Die Vereinten Nationen lehnen es ab, den Opfern und Hinterbliebenen einer Cholera-Epidemie auf Haiti Entschädigung zu zahlen. Dabei hatten vermutlich nepalesische Blauhelmsoldaten die Krankheit eingeschleppt. Im LTO-Interview erklärt der Völkerrechtler Andreas Zimmermann, warum die UN Recht haben, aber durchaus großzügigere Kulanzzahlungen leisten könnten.
LTO: Die Nicht-Regierungsorganisation Institute for Justice and Democracy in Haiti hatte 2011 gegenüber den Vereinten Nationen Entschädigungsansprüche für die Opfer und Hinterbliebenen der Cholera-Epidemie auf Haiti geltend gemacht. Vergangenen Donnerstag wies UN-Generalsekretär Ban Ki-moon die Ansprüche zurück. Wieso?
Zimmermann: Abschnitt 29 des Abkommens über die Vorrechte und Immunitäten der Vereinten Nationen verpflichtet die UN nur, für Privatrechtsstreitigkeiten ein System zur Streitbeilegung einzurichten. Tätigkeiten, die mit einer Peacekeeping-Operation oder einem Einsatz wie in Haiti zusammenhängen, sind aber hoheitlicher, nicht privat-rechtlicher Natur.
LTO: Entschädigungsansprüche könnte man aber ja schon als privatrechtlich einordnen.
Zimmermann: Vergleichen Sie den Wortlaut von Abschnitt 29, dort heißt es: "Die Organisation der Vereinten Nationen trifft Vorkehrungen für angemessene Arten der Beilegung von: a) Meinungsverschiedenheiten, die aus Verträgen oder anderen Meinungsverschiedenheiten des Privatrechts entstehen, in denen die Organisation Partei ist […]". Es geht also um vertragliche Verpflichtungen, die die UN eingehen, oder andere vergleichbare Streitigkeiten. Und selbst dann sind die Vereinten Nationen nur verpflichtet, eine Art Schiedsgerichtsverfahren zu etablieren und sich auf dieses einzulassen. Vor einem nationalen Gericht könnte sich die Organisation immer noch auf ihre Immunität berufen.
LTO: Gegenüber den Forderungen von Opfern und Hinterbliebenen der Cholera-Epidemie hätten die UN also gar nicht auf ihre Immunität verweisen müssen, um die Ansprüche auf Entschädigung zurückzuweisen?
Zimmermann: Das sind zwei verschiedene Sachen. Das Abkommen gewährt den Vereinten Nationen Immunität vor nationalen Gerichten. Sie können dort also nicht verklagt werden, es sei denn, sie verzichten auf ihre Immunität.
Mit Abschnitt 29 des Abkommens wollte man einen gewissen Ausgleich dazu schaffen. Die UN verpflichten sich damit selbst, so etwas wie ein Mediations- oder Schiedsverfahren zur Streitbeilegung zu schaffen. Das ist kein Verfahren vor nationalen Gerichten, Geschädigte müssen sich vielmehr direkt an die UN wenden. Dabei geht es aber, wie gesagt, nur um privatrechtliche Meinungsverschiedenheiten.
"Nationale Gerichte sind wegen der Immunität der UN nicht zuständig"
LTO: Wenn Geschädigte trotzdem Klagen einreichen wollen, müssen sie das also vor einem nationalen Gericht tun?
Zimmermann: Ja, zum Beispiel in Haiti oder den USA.
LTO: Gegen wen würde sich eine solche Klage richten?
Zimmermann: Gegen die Vereinten Nationen als Organisation.
LTO: Also nicht gegen Mitarbeiter oder den Mitgliedstaat, aus dem die Blauhelmsoldaten stammten?
Zimmermann: Nein, die Organisation selbst müsste theoretisch haften, da das eine Blauhelmoperation war, das heißt ein Einsatz, den das Department of Peacekeeping Operation durchgeführt hat. Das Verhalten der nepalesischen Soldaten ist den Vereinten Nationen damit zuzurechnen. Aber wie gesagt: Vor nationalen Gerichten sind die UN immun.
In den Niederlanden wurde 2008 ein vergleichbares Verfahren angestrengt. Dort waren die Vereinten Nationen wegen des Verhaltens von DUTCHBAT in Srebrenica, das war die holländische Blauhelmeinheit, verklagt worden, die dort während des Massakers versagt hatte. Die holländischen Gerichte hatten die Klagen als unzulässig abgewiesen. Wegen der Immunität der Vereinten Nationen erklärten sie sich für nicht zuständig.
LTO: Warum gibt es diese Immunitätsregel?
Zimmermann: Sie sichert die Funktionsfähigkeit der Organisation im System kollektiver Sicherheit. Es gibt den Grundsatz der Immunität ja auch zwischen Staaten. Sie kennen wahrscheinlich den Entschädigungsstreit zwischen Italien und Deutschland. Italienische Gerichte hatten Deutschland wegen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg verurteilt, Entschädigung zu zahlen. Der Internationale Gerichtshof stellte später jedoch fest, dass die Urteile gegen das Völkerrecht verstießen und die Immunität Deutschlands verletzten. Es kann nicht sein, dass ein nationales Gericht über einen anderen Staat Recht spricht. Denn die Länder stehen einander in einem System der Gleichordnung gegenüber. Und ähnlich ist es hier. Es kann nicht sein, dass Haiti über die Rechtmäßigkeit des Verhaltens der Vereinten Nationen urteilt.
"Praxis von ex-gratia-Zahlungen sollten ausgeweitet werden"
LTO: Eine Klage vor einem Gericht in Haiti wäre also aussichtslos?
Zimmermann: Angesichts des klaren Wortlauts des Abkommens bestünde da keine Aussicht auf Erfolg.
LTO: Es gibt aber auch keine andere Stelle, welche die Rechtsmäßigkeit des Verhaltens der UN überprüfen könnte?
Zimmermann: Nein.
LTO: Halten sie das für richtig?
Zimmermann: Nein, das ist nicht wünschenswert. Man könnte sich schon überlegen, das Abkommen so zu verändern, dass die Praxis von ex-gratia-Zahlungen – also Entschädigungen ohne Anerkennung einer Rechtspflicht – ausgeweitet wird. Etwa bei Verkehrsunfällen, bei denen Zivilsten verletzt werden, zahlen die UN auch heute wohl schon großzügig und relativ problemlos Entschädigungen.
Ein Ombudsmann wäre eine andere Möglichkeit. Also eine unabhängige Stelle, an die sich Geschädigte wenden könnten und die zumindest Vorschläge für Entschädigungen machen könnte.
LTO: Professor Zimmermann, vielen Dank für das Gespräch.
Prof. Dr. Andreas Zimmermann, LL.M. (Harvard) ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Europa- und Völkerrecht sowie Europäisches Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Potsdam. Das Recht der Vereinten Nationen ist einer seiner Forschungsschwerpunkte.
Das Interview führte Claudia Kornmeier.
Entschädigungsansprüche nach Cholera-Epidemie: . In: Legal Tribune Online, 27.02.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8229 (abgerufen am: 13.10.2024 )
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