen sollten sich allerdings gut überlegen, ob sie auf dieser Grundlage tatsächlich auf die Soll-Angaben verzichten möchten. Sie müssen dann nämlich im Kündigungsschutzprozess nachweisen, dass sie über die Informationen nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG nicht verfügen und diese auch mit zumutbaren Nachforschungen nicht hätten erlangen können. Dies dürfte im Regelfall wohl kaum gelingen.
Prognose zu höchstrichterlicher Entscheidung schwierig
Nachdem das LAG Berlin-Brandenburg vor wenigen Jahren Unsicherheit schuf, indem es die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung im Rahmen des Konsultationsverfahrens vor Erstattung einer Massenentlassungsanzeige für nötig hielt, stellt auch das Urteil des Hessischen LAG die Praxis vor Probleme. Bis auf weiteres müssen die Unternehmen vorsorglich auf die neuen Anforderungen reagieren und die Soll-Angaben als Pflichtangaben betrachten. Auf die ausdrücklichen Anweisungen der Agentur für Arbeit, welche Angaben zwingend in die Massenentlassungsanzeige aufzunehmen sind, können sie sich dabei nicht verlassen. Die Agentur für Arbeit sollte daher schnellstmöglich ihre Merkblätter und Formulare anpassen, damit die Rechtslage für den Anwender transparent bleibt.
Wie das BAG in einer möglichen Revision entscheiden wird, ist offen. Zuletzt hatte es sich im Rahmen der Air-Berlin-Klagen mit den Soll- und Muss-Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 4 und 5 KSchG befasst. Dort hatte der beklagte Arbeitgeber jedoch die Soll-Angaben vollständig angegeben, sodass es keiner Entscheidung über deren Erforderlichkeit bedurfte. Zudem dürfte eine mögliche Revision in diesem Verfahren von einem anderen Senat entschieden werden. Es ist auch nicht völlig ausgeschlossen, dass das BAG dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorlegen wird – dann wird allerdings erst in mehreren Jahren Klarheit herrschen, ob aus dem Soll wirklich ein Muss wird.
Der Autor Dr. Alexander Willemsen ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht. Er ist Partner bei der Kanzlei Oppenhoff & Partner in Köln.
LAG Hessen zur Massenentlassungsanzeige: . In: Legal Tribune Online, 07.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46231 (abgerufen am: 02.12.2024 )
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