Stuttgart 21, Flughafen BER, Elbphilharmonie – Beispiele für kostspieligen Stillstand auf der Baustelle kennt Deutschland mittlerweile zur Genüge. Thomas Senff mit dem baurechtlichen Erklärungsversuch.
Was wäre passiert, wenn Cheops vor ungefähr 4.500 Jahre gewusst hätte, dass der Bau der Großen Pyramide weit über 20 Jahre dauern und unvorstellbare Kosten verursachen wird? War dem Pharao klar, dass die Ägypter dafür 2,3 Millionen tonnenschwere Steinquader in den weit entfernten Steinbrüchen aus dem Fels schlagen und teils hunderte Kilometer über den Nil transportieren mussten, um sie schließlich in Gizeh passgenau in schwindelerregende Höhen spitz aufzutürmen? Ahnte der Gottkönig, dass die Große Pyramide jede bis dahin gültige Vorstellung von Bauzeit und Kosten um ein Vielfaches übertreffen wird?
Die Antwort darauf ist einfach. Denn nach allem was wir wissen, hatte Cheops keine Zweifel darüber, was auf ihn zukam – und dennoch hat der Pharao dieses großartige Bauprojekt in Auftrag gegeben. Können wir daraus heute etwas lernen? Zweifellos. Denn Cheops hat so Einiges richtig gemacht.
Ähnlich wie damals das Alte Ägypten steht die im Vergleich noch recht junge Bundesrepublik vor atemberaubenden Herausforderungen was die Planung und den Bau von großen Infrastrukturprojekten in den nächsten Jahren und Jahrzehnten angeht. Die Reformkommission Bau von Großprojekten, eingesetzt vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, schätzt in ihrem Endbericht vom 29. Juni 2015, dass der Bund alleine für Hochbauten etwa zwei Milliarden Euro und für Verkehrswege elf Milliarden Euro mit deutlich steigender Tendenz ausgeben wird - und zwar pro Jahr. Die Zahlen dürften heute noch weit höher liegen. Stromtrassen, Autobahnen, Flughäfen, Eisenbahnlinien und nicht zuletzt die Schaffung eines leistungsfähigen, flächendeckenden Internets sind nur einige Stichworte in diesem Zusammenhang.
Können die Deutschen überhaupt noch bauen?
Und immer wird es um ein Großbauprojekt gehen, was bei allen Beteiligten nach den Erfahrungen mit Stuttgart 21, dem Berliner Flughafen BER, der Elbphilharmonie und neuerdings dem Umbau der Kölner Philharmonie nicht nur Freude am Projekt, sondern wahrscheinlich auch das eine oder andere mulmige Gefühl hervorrufen wird.
Doch für Letzteres besteht kein Anlass. Es gibt kein Naturgesetz, nach welchem die Kosten und Terminpläne bei Großbauvorhaben zwangsläufig nach kurzer Zeit explodieren. Es haben keine Naturgewalten in Stuttgart und Berlin gewütet, die weltweit die Skepsis darüber haben aufkommen lassen, ob die Deutschen überhaupt noch in der Lage dazu sind, Flughäfen und Bahnhöfe zu bauen. Vielmehr kann jedes Projekt zum Erfolg geführt werden, wenn man die notwendigen Vorkehrungen hierfür trifft. Dass dennoch zum Teil erhebliche Probleme bei Großbauprojekten auftreten, sollte niemanden überraschen.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass es nicht eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, diese Probleme von vorneherein zu minimieren und – was mindestens genauso wichtig ist – sich auf geeignete Konfliktlösungsmechanismen zu einigen, die im Fall der Fälle sofort greifen können. Wer allerdings gleichsam blind in ein Großbauvorhaben hineinstolpert, darf sich nicht wundern, wenn nach kurzer Zeit die Anfangseuphorie verflogen ist und die Projektbeteiligten sich in einer Art Stellungskrieg wiederfinden. Dann ist die Baustelle nach dem Fachjargon verbrannt, also durch endlose und kostenfressende Auseinandersetzungen bedroht, lahmgelegt zu werden.
Die Krux mit der "baubegleitenden Planung"
Was kann man tun? Erneut fällt die Antwort hierauf leichter als man meinen möchte. Zunächst sollte klar sein, was eigentlich gebaut werden soll. Als Cheops den Bau der Großen Pyramide in Auftrag gab, stand die Planung. Die Steinmetze in den dreihundert Kilometer entfernten Tura-Steinbrüchen wussten genau, wie sie jeden einzelnen Quader zu fertigen hatten. Die Baumeister hatten das immense statische Problem der Grabanlage vollständig gelöst, bevor auch nur das Baufeld abgesteckt wurde. Die Pyramide war fertig in den Sand gezeichnet, bildlich gesprochen. Nennenswerte Änderungen nicht vorgesehen.
