Am vergangenen Halloweenabend stellten sich Kölner Studenten und Anwälte nicht Hexen, Vampiren und Geistern, sondern Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos. Gemeinsam mit der SPD-Politikerin Högl, dem SZ-Journalist Leyendecker und dem Vorsitzenden der Interessengemeinschaft Keupstraße diskutierten sie über die Arbeit des U-Ausschusses, den Einsatz von V-Leuten und die Fantasielosigkeit der Ermittler.
"Neonazis beobachten Neonazis und werden dafür vom Staat bezahlt." Mit diesen Worten eröffnete der Vorsitzende des Vereins zur Förderung des Instituts für Strafrecht und Strafprozessrecht der Universität Köln, der Strafrechtsprofessor Cornelius Nestler, die Diskussionsrunde zu der sich die SPD-Bundestagsabgeordnete Eva Högl und der SZ-Journalist Hans Leyendecker eingefunden hatten. Auf dem Programm stand der Nationalsozialistische Untergrund (NSU), das Versagen des Verfassungsschutzes und die Rolle der V-Leute. Geladen hatte neben dem Förderverein der Kölner Anwaltverein; und so saßen außer Studenten vor allem Anwälte im Publikum.
Am 13. November jährt sich der Haftbefehl gegen Beate Zschäpe, das letzte lebende mutmaßliche Mitglied der rechtsextremistischen Vereinigung NSU. Zschäpe stellte sich der Polizei, nachdem sich ihre Komplizen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos im November 2011 bei einem Polizeieinsatz nach einem Banküberfall im thüringischen Eisenach das Leben genommen hatten.
Seitdem ermittelt die Bundesanwaltschaft. Die Gruppe wird verdächtigt, die Mordserie in den Jahren 2000 bis 2006 an ausländischen Gewerbetreibenden, das Nagelbomben-Attentat in Köln im Jahr 2004 sowie den Polizistenmord in Heilbronn im Jahr 2007 begangen zu haben. "Die Mordserie war ein Anschlag auf unsere Demokratie. Wir waren alle zu recht entsetzt", sagte Högl am Mittwochabend.
Högl: Aktenschreddern nährt Verschwörungstheorien
Immer wieder berichteten Medien, Verfassungsschutzbehörden hätten zumindest über V-Männer Kontakt zu den NSU-Mitgliedern gehabt. Die Morde hätten sehr viel früher aufgeklärt, wenn nicht gar verhindert werden können. Im Bundestag sowie in den Landtagen von Bayern, Sachsen und Thüringen wurden Untersuchungsausschüsse eingerichtet, um die Versäumnisse der Verfassungsschutzämter zu klären.
Högl ist Obfrau der SPD-Fraktion im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags. Zu Beginn sei sie skeptisch gegenüber der Einrichtung eines Untersuchungsausschusses gewesen. "Das ist ja eigentlich ein Kampfinstrument der Opposition. Das Thema eignet sich aber nun wirklich nicht für parteipolitischen Streit." Hinzu seien die Zweifel gekommen, ob elf Abgeordnete überhaupt etwas herausfinden und ausrichten können. Nach neun Monaten Arbeit zeigt sich die promovierte Volljuristin aber zufrieden: "Ich denke, wir konnten wirklich etwas zutage fördern."
Die "Aktion Konfetti" – das Aktenschreddern eines Beamten des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) am 11. November 2011 in Köln – das sei nach der unaufgedeckten Mordserie ein zweiter Skandal gewesen, der vielleicht sogar noch viel nachhaltiger das Vertrauen der Bürger in den Verfassungsschutz zerstört habe. "So etwas nährt Verschwörungstheorien."
Högl will den Verfassungsschutz dennoch nicht auflösen. Die Skepsis, die eine Strafverteidigerin aus dem Publikum äußerte, teilte sie nicht. Sie wisse nicht, wer die Arbeit sonst übernehmen könne. Eine Ansicht die der Journalist Leyendecker wohl nicht ganz teilte. "Man muss schon fragen, ob wir bestimmte Ämter noch brauchen."
Detaillierte Kriterien für Einsatz von V-Leuten
Auch eine Zentralisierung der Verfassungsschutzämter hält die SPD-Politikerin für keine gute Lösung, obwohl sich der NSU den Föderalismus zu Nutzen gemacht habe. Die politischen Verantwortlichkeiten müssten klar sein; am besten sollte der Verfassungsschutz als Abteilung in die Innenministerien eingegliedert werden. Mehr parlamentarische Kontrolle, das sei außerdem entscheidend.
Ebenso wenig will sie die V-Leute abschaffen, also die Vertrauenspersonen, die den Strafverfolgungsbehörden nicht angehören, diese aber bei der Aufklärung von Straftaten auf längere Zeit unterstützen. Ihre Identität bleibt grundsätzlich geheim. In der Regel erhalten sie Geld für die Informationsbeschaffung. "Bisher hat noch niemand eine bessere Idee gehabt, wie man sonst an Informationen aus der Szene herankommen kann." Es müsse aber klarere Kriterien geben: "Wer wird angesprochen, wie viel wird wofür gezahlt, wer führt die V-Leute."
