Aus Regierungskreisen verlautet, dass die große Koalition die Lücke schließen will, die der BGH mit der Frosta-Entscheidung beim Rückzug einer AG von der Börse geschaffen hat. Tim Drygala begrüßt das geplante Mehr an Anlegerschutz, zumal die empirischen Grundlagen des BGH-Beschlusses widerlegt worden seien. Angesichts der Delisting-Welle plädiert er für eine pragmatische Korrektur.
Stellen Sie sich vor, Sie sind Aktionär eines kleineren bis mittleren, durchaus profitablen börsennotierten Unternehmens. Sie freuen sich über eine akzeptable Kursentwicklung und regelmäßige Dividenden.
Eines Tages erhalten Sie Post von Ihrer Depotbank: Ihre Aktien wurden als wertlos ausgebucht. Es stellt sich heraus: Das Unternehmen ist nicht etwa insolvent, aber der Vorstand hat in Übereinstimmung mit dem Großaktionär beschlossen, die Börsennotiz einzustellen. Gefragt wurden Sie als Aktionär dazu nicht. Mitgeteilt wurde das Vorhaben als ad-hoc-Mitteilung dem Kapitalmarkt als Ganzem, aber zu einem mäßig involvierten Kleinanleger dringt diese Information regelmäßig nicht durch. Ihre Aktie ist damit mehr oder weniger unverkäuflich.
Völlig normal und in Ordnung, würden Ihnen der Bundesgerichtshof und die überwiegende Mehrheit der wirtschaftsberatenden Rechtsanwälte erklären: Denn der Anlegerschutz in diesem Bereich beruht auf Richterrecht, und der Bundesgerichtshof hat im Frosta-Beschluss seine Rechtsprechung geändert (BGH, Beschl. v. 08.10.2013, Az. II ZB 26/12).
Zuvor hatte das höchste deutsche Zivilgericht aus Art. 14 GG abgeleitet, dass ein Rückzug von der Börse die Zustimmung der Hauptversammlung und ein Abfindungsangebot erfordert. Dies gilt seit 2013 nicht mehr. Auch das Recht, den Abfindungsbetrag gerichtlich nachprüfen zu lassen, ist seitdem entfallen.
Empirische Rechtsanwendung – mit Risiken und Nebenwirkungen
Begründet hat der BGH seine Kehrtwende vor allem mit einer empirischen Studie des Deutschen Aktieninstituts (DAI). Danach komme ein Börsenrückzug nur selten vor - die Studie spricht von neun Fällen in neun Jahren. Ein Kursrückgang in der Zeit nach Ankündigung des Börsenrückzugs sei nicht nachweisbar. Daher habe der Aktionär, dem die Fungibilität der Aktie wichtig sei, genug Zeit, das Papier rechtzeitig ohne Kursverlust zu veräußern. Seine Interessen seien, so die Untersuchung, nicht signifikant gefährdet; daher überwiege das Interesse der AG, durch eine Einstelllung der Börsennotierung Kosten zu sparen, das Interesse der Aktionäre.
Die fragliche Studie hat jedoch einen Fehler. Sie beobachtet nur das Verhalten der Akteure in der Vergangenheit. In diesem Beobachtungszeitraum galt die alte Rechtsprechung, aufgrund derer die Aktionäre einen Anspruch auf Abfindung nebst gerichtlichem Rechtsschutz hatten und das Verfahren für die AG beschwerlich war. Das erklärt das Studienergebnis, wonach Delistings selten waren und nicht zu einer Flucht aus der Aktie führten.
Fällt aber die Absicherung der Aktionäre weg und wird das Verfahren erleichtert, ist anzunehmen, dass sich auch das Verhalten der Beteiligten ändert. Eben nach diesen Auswirkungen in der Zukunft fragten weder die Studie noch der BGH. Der Senat ging vielmehr davon aus, das Studienergebnis, es bestehe keine Gefahr für Aktionärsinteressen, ungeprüft in ein verändertes rechtliches Umfeld übernehmen zu können.
2/2: Die Delisting- Welle als Grund zur Korrektur
Neue Beobachtungen zeigen, dass das ein Fehler war. Aktuelle Zahlen zu Kursrückgängen nach angekündigtem Delisting sehen anders aus: Marseille-Kliniken -30,14 Prozent, Magix -28,84 Prozent, n.runs -40,48 Prozent, Swarco Traffic -12,7 Prozent... Die Liste ließe sich fortsetzen.
Nach dem Wegfall von Abfindungspflicht und gerichtlicher Nachprüfung ist das Delisting zu einem massiven Anlegerrisiko geworden. Die sinnvolle Reaktion des Aktionärs kann nur in sofortigem Verkauf bestehen, was Abgabedruck erzeugt, die Kurse sinken lässt und dem Großaktionär zudem die Möglichkeit gibt, die abgegebenen Papiere günstig aufzusammeln.
