In der Flüchtlingskrise ist die Betroffenheitsrhetorik der Politik dem reflektorischen Ruf nach dem Gesetzgeber gewichen. Dabei gab es schon eine baurechtliche "Flüchtlingsnovelle", erklärt Stefan Tysper. Es braucht nur etwas mehr Mut.
Die Flüchtlingsheime sind in allen Großstädten längst überbelegt, der Strom an Menschen, die in Deutschland Zuflucht suchen, reißt nicht ab. Immer öfter ist insbesondere aus der Politik zu vernehmen, einem schnellen Bau von weiteren Unterkünften stehe auch das schwerfällige Baurecht im Weg.
Dabei gilt bereits seit dem 26. November 2014 mit dem sog. "Gesetz über Maßnahmen im Bauplanungsrecht zur Erleichterung der Unterbringung von Flüchtlingen" eine gar nicht mehr so neue Gesetzeslage. Diese sog. "Flüchtlingsnovelle" bezweckte nach dem Willen des Gesetzgebers, die bedarfsgerechte Schaffung von öffentlichen Unterbringungseinrichtungen zeitnah zu ermöglichen und zu sichern.
Und auch wenn zwischenzeitlich ergangene Gerichtsentscheidungen wie auch die auf rund 800.000 angewachsene Zahl der im laufenden Jahr erwarteten Flüchtlinge zeigen, dass die Gesetzeslage der Lebenswirklichkeit hinterherhinkt: das neu geschaffene Recht reicht aus, um eine Willkommens- und Integrationskultur baurechtlich umzusetzen.
Flüchtlingsnovelle 2014: Büros und andere Privilegierungen
Die "Flüchtlingsnovelle" besteht aus drei Sonderregelungen für Flüchtlingsunterkünfte, die in § 246 Abs. 8 bis 10 des Baugesetzbuchs (BauGB) normiert und allesamt bis zum 31. Dezember 2019 befristet sind. Mit der Regelung des § 246 Abs. 8 i.V.m. § 34 Abs. 3a BauGB wollte der Gesetzgeber Nutzungsänderungen zulässiger Büronutzungen in Asylbewerberunterkünfte privilegieren (vgl. VG Berlin, Beschl. v. 11.12.2014, Az. 13 L 327/14).
Um das zu erreichen, haben nach § 246 Abs. 9 BauGB Vorhaben für die Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbegehrenden als sog. sonstige Vorhaben im Außenbereich eine Teilprivilegierung erhalten. So können der Planung von Flüchtlingsunterbringungen bestimmte öffentliche Belange wie etwa Darstellungen des Flächennutzungsplans oder eines Landschaftsplans, die natürliche Eigenart der Landschaft oder die Entstehung, Verfestigung oder Erweiterung einer Splittersiedlung nicht mehr entgegengehalten werden.
Zudem kann in Gewerbegebieten nach § 246 Abs. 10 BauGB für Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftsunterkünfte oder sonstige Unterkünfte für Flüchtlinge oder Asylbegehrende eine Befreiung von den Festsetzungen im Bebauungsplan erteilt werden. Dafür müssen allerdings an dem Standort "Anlagen für soziale Zwecke" allgemein zulässig sein oder zumindest als Ausnahme zugelassen werden können. Die Abweichung muss zudem auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit öffentlichen Belangen vereinbar sein.
2/2: Die Rechtsprechung
Die jüngere Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte und der Oberverwaltungsgerichte vertrat bis noch kurz vor der "Flüchtlingsnovelle" – soweit ersichtlich – einhellig die Meinung, dass Gemeinschaftsunterkünfte für Asylbewerber, auch wenn diese als "Anlagen für soziale Zwecke" im bauplanungsrechtlichen Sinn angesehen werden können, mit dem Charakter eines Gewerbegebiets unvereinbar sind (vgl. z.B. Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg, Beschl. v. 09.04.2014, Az. 8 S 1528/13; OVG Hamburg, Beschl. v. 17.06.2013, Az. 2 Bs 151/13).
