Aus rechtlicher Sicht haben der Brexit und die Wiedervereinigung viel gemeinsam: Für einen politischen Umbruch sind langfristig geschlossene Verträge nur selten ausgelegt. Das galt damals wie heute, zeigt Alexander Niethammer.
Ihren Austritt aus der Europäischen Union beschlossen die Briten am 23. Juni 2016 per Volksentscheid. Wann Großbritannien der EU letztendlich den Rücken kehrt und in Einklang mit Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) die Gemeinschaft verlässt, ist noch offen. Derzeit ist das aber nicht die einzige Unklarheit.
Offen ist auch, wie in Zukunft eine wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und dem Rest Europas aussehen wird: Von einer engen Kooperation innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) bis zur Autonomie des Landes steht alles im Raum.
Sicher ist, dass der EU-Austritt der Briten Auswirkungen auf bestehende Geschäftsbeziehungen zwischen deutschen und britischen Unternehmen mit sich bringt, denn die Reichweite dieses Ereignisses erstreckt sich auf nahezu alle Rechtsgebiete. Konsequenzen für das Gesellschaftsrecht, das Kartellrecht und Immaterialgüterrechte bleiben nicht aus, beispielsweise denke man nur an die Unionsmarke oder das Gemeinschaftsgeschmacksmuster.
Deutschlands Geschichte und der Brexit
In umgekehrter Form gab es die Problematik schon einmal: Zur Bundesrepublik Deutschland kamen am 3. Oktober 1990 fünf Bundesländer mit eigenem Rechtssystem hinzu. Dadurch gab es Verträge innerhalb der damaligen DDR, denen die ursprünglich geltende gesetzliche Grundlage entzogen war. Zudem bestanden Vereinbarungen zwischen Unternehmen der DDR und der BRD, die unter der Prämisse geschlossen worden waren, dass die beiden Staaten nebeneinander weiterbestünden.
Der Brexit stellt Unternehmen vor ähnliche Herausforderungen. Es gibt Verträge, die beispielsweise die Nutzung von Unionsmarken betreffen. Diese gelten derzeit in sämtlichen EU-Ländern, auch in Großbritannien.
Was aber geschieht nach dem Brexit? Erlischt die Marke für das Gebiet Großbritanniens? Selbst wenn sie in Großbritannien weiterbesteht, gilt dann der Lizenzvertrag weiter für das Königreich, wenn eine Lizenz für "Staaten der Europäischen Union" erteilt wurde? Einschneidend wird auch die Frage nach Zöllen und Steuern auf den Handel zwischen EU-Staaten und Großbritannien werden.
Die Lücke nach dem Umbruch
Werden Vertragsparteien mit einer solch grundlegend veränderten Situation konfrontiert, gilt es zunächst, eine Regelung im jeweiligen Vertrag zu finden, welche die Bedeutung und die Auswirkung des Ereignisses für den jeweiligen Vertrag sowie dessen einzelne Regelungen wiedergibt.
Findet sich, wie wohl zumeist, keine explizite Regelung, ist nach Möglichkeiten im Rahmen der ergänzenden Vertragsauslegung zu suchen.
Wovon wären die Parteien für den Fall des Eintretens der Situation der Wiedervereinigung oder des Brexit ausgegangen und worauf hätten sie die Regelungen bezogen? Beispielsweise könnte sich aus der Bestimmung des Gebiets eines Handelsvertreters als "alle Länder der EU" ergeben, dass auch Großbritannien nach einem Ausstieg aus der EU weiterhin Teil des Gebiets sein soll. Bei der Auslegung kommt es auf die individuelle Betrachtung der Vertragsparteien an.
Meist besteht mangels Regelung ein großer Auslegungsspielraum. Häufig werden sich die Parteien auf kein Ergebnis einigen können, oder das Gericht nimmt eine Auslegung vor, mit der eine der Parteien nicht einverstanden ist. Eine fehlende vertragliche Regelung birgt also ein großes Risiko.
Deutsche Wiedervereinigung
Im Kontext der deutschen Wiedervereinigung wurde sehr oft mit dem "Wegfall der Geschäftsgrundlage" argumentiert. Diesen zur damaligen Zeit noch richterrechtlichen Rechtsgrundsatz wandten die Gerichte an, wenn es aufgrund der Gesamtumstände als treuwidrig angesehen wurde, den Vertragspartner, der durch den Wegfall einen schweren Nachteil erlitten hatte, an der Vereinbarung festhalten zu wollen. Folge des Wegfalls der Geschäftsgrundlage ist in der Regel eine Vertragsanpassung.
Die Wiedervereinigung selbst stellte aber nicht per se einen Wegfall der Geschäftsgrundlage und damit Basis für eine Vertragsanpassung dar, sondern dies wurde je nach Einzelfall unterschiedlich gehandhabt. So hat der Bundesgerichtshof (BGH) im Jahr 1993 entschieden, was heute auch in Artikel 232 § 1 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) geregelt ist: Auf vor der Wiedervereinigung geschlossene Wirtschaftsverträge zwischen ehemaligen volkseigenen Betrieben ist auch nach der Wende das Gesetz über das Vertragssystem in der sozialistischen Wirtschaft der ehemaligen DDR grundsätzlich weiterhin anzuwenden.