Dies kann man hingegen nicht von jedem Großbauprojekt in Deutschland sagen. Unter Profis ist die baubegleitende Planung ebenso gefürchtet wie alltäglich. Dabei werden Bauvorhaben begonnen, obwohl die Planung noch gar nicht vollständig vorliegt. Das Ganze soll dann irgendwie während der Bauausführung geheilt werden. Es mag harmlos klingen, dass während der Bauausführung noch weiter geplant wird. In der Praxis stellt dies alle Projektbeteiligten aber vor kaum lösbare Zielkonflikte.
Termin- und Kostensicherheit setzen Planungssicherheit voraus. Das wusste nicht nur Cheops, sondern weiß auch der Deutsche Vergabe- und Vertragsausschuss für Bauleistungen (DVA), welcher die für nationale Bauprojekte ganz überwiegend maßgeblichen rechtlichen Rahmenbedingungen in der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen Teil B (VOB Teil B) gestaltet. Nicht zufällig findet sich in § 3 Abs. 1 VOB Teil B die klare Festlegung, dass der Bauherr die Planungsverantwortung und der Bauunternehmer die Ausführungsverantwortung zu tragen hat.
2/2: Uneinigkeit bremst jedes Bauvorhaben
Diese feine, aber entscheidende Trennlinie zwischen den Risikosphären wird im Falle von stetigen Planungsänderungen vollends verwischt - mit der Folge ebenso stetiger Meinungsverschiedenheiten. Während die eine Vertragsseite überhaupt keine Planungsänderung zu erkennen vermag, pocht die andere vehement auf Bauzeitverlängerung und Mehrvergütung – und damit entfaltet sich das berüchtigte Claimgebirge vor den Projektbeteiligten, also die ausufernde Ausweitung von Ansprüchen und Gegenansprüchen. Privatautonomie hin oder her - es empfiehlt sich, den rechtlichen Fingerzeig des Pharaos und der Gründerväter der VOB Teil B ernst zu nehmen: Erst wird geplant, dann wird gebaut!
Die vorstehend erwähnte Reformkommission Bau zählt im Übrigen dieses Problem zu den wesentlichen Ursachen für das Scheitern von Großprojekten: "Eine ungenaue Ermittlung von Bauherrenwünschen sowie die unzureichende Berücksichtigung der Besonderheiten des Projektes bei Planungsbeginn führen zum Teil zu kostenträchtigen Änderungen von Plan und Bauausführungen", so die Reformkommission. Und weiter: "Großprojekte werden nicht immer detailliert genug geplant". Auch wenn die Reformkommission sich hierbei diplomatisch ausdrückt, legt sie doch den Finger genau in die Wunde.
Und noch einen weiteren häufigen Fehler im Anfangsstadium eines Projektes stellt sie fest: "Die Baukosten werden häufig bereits beziffert, bevor belastbare Planungen vorliegen. Schätzungen sind zum Teil politisch motiviert, vernachlässigen bestehende Risiken und liegen häufig deutlich unter den tatsächlich zu erwartenden Kosten." Jeder kennt die ersten Spatenstiche im Blitzlichtergewitter, nachdem zuvor die Kosten und Termine des Projektes bekannt gegeben worden sind. Und jeder weiß, dass sich diese Zahlen nicht selten schon nach wenigen Monaten als völlig unrealistisch herausstellen.
Druck, es mit den Zahlen nicht so genau zu nehmen?
Zugegeben: Nun hatte Cheops es als gottgleicher Herrscher nicht nötig, sein Volk über die Rahmenbedingungen des Pyramidenbaus zu informieren. Politiker haben es da heute weitaus schwerer. Aber selbst wenn ein Projekt in der Bevölkerung nicht mehr durchsetzbar sein sollte, sobald realistische Angaben gemacht werden, gibt es hierzu keine Alternative. Alle Zahlen müssen auf den Tisch, andernfalls ist irgendwann das Vertrauen der Bevölkerung in die Projektierung von Großbauvorhaben derart zerrüttet, dass auch die gut geplanten Projekte nicht mehr durchsetzbar sind. Erste Ansätze für diese fragwürdige Entwicklung sind unübersehbar.
