In den vergangenen zwei Monaten hat das BVerfG sechs Beschlüsse nebst Pressemitteilungen rund um die Meinungsfreiheit veröffentlicht. Martin W. Huff ist skeptisch, ob es sich dabei nicht zu sehr in die Zuständigkeit der Instanzgerichte einmischt.
Die Meinungsfreiheit gilt zu Recht als eines der wichtigsten Grundrechte. Jedes Gericht und jede Staatsanwaltschaft hat sie zu beherzigen, sei es im Zivilprozess auf Unterlassung bestimmter Äußerungen oder im Strafverfahren wegen Beleidigung oder übler Nachrede. Wer meint, in seiner Meinungsfreiheit durch eine – rechtskräftige – Entscheidung der staatlichen Gerichte verletzt worden zu sein, dem bleibt nur der Weg zum Bundesverfassungsgericht.
Dort scheinen sich die Verfassungsbeschwerden so gehäuft zu haben, dass die 3. Kammer des Ersten Senats mit den Richtern Kirchhof, Masing und Baer sich nunmehr in einem Rundumschlag eine Reihe von Fallgestaltungen vorgenommen und ihre Auffassung dazu jeweils per Pressemitteilung kundgetan hat. Die sechs in den letzten knapp zwei Monaten veröffentlichten Beschlüsse betreffen zwar durchaus unterschiedliche Sachverhalte, verfolgen aber gewissermaßen eine gemeinsame Linie (Az. 1 BvR 257/14, 1 BvR 2150/14, 1 BvR 3388/14, 1 BvR 2732/15, 1 BvR 3487/14 und 1 BvR 2646/15).
Denn eins ist allen Verfahren gemein: Die Verfassungsrichter haben die Instanzentscheidungen aufgehoben und die Verfahren zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen, natürlich unter Beachtung der Karlsruher Stellungnahmen. Für die Beschwerdeführer muss das nicht unbedingt einen Triumph bedeuten: Liest man die Entscheidungen des BVerfG genau, so lassen einige von ihnen den Instanzgerichten durchaus Spielraum, um mit entsprechend angepasstem Lösungsweg zum letztlich selben Ergebnis zu gelangen. Das räumen die Verfassungsrichter zum Teil selbst ein (so z.B. im Beschl. v. 29.06.2016, Az. 1 BvR 2732/15). Dennoch wollten sie offenbar einige grundlegende Klarstellungen zum anzuwendenden Prüfungsmaßstab bei Fällen mit Bezug zur Meinungsfreiheit treffen.
Auch unbewiesene Tatsachen können zulässig sein
Zunächst setzen die Verfassungsrichter immer früher bei der Bewertung von Äußerungen als Meinungsäußerungen statt als Tatsachenbehauptungen an. Schon wenn eine Behauptung einen Meinungsbezug hat, kann sie zulässig sein, auch wenn die Tatsache unzutreffend oder nicht beweisbar ist. "Sofern der Wahrheitsgehalt einer Tatsachenbehauptung nicht feststellbar ist, kann das Grundrecht der Meinungsfreiheit einem generellen Vorrang des Persönlichkeitsrechts entgegenstehen", formulieren die Richter etwa im Verfahren 1 BvR 3388/14.
So richtig begründet wird diese Abgrenzung allerdings nicht. Warum geht die Meinungsfreiheit unter Umständen, gerade wenn etwas nicht bewiesen werden kann, dem Schutz der Persönlichkeit vor unwahren Aussagen vor? Warum muss sich – so stand es in diesem Fall – eine ehemalige DDR-Sportlerin möglicherweise die Aussage gefallen lassen, ihr seien im Alter von 13 Jahren Dopingmittel verabreicht worden, obwohl sich dies vor Gericht nicht nachweisen ließ? Wird hier nicht die geschickt geäußerte nicht beweisbare Behauptung geschützt?
2/2: Öffentliche Kritik noch Jahre später erlaubt
In einem anderen Verfahren (Az. 1 BvR 3487/14) stärkt das BVerfG die Meinungsfreiheit zudem in zeitlicher Hinsicht. Dort hatte ein ehemaliger Mieter mehrere Jahre nach einer rechtlichen Auseinandersetzung mit seinem früheren Vermieter auf einem Internetportal eine sehr negative Bewertung über diesen abgegeben. Zwar kämpfte der Mieter mit "offenem Visier", indem er seine eigene Identität bei der Bewertung kenntlich machte – dennoch bleibt die Frage, wie viele Jahre später es noch zulässig sein soll, schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen. Drei Jahre sind nach Karlsruher Auffassung jedenfalls nicht zu lang, ein „Recht auf Vergessen“ zugunsten desjenigen, der in einer Auseinandersetzung unterlegen oder wie hier verurteilt worden war, gibt es hier nicht. Hier wird dem Bürger sehr viel Freiraum zugestanden, den die Medien bei einer ähnlichen Fallgestaltung nicht hätten; sie hätten über den Fall wohl nicht mehr mit Namensnennung berichten dürfen.
ein "Recht auf Vergessen" auch über reine rechtliche Sachverhalte um die Rückzahlung einer Kaution sind es nicht. In anderen Fällen hätten die Medien und nicht der Betroffene darüber nicht berichten dürfen. Hier werden Ungleichgewichte erkennbar.