Ende August präsentierte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich ein Hintergrundpapier, in dem er detaillierte und einheitliche Vorgaben für die Werbung und Führung von V-Personen fordert. Als zentrale Stelle soll das BfV dienen, das einen Überblick über die von Bund und Ländern eingesetzten V-Leute haben soll. Die G-10-Kommission soll den Einsatz der V-Leute parlamentarisch kontrollieren. Kurz zuvor hatte die SPD ähnliche Vorschläge gemacht. Der hessische Landtag diskutierte bereits einen Entwurf zur Reform des Landesverfassungsschutzes. Eine Rechtsgrundlage für den Einsatz von V-Leuten enthielt der Entwurf allerdings nicht.
Leyendecker: Ermittler nehmen sich nicht Ernst
"Journalisten sind Leute, die nachher alles vorher gewusst haben", mit diesem Zitat des österreichischen Schriftstellers Karls Kraus leitete Leyendecker sein Eröffnungsstatement ein. Wenn er sich frage, was er selbst gemacht habe? "Nichts. Nichts habe ich gemacht." Die Geschichte hinter den damals so genannten Dönermorden habe ihn einfach nicht interessiert.
Nicht nur der blöde Verfassungsschutz und seine V-Leute seien das Problem gewesen. Die hätten schon Informationen geliefert. Diese habe aber niemand ausgewertet. Aus Faulheit, Dummheit? Er wisse es nicht. "Es ist schon erstaunlich, in welchem Ausmaß die Polizei fantasielos gewesen ist. Organisierte Kriminalität, PKK, Prostitution, Drogen – das war schon so ziemlich alles, was den Ermittlern damals eingefallen ist." Eine Feststellung, die Högl bestätigte. Sie schlägt vor, bei Straftaten, deren Opfer einen Migrationshintergrund hat, in Zukunft routinemäßig ein fremdenfeindliches Motiv zu überprüfen.
"Handwerklich katastrophal", nannte Leyendecker die Arbeit der Ermittler. "Man hat den Eindruck, die nehmen sich selbst nicht Ernst." Ein Strafverteidiger aus dem Publikum zeigte sich überzeugt, ein Strafrichter der diese Fakten auf dem Tisch liegen hätte, würde von Vorsatz ausgehen. Nicht von Einzelversagen.
IG Keupstraße: Enttäuschung – das Wort ist zu wenig
Gekommen war auch der Vorsitzende der Interessengemeinschaft (IG) Keupstraße, Mitat Özdemir. 2004 wurde die Kölner Keupstraße, ein Zentrum des türkischen Geschäftslebens im rechtsrheinischen Stadtteil Mühlheim, Schauplatz eines Nagelbombenattentats. 22 Menschen wurden verletzt; der Sachschaden war erheblich. Das Attentat reiht sich ein in die unaufgeklärten Taten des NSU.
"Enttäuschung – das Wort ist zu wenig, um auszudrücken, was wir empfinden", sagte Özdemir am Mittwochabend. Nachdem Attentat habe ihn die Angst beschlichen: "Kann ich in diesem Land noch sicher Leben? In einem Land, das nach den 45 Jahren, die ich hier nun lebe, zu einem Stückchen doch auch mir gehört." Heute gelte unter den Gewerbetreibenden in der Keupstraße das Motto: "Still halten – mit keinem sprechen." Selbstschutz. "Ist das noch Demokratie? Für mich nicht."
Ein Jahr nach der Enttarnung des NSU haben die Familien der Opfer rund 900.000 Euro Entschädigung erhalten. Die Gelder stammen aus einem Fonds für die Opfer extremistischer Übergriffe, der nach Bekanntwerden der rechtsextremen Mordserie um eine Million Euro aufgestockt worden war. Angehörige und überlebende Opfer sollten als rasches politisches Signal unbürokratisch eine Pauschale zwischen 5.000 und 10.000 Euro erhalten. Auch die Opfer aus der Keupstraße hätten Geld bekommen, erzählt Özdemir, den die Zahlungen wenig beeindruckten: "Schnelle Hilfe, nach acht Jahren?"
Friedrich: Mehrere Anklagen noch in diesem Jahr
Anklage gegen Zschäpe soll wohl Anfang Februar vor dem Oberlandesgericht München erhoben werden, meldete die Nachrichtenagentur dpa Mitte Oktober unter Berufung auf Informationen aus Sicherheitskreisen. In Bayern seien fünf der zehn Morde, die der Zwickauer Terrorzelle angerechnet werden, verübt worden, hieß es zur Begründung. Eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft bestätigte dies zwar nicht, man wolle die erste Anklage im NSU-Verfahren aber noch im Herbst fertigstellen.
In der ARD-Sendung "Günther Jauch" sagte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) am vergangenen Sonntag, er erwarte im Fall der NSU-Terrorgruppe mehrere Anklagen. "Ich bin überzeugt, dass die Bundesanwaltschaft noch in diesem Jahr Anklage erheben wird – gegen mehrere Personen. Und dann wird auch Recht und Gerechtigkeit ihren Weg finden."
Spätestens mit dem Ende der Legislaturperiode im kommenden Herbst will der Untersuchungsausschuss im Bundestag seinen Bericht vorlegen. "Wir wollen den Ansatz einer Erklärung und Reformvorschläge liefern", sagte Högl.
Mit Material von dpa.
Claudia Kornmeier, Diskussionsrunde zum NSU und dem Verfassungsschutz: "Schnelle Hilfe nach acht Jahren?" . In: Legal Tribune Online, 01.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7441/ (abgerufen am: 02.12.2023 )
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