Ein Wegfall der Geschäftsgrundlage liegt laut BGH jedenfalls dann nicht vor, wenn keiner der damaligen volkseigenen Betriebe (in Form der daraus entstandenen Kapitalgesellschaften) einen einseitigen, einschneidenden Nachteil erleide (Urt. v. 25.02.1993, Az. VII ZR 24/92).
2/2: Teilweise Bejahung des Wegfalls der Geschäftsgrundlage
Für einen Vertrag der Rüstungsindustrie hingegen haben die Karlsruher Richter einen Wegfall der Geschäftsgrundlage angenommen. Hier wollte ein Unternehmer einen Anspruch auf Werklohn und hilfsweise Aufwendungsersatz geltend machen aus einem Vertrag, der einst mit dem Ministerium für Nationale Verteidigung der DDR (auf die BRD übergegangen) geschlossen worden war. Der BGH urteilte, dass die Geschäftsgrundlage des im Jahr 1985 geschlossenen Vertrages weggefallen sei, weil keine Partei den vollständigen Wegfall des Bedarfs habe vorhersehen können, den der wirtschaftliche Niedergang der DDR und ihr Untergang durch den Beitritt zur BRD bringen würde (Urt. v. 18.12.1997, Az. X ZR 35/95).
Interessant ist auch eine Entscheidung zum Urheberrecht (Urt. v. 04.07.1996, Az. I ZR 101/94 – "Klimbim"), in welcher der BGH von einem Wegfall der Geschäftsgrundlage ausging. In diesem Fall stellte sich die Frage, ob einmal eingeräumte Lizenzen zur Sendung einer Serie in der Bundesrepublik vor der Wende auch für eine Ausstrahlung in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung galten.
Dies sei von den Vertragsparteien nicht vorgesehen gewesen, so der für das Urheberrecht zuständige 1. Zivilsenat. Insbesondere bedürfe es zudem einer Erweiterung der Nutzungsrechte durch den Urheber selbst, der jedoch nicht Vertragspartei war. Somit hätte die lizenzvergebende Partei des Vertrages gar keine weitergehenden Rechte einräumen können, da sie selbst nur die Rechte beschränkt auf die ursprünglichen elf Bundesländer inne hatte beziehungsweise hat. Damit habe sich hierauf bezogen die Vertragsgrundlage schwerwiegend verändert und der lizenzvergebenden Partei könnten die daraus erwachenden Umstände nicht zugemutet werden.
Störung der Geschäftsgrundlage und Brexit
Auch in Bezug auf den Brexit werden die deutschen Gerichte sich wieder mit der Frage nach der Geschäftsgrundlage befassen müssen. Der damalige richterrechtlich gebildete Rechtsgrundsatz des Wegfalls des Geschäftsgrundlage hat im Jahre 2002 mit der Schuldrechtsreform als "Störung der Geschäftsgrundlage" Eingang in das geschriebene Gesetzesrecht gefunden. Auch hier gilt, dass die Störung der Geschäftsgrundlage als Antwort auf vertragliche Probleme als Ultima Ratio gedacht ist und nur Anwendung finden soll, sofern keine anderen Lösungen im Vertrag oder durch Auslegung gefunden werden.
Ihre Anwendung kann zu einem gravierenden Einschnitt in die Geschäftstätigkeit der einzelnen Unternehmen führen. In dem oben genannten Rüstungsvertrag musste die Klägerin beispielsweise auf Aufwendungsersatz in Millionenhöhe verzichten.
Im Fall des Brexit wird die Frage des Ob und Wie bei betroffenen Verträgen jedoch nur dann von deutschen Gerichten auf Grundlage deutscher Gesetze und Regelungen beantwortet werden, wenn deutsches Recht und ein deutscher Gerichtsstand vertraglich vereinbart wurden oder von Gesetzes wegen anzuwenden und anzurufen sind. Sonst ist der Vertrag nach dem jeweiligen Recht des Landes zu beantworten, nach dem er sich richtet.
Klauseln für den Brexit
Deutsche Unternehmen sollten daher die bestehenden Geschäftsbeziehungen mit britischen Unternehmen auf nötige Anpassungen, Störung oder Wegfall der Geschäftsgrundlage sowie auf weitere Auswirkungen überprüfen lassen. Auch eventuelle negative Wirkungen von Zöllen auf Vertragsverhältnisse und wirtschaftliche Handlungen sollten im Hinblick auf den Einfluss britischer regulatorischer Vorgaben auf bestehende Verträge geklärt werden.
Der Zugang exportierender deutscher Unternehmen zum britischen Markt könnte nach dem Brexit durch komplexe und umfassende neue britische Gesetze erschwert werden. Dementsprechend ist es ratsam, in neu abzuschließende Verträge sogenannte Brexit-Klauseln einzubauen, um einem bösen Erwachen vorzubeugen.
Der Autor Dr. Alexander Niethammer, LL.M. (UConn) ist Partner bei Eversheds in München. Dort leitet er die Praxisgruppe Company Commercial. Er vertritt internationale Unternehmen im gesamten Wirtschaftsrecht, insbesondere im Vertragsrecht.
Dr. Alexander Niethammer, Brexit: Lernen von der Wiedervereinigung . In: Legal Tribune Online, 01.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21013/ (abgerufen am: 27.04.2024 )
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