Die vorstehend erwähnte baubegleitende Planung ist unbedingt zu vermeiden. Für Bauvorhaben der Öffentlichen Hand schreibt § 7 VOB Teil A im Übrigen zwingend vor, dass die Leistung "eindeutig" und "erschöpfend" zu beschreiben ist. Dem Bauunternehmer darf "kein ungewöhnliches Wagnis" aufgebürdet werden. Dies schließt aber Planungsänderungen während der Baumaßnahme keineswegs aus. Zudem greifen die Regeln des (vergaberechtlichen) Teil A der VOB nach endgültiger Vergabe des Auftrages ohnehin nicht mehr.
Und unabhängige Kontrollinstanzen, die etwa Bauzeit, Preis und Leistung ohne jedes Eigeninteresse hinterfragen, kennt das deutsche Recht ebenso wenig wie unmittelbare Sanktionen bei unseriösen Ausschreibungen, von einigen (erfreulicherweise sehr seltenen) Fällen strafrechtlich relevanten Verhaltens mal abgesehen. Der dringende Bedarf für eine umfassende Reform des Vergabe- und Baurechts ist nach alledem unübersehbar. Wer (noch) nicht ganz weiß, was er eigentlich bauen will, oder sich nicht traut, dies offen zu sagen, zieht – ob er es will oder nicht – bei der aktuellen Rechtslage unweigerlich in einen langwierigen und sehr kostenintensiven Krieg auf der Baustelle.
Wer allerdings über eine tragfähige Planung verfügt und bereit ist, für die Bauausführung wohl preiswerte, aber eben keine billigen Auftragnehmer zu engagieren, hat das Projekt mit robusten Leitplanken versehen. Übrigens sagen uns die Historiker, dass Cheops entgegen weitverbreiteter Ansicht nicht etwa Sklaven für sein Lebenswerk eingesetzt hat, sondern gut bezahlte und hervorragende Spezialisten und Fachleute aus der ganzen antiken Welt.
Konfliktlösungsmittel im Fall der Fälle
Doch auch der Pharao wird Widrigkeiten begegnet sein. Um im Zeit- und Kostenrahmen zu bleiben, ist es auch erforderlich, über funktionierende Konfliktlösungsmechanismen zu verfügen. Und die müssen weit mehr leisten als die notgedrungen lediglich rückwärtsgerichtete Betrachtung der staatlichen Gerichte. Da lohnt ein Blick über den Ärmelkanal ins Vereinigte Königreich, wo die Adjudikation bereits seit mehr als fünfzehn Jahren als gesetzlich vorgeschriebenes Konfliktlösungsmodell bei Bauverfahren mit großem Erfolg durchgeführt wird. Vereinfacht gesagt, einigen sich die Projektbeteiligten bereits am Anfang auf unabhängige Fachleute, die im Krisenfall sofort eingreifen.
Das Ziel ist, Konflikte zu lösen, bevor sie sich zu besagtem, meist unüberwindlichen Claimgebirge auftürmen. Schnell müssen die Adjudikatoren daher sein und mindestens genauso entscheidend ist, dass die Konfliktlöser über weitreichende Befugnisse und das notwendige Charisma verfügen. Natürlich darf der Rechtsstaat dabei nicht auf der Strecke bleiben. Jede Entscheidung der schnellen Eingreiftruppe kann nach Fertigstellung des Bauvorhabens (aber nicht früher!) nochmals überprüft werden. Wichtig für das Gelingen ist, dass die Baustelle nie stillsteht – und genau das leisten die Adjudikatoren.
Bis heute konnte nicht restlos geklärt werden, wie die Alten Ägypter es geschafft haben, die Pyramiden zu errichten. Viele Fragen sind offen geblieben und die Menschheit steht staunend vor dem großen Rätsel, das diese antiken Meisterwerke aufgeben. Wie auch immer die Ägypter diese Wunderwerke erschaffen haben, der Schlüssel ihres Erfolgs lag in einer durchdachten und sorgfältigen Planung. Und selbst der Pharao hat rein vorsorglich auch ein paar Adjudikatoren zur Pyramide geschickt.
Der Autor Dr. Thomas Senff ist Rechtsanwalt und Partner der Graf von Westphalen Rechtsanwälte Steuerberater Partnerschaft mbH und dort auf das Baurecht und außergerichtliche Streitlösung spezialisiert.
Dr. Thomas Senff, Gescheiterte Großprojekte und das Baurecht: Was die Alten Ägypter besser gemacht haben . In: Legal Tribune Online, 03.10.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24807/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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