Diese Auffassung begründeten die Verwaltungsrichter im Wesentlichen damit, dass die Unterbringung von Flüchtlingen keine Funktion im Zusammenhang mit oder für eine der im Gewerbegebiet zulässigen Hauptnutzungsarten erfüllt. Vielmehr werden Flüchtlingsunterkünfte als wohnähnliche Nutzungen angesehen.
Dementsprechend ist auch nach aktueller, d.h. nach Inkrafttreten der "Flüchtlingsnovelle" ergangener Rechtsprechung insbesondere ein Versuch der Behörden, die Befreiung von solchen Festsetzungen im Bebauungsplan zu rechtfertigen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt: Eine Flüchtlingsunterkunft im Gewerbegebiet ist und bleibt bauplanungsrechtlich unzulässig, so lange eben die Tatbestandsvoraussetzungen des § 246 Abs. 10 BauGB nicht vollends erfüllt sind (VGH München, Beschl. v. 05.03.2015, Az. 1 ZB 14.2373).
Herausforderung Nachbarschaft
So manches bleibt zudem auch deshalb bauplanungsrechtlich unzulässig, weil sich sog. Gebietserhaltungsansprüche der Nachbarn durchsetzen. Dabei kann sozialen Konflikten, die wegen der Unterbringung von Flüchtlingen befürchtet werden, zwar ohnehin nicht mit den Mitteln des öffentlichen Baurechts begegnet werden.
Das ist im jeweiligen Einzelfall vielmehr die Aufgabe des Polizei- und Ordnungsrechts oder des zivilen Nachbarrechts. Auch ein möglicherweise andersartiger Lebensrhythmus von Asylbewerbern ist bauplanungsrechtlich ohne jeden Belang.
Jedenfalls haben Nachbarn offenkundig keinen Anspruch darauf, nicht mit Menschen aus anderen Kulturkreisen in Kontakt zu kommen, entschied das VG Regensburg (Beschl. v. 29.08.2014, Az. RN 6 E 14.1432).
Es braucht keine Novelle der Novelle
Dennoch gibt es bedauerlicherweise immer mehr Eilanträge gegen Flüchtlingsunterkünfte. So hat das VG Stuttgart gerade erst Anträge zweier Nachbarn gegen eine geplante Gemeinschaftsunterkunft für bis zu 240 Flüchtlinge in Hochdorf im Kreis Esslingen abgelehnt (Beschl. v. 25.08.2015, Az. 2 K 3951/15). Das Gericht konnte keine schützenswerten und baurechtlich relevanten Interessen der Antragsteller erkennen, die dem Vorhaben entgegenstehen.
Schon jetzt könnte die Rechtsprechung Gebietsgewährleistungsansprüche von Nachbarn mutiger zurückweisen. Im Zuge einer Integrations- und Willkommenskultur sollten dezentrale Unterbringungsmöglichkeiten – mit bewusst temporär abgesenkten bauordnungsrechtlichen Standards – leichter erlaubt werden. Nicht jedes Flüchtlingsheim muss die Anforderungen der Energieeinsparverordnung, aber selbstverständlich die Anforderungen an den Brandschutz erfüllen. Lieber ein Flüchtlingsheim, das nicht perfekt ist, als gar keines.
Das Bauplanungsrecht muss keineswegs zwingend mit einer "Novelle der Novelle" geändert werden. Es würde genügen, wenn sowohl die öffentliche Verwaltung als auch die Rechtsprechung die bereits bestehenden Sonderregelungen für Flüchtlingsunterkünfte stringenter anwenden würde. Die vom Gesetzgeber geschaffenen Spielräume können zu Gunsten der Flüchtlinge – und damit zuweilen denknotwendig zu Ungunsten vermeintlicher nachbarlicher Einwände – ausgeschöpft werden. Es braucht nur ein wenig mehr Mut.
Der Autor Stefan Tysper ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Counsel bei Redeker Sellner Dahs Rechtsanwälte am Standort Bonn.
Stefan Tysper, Flüchtlingsheime: Ein einfacheres Städtebaurecht gibt es schon . In: Legal Tribune Online, 15.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16859/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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