Die EU plant die Einführung eines neuen Systems zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Staaten und Investoren. Gegenüber Vietnam kommt es schon zum Einsatz, auch für TTIP könnte es genutzt werden. Von Alexandra Diehl und Heiko Heppner.
Viele Jahre lang beschäftigten sich nur Spezialisten mit Investitionsschiedsverfahren. Seit Aufnahme der Verhandlungen über das Transatlantische Handels- und Investitionsabkommen (TTIP) ist dies anders: Die breite Öffentlichkeit diskutiert über die dort geplante Form der Streitbeilegung zwischen Staaten und Investoren, es herrscht Furcht vor einer Aushöhlung der Demokratie durch geheime Schattengerichte. Die EU reagiert ihrerseits mit dem Vorschlag eines stärker verstaatlichten Gerichtssystems, und setzt dieses Modell in einem Freihandelsabkommen mit Vietnam bereits um.
Ihr Vorstoß wird von Experten vielfach kritisiert, da er das bestehende, funktionierende Modell der Streitbeilegung im Investitionsschutzrecht ohne Not gefährde. Dies tut dem couragierten EU-Projekt allerdings Unrecht: Es könnte der Geburtshelfer einer nützlichen Reform des Investitionsschutzrechts werden.
Vor Erfindung der Investitionsschiedsgerichtsbarkeit waren deutsche Investoren in vielen Ländern der Welt schutzlos staatlicher Willkür ausgeliefert. Wurde ihnen ihr Eigentum durch staatliche Maßnahmen entzogen oder entwertet, gab es zwei Möglichkeiten: Der Investor konnte die Gerichte des Gaststaates anrufen oder die Bundesrepublik um diplomatischen Beistand bitten. Ersteres scheiterte häufig an fehlendem Grundrechtsschutz im Gastland oder der Parteilichkeit seiner Gerichte. Letzteres machte die berechtigten Interessen des Einzelnen zum Spielball politischer Opportunität.
Investitionsschutz dient auch staatlichen Interessen
Hier schloss die Schiedsgerichtsbarkeit eine wichtige Rechtsschutzlücke. Dies gelang – anders, als häufig behauptet – nicht durch einseitig von Konzernlobbyisten ausgeübten Druck, sondern weil ein Großteil aller Staaten untereinander Vereinbarungen traf, um die Position der inländischen Industrie im Ausland wechselseitig zu stärken. "Exportweltmeister" ist Deutschland übrigens auch in dieser Hinsicht: Kein anderes Land trieb den Abschluss solcher Verträge mit gleichem Nachdruck voran.
Solange sich Investorenklagen vor allem gegen nicht immer rechtsstaatlich orientierte Drittländer richteten, erregten diese Verfahren hierzulande kaum Aufmerksamkeit. Dies änderte sich jedoch mit der Klage des schwedischen Energiekonzerns Vattenfall gegen Deutschland infolge des 2011 beschlossenen Atomausstiegs. Das Verfahren brachte die Frage von Sinn und Unsinn des Investitionsschutzes in die Öffentlichkeit: Wie nötig und berechtigt ist ein direkter Klageweg von Unternehmen gegen fremde Staaten, die demokratisch legitimierte Entscheidungen treffen? Brauchen wir ihn im Verhältnis EU-USA?
Demokratie ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Die Gerichte manches osteuropäischen EU-Staates liegen im Transparency International-Korruptionsindex hinter Saudi-Arabien – und auch amerikanische Gerichte genießen außerhalb der USA kein uneingeschränktes Vertrauen. Auch TTIP braucht daher ein Streitbeilegungssystem für investitionsrechtliche Streitigkeiten. Die Frage ist nur welches.
Gut zwei Drittel bisheriger Verfahren gegen Investoren entschieden
Die EU-Kommissarin Cecilia Malmström hat mit ihrem Vorschlag eines zwischenstaatlichen Gerichtssystems eine Antwort gegeben. Auch diese stößt aber auf Widerspruch. Angeheizt durch Fernsehbeiträge wie "Konzerne klagen, wir zahlen" (ARD, 19. Oktober 2015) befürchten viele Bürger, dass die Kosten der Verfahren letztlich auf dem Steuerweg bei ihnen hängen bleiben.
Diese Befürchtung ist allerdings mit Blick auf das bisherige System überwiegend unbegründet: Gemäß der Datenbank der United Nations Conference on Trade & Development (UNCTAD) wurden von den bis 2014 abgeschlossenen, bekannten 274 Investitionsschiedsverfahren nur 31% zugunsten der klagenden Investoren entschieden.
Auch besonders beachtete Investitionsschiedsverfahren zu wichtigen politischen Fragen wie dasjenige von Philip Morris gegen Australien deuten nicht auf eine übermäßige Investorenfreundlichkeit hin. Die Schadensersatzklage richtete sich gegen den australischen "Tobacco Plain Packaging Act 2011", der neutrale Zigarettenschachteln ohne Markenlogo vorschreibt. Der Fall wurde als Beispiel dafür angeführt, wie Unternehmen Staaten durch Investitionsschiedsverfahren am Schutz ihrer Bürger und der Umwelt hindern. Das Philip Morris-Schiedsgericht mit dem deutschen Vorsitzenden Karl-Heinz Böckstiegel wies die heiß diskutierte Klage aber im Dezember 2015 ab.