Sehr weit gehen die Freiheiten, die das Gericht bei Äußerungen über Gruppen zulässt. Hier gilt das Erfordernis der Abgrenzbarkeit, an dem eine Strafbarkeit insbesondere bei Beleidigungen der Polizei oft scheitert. So fand das BVerfG in zwei Entscheidungen, dass das Zurschaustellen des Slogans "ACAB" (All Cops Are Bastards) bei einem Fußballbeispiel keine Beleidigung der dort anwesenden Bereitschaftspolizisten dargestellt hätte, weil nicht ersichtlich sei, dass mit diesem allgemeinen Werturteil (jedenfalls auch) gerade diese Polizeibeamten gemeint gewesen seien (Az. 1 BvR 257/14 und 2150/14).
Schmähkritik nur noch als seltene Ausnahme
Während jene Beschlüsse im Wesentlichen nur die schon aus der "Soldaten sind Mörder"-Entscheidung bekannten Voraussetzungen bekräftigen, hat das BVerfG in einem weiteren Beschluss (Az. 1 BvR 2646/15) die Grenzen des Sagbaren neu abgesteckt und (bedenklich) erweitert. Auch dort ging es um die Beleidigung eines Beamten, diesmal einer Staatsanwältin, die ein Rechtsanwalt im Gespräch mit einem Journalisten u.a. als "durchgeknallt", "dahergelaufen", "widerwärtig", "boshaft", "dümmlich" und "geisteskrank" bezeichnet hatte.
Hierin sah das BVerfG zwar eine (i.E. wohl strafbare) Meinungsäußerung, aber keine Schmähkritik, bei welcher die Diffamierung der Person im Vordergrund steht und bei deren Annahme eine weitere Abwägung nicht geboten ist. Das ist – gerade mit Blick auf die besondere Stellung des Sprechenden als Rechtsanwalt – schwer nachzuvollziehen, weil Äußerungen dieser Art bisher der klassische Fall der Schmähkritik waren, die in die Integrität der Person eingreift. Die sehr enge Auslegung der Schmähkritik durch die Richter wird den Schutz der Ehre gerade hier aufweichen und für weitere Diskussionen sorgen.
Überschreitet das BVerfG seine Zuständigkeiten?
Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass die Karlsruher Richter in der Versuchung sind, als Superrevisionsinstanz zu dienen und in eine Einzelfalljudikatur zu verfallen und damit auch einen Anreiz zu setzen, in allen Fällen, in denen man unter Umständen streiten könnte, erneut nach Karlsruhe zu ziehen. Ähnliche Entwicklungen gab es in der Vergangenheit schon gelegentlich, gerade, was Artikel 5 Grundgesetz betraf. Man erinnert sich hier an die 90er Jahre, als es fast so schien, als wollten die Verfassungsrichter sich jede einzelne Parabolantenne vorknöpfen, um zu prüfen, ob und welche Programme aus der Sicht des Art. 5 GG damit empfangen werden durften und sollten.
So schwer es Betroffenen immer wieder fällt, Entscheidungen zu akzeptieren, gerade wenn es um eine Verurteilung wegen Beleidigung geht: Sind zwei oder drei Instanzen wirklich nicht ausreichend für eine Überprüfung? Muss die Definition des Wortes "Spanner" wie im Verfahren 1 BvR 2732/15 wirklich durch das Bundesverfassungsgericht erfolgen?
Jetzt darf man mit Spannung erwarten, wie die Fachgerichte die Karlsruher Beschlüsse umsetzen und ob sie den Mut haben, gegenüber Karlsruhe im Ergebnis standhaft zu bleiben. Denn alle angegriffenen Entscheidungen waren meines Erachtens nicht eindeutig verfassungswidrig. Es bleibt im Recht der Meinungsäußerung spannend.
Martin W. Huff, Die Verfassungsrichter und Art. 5 Grundgesetz: Verfassungsrichter als "Superrevisionsinstanz" im Meinungskampf . In: Legal Tribune Online, 11.08.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20260/ (abgerufen am: 29.11.2023 )
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