Der Beweis, dass Staaten regelmäßig aus Furcht vor (Schieds)Klagen Gesetze nicht erlassen, steht also aus. Gleiches gilt für den Beweis, dass ein Staat in einem Schiedsverfahren zu Unrecht zu Schadensersatz verurteilt worden wäre. Dass eine Entscheidung demokratisch legitimiert ist und sinnvollen Zielen dient, gleichzeitig aber Eigentumsrechte fremder Unternehmen verletzt und diesen gegenüber zum Ersatz verpflichtet, schließt sich gedanklich und rechtlich keineswegs aus. Hieran anknüpfende Klagen sind auch im Inland denkbar, wie die Millionenklage von RWE gegen das Land Hessen und die Bundesrepublik wegen der Schließung von Biblis vor dem Landgericht Frankfurt zeigt.
2/2: EU-Vorschlag stärkt Transparenz, Entscheidungskonsistenz
Die genaue Begründung der Entscheidung im Fall Philip Morris ist noch nicht bekannt, mit einer Veröffentlichung ist jedoch bald zu rechnen. Bei Schiedsverfahren, die nach den Regeln der United Nations Commission on International Trade Law (UNCITRAL) durchgeführt werden, ist dies derzeit hingegen nicht die Regel. Der aktuelle EU-Vorschlag greift dieses Problem auf und schreibt weitgehende Veröffentlichungspflichten vor.
Neben dem Problem mangelnder Transparenz greift der TTIP-Vorschlag der EU-Kommission auch einen weiteren Schwachpunkt des bisherigen Investitionsrechts auf, nämlich die große Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung zu einzelnen materiell-rechtlichen Fragen wie z.B. der Reichweite von Meistbegünstigungsklauseln. Hierzu will die EU nicht nur Schutzstandards genauer definieren, sondern auch eine Berufungsinstanz errichten. Ein Pool von 21 Berufsrichtern, die zu einem Drittel aus den Vereinigten Staaten, zu einem Drittel aus der EU und zu einem Drittel aus einem Drittstaat stammen, soll zukünftig zur Entscheidung über Investorenklagen bereitstehen. Aus diesen drei Dritteln würde für die einzelnen Schiedsverfahren dann jeweils ein Richter per Losverfahren ausgewählt, sodass das dreiköpfige Entscheidungsgremium stets aus einem US-Amerikaner und daneben zum Beispiel einem Griechen und einem Kolumbianer bestünde. Im Fall des Freihandelsabkommens mit Vietnam ist die geplante Besetzung der Richterbank noch nicht bekannt.
Das Streben der EU nach mehr Transparenz und Konsistenz ist lobenswert. Allerdings opfert der Vorschlag eine bisherige Stärke des Systems: Im Fall der Einführung des Gerichtssystems wäre es nicht mehr möglich, für einen konkreten Fall besonders geeignete Schiedsrichter auszuwählen. Darüber hinaus wird die von der Europäischen Kommission angestrebte Unparteilichkeit der Richter durch ihre künftig ausschließlich staatliche Bezahlung in Frage gestellt.
Tür muss für neue Staaten offenstehen
Und dies ist nicht die einzige Schwäche des Vorschlages: Obwohl die Europäische Kommission langfristig einen multilateralen Gerichtshof anstrebt, könnte ein TTIP- oder EU-Vietnam-Gericht als erster Schritt hierzu genau das Gegenteil erreichen: Zwei neue bilaterale Gerichte könnten die bisherige bilaterale Struktur des Investitionsrechts weiter zementieren. Zersplitterung droht.
In zukünftigen Handelsabkommen sollte ein permanentes Investitionsgericht daher nur installiert werden, wenn es offen und attraktiv für den Beitritt anderer Staaten ist und die Vorteile von staatlicher Gerichtsbarkeit (Konsistenz der Entscheidungen) und Schiedsgerichtsbarkeit (Staatsferne und besondere Fachkompetenz) verbindet. Eine derartige fruchtbare Kombination könnte insbesondere dann entstehen, wenn in erster Instanz wie bislang Schiedsgerichte und in zweiter Instanz ein neu zu bildender Gerichtshof entschiede. Dies wäre nicht nur kostengünstiger, sondern auch realistischer als der aktuelle EU-Vorschlag. Die Schiedsgerichtsbarkeit würde dann nicht zum Auslaufmodell, sondern neu belebt.
Dr. Alexandra Diehl und Heiko Heppner sind Rechtsanwälte im Bereich "Litigation & Dispute Resolution" bei der internationalen Anwaltskanzlei Clifford Chance. Dr. Alexandra Diehl unterrichtet außerdem Investitionsrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Heiko Heppner ist Professor für internationales Schiedsrecht an der Fuzhou University in China.
Dr. Alexandra Diehl und Heiko Heppner, TTIP und mehr - EU plant neues Gerichtssystem: Auslaufmodell Investitionsschiedsgerichtsbarkeit? . In: Legal Tribune Online, 12.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18106/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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