Auffällig ist auch der zahlenmäßige Anstieg der Delisting-Fälle: Anstelle von 9 Fällen in 9 Jahren wie noch in der DAI-Studie waren in den eineinhalb Jahren seit der Frosta-Entscheidung 30 Fälle zu verzeichnen. Das Delisting wird von großen Kanzleien gegenwärtig gezielt beworben, oft auch als Vorschaltmaßnahme für andere Strukturentscheidungen, bei denen der Börsenkurs von Bedeutung für die Aktionärsrechte ist. Denn ohne Börsennotiz kein Börsenkurs. Es existiert gegenwärtig eine regelrechte Delisting-Welle, nach dem Motto: Frosta ist für alle da.
Es ist nachdrücklich zu begrüßen, dass der Gesetzgeber handeln will. Die gegenwärtige Rechtslage ist inakzeptabel. Sie eröffnet den Großaktionären die Möglichkeit, die Minderheit mit der Drohung eines Delistings und des damit eintretenden Kursverfalls gezielt unter Druck zu setzen. Das verstärkt den Eindruck, die Mehrheit könnte in der AG mit den Kleinaktionären nach Belieben verfahren, was wiederum der ohnehin schon verbreiteten Kapitalmarktaversion deutscher Anleger Vorschub leistet. Nicht nur im Interesse der Kleinaktionäre, sondern auch im Interesse der Reputation Deutschlands als seriöser Finanzplatz ist daher die Reform geboten.
Rolle rückwärts – oder Neuanfang beim Minderheitenschutz?
Nicht ganz so einfach ist zu beantworten, wie die notwendige Reform aussehen soll.
Die einfachste Möglichkeit wäre die Wiederherstellung des vor 2013 geltenden Rechtszustandes. Die Forderung nach Hauptversammlungsbeschluss, Abfindungsangebot und Spruchverfahren beruht dabei auf der Überlegung, dass sich börsennotierte und nichtbörsennotierte AG strukturell unterscheiden und schon fast als unterschiedliche Rechtsformen anzusehen sind. Der Wechsel von der einen in die andere Form muss daher ähnlich behandelt werden wie der Formwechsel nach dem Umwandlungsgesetz (UmwG), der einen Beschluss, eine Abfindung und die gerichtliche Überprüfung vorsieht.
Will man dorthin zurück, müsste man nur § 3 II AktG, die Norm über die Börsennotierung der AG, um einen zusätzlichen Satz 2 ergänzen: "Für einen Antrag der Gesellschaft auf Widerruf der Zulassung gelten §§ 191 ff. UmwG sinngemäß".
Eine solche Rückkehr zu einer grundsätzlich bewährten Rechtslagekönnte zeitnah und schlank noch in die Aktienrechtsnovelle 2014 eingearbeitet werden, die sich bereits in der parlamentarischen Beratung befindet.
Allerdings wird die Anlehnung an das UmwG von Unternehmensseite als zu bürokratisch und schwerfällig kritisiert. Insbesondere das Abfindungsangebot ist teuer für AG und Großaktionär, und das nachfolgende Spruchverfahren endet nicht selten in einer 10 Jahre dauernden Gutachterschlacht zum Thema Unternehmensbewertung.
Besser jetzt als später
Vorschläge zu einem schlankeren Minderheitenschutz unterhalb des Schutzniveaus der §§ 191 ff. UmwG gibt es durchaus. Sie reichen von der Forderung nach Einführung eines Sonderbeschlusses der außenstehenden Aktionäre bis hin zur Verlagerung des Themas in das Kapitalmarktrecht, konkret einer Verschärfung des § 39 Abs. 2 Börsengesetz. Hier könnte und müsste der Gesetzgeber definieren, was er unter einem "angemessenen Anlegerschutz" beim Delisting versteht und wer für die Entscheidung zuständig sein soll – die bisher zuständige Börsengeschäftsführung dürfte jedenfalls kaum die geeignete Stelle dafür sein. Damit verbunden wäre aber die Notwendigkeit, den Rechtsschutz den Verwaltungsgerichten zuzuweisen, wohin er in der Sache nicht gehört.
Alle Alternativvorschläge haben jedenfalls eines gemeinsam: Sie würden einen erheblichen Systemwechsel in Bezug auf den aktienrechtlichen Minderheitenschutz bedeuten. Viele Normen müssten geändert, viele flankierende Regelungen bis hinein in die Verwaltungsgerichtsordnung eingeführt werden.
Das dürfte im Rahmen der schon laufenden Aktienrechtsreform 2014 nicht mehr mit der nötigen Überlegung zu bewältigen sein. Gleichzeitig ist es keine gute Idee, die Sache auf die lange Bank zu schieben. Denn die Delisting-Welle rollt und es sollten nicht noch mehr Aktionäre in die Lage kommen, dass ihre Aktie plötzlich aus dem Depot verschwindet. In dieser Situation ist eine vielleicht nicht perfekte, aber schnelle Reform nicht die schlechteste Lösung. Das wäre mit der Behandlung des Delisting als Formwechsel zu gewährleisten.
Der Autor Prof. Dr. Tim Drygala ist Inhaber des Lehrstuhls für Handels- und Gesellschaftsrecht an der Universität Leipzig.
Prof. Dr. Tim Drygala, Gesetzgeber will Anlegerschutz beim Delisting regeln: Frosta ist für alle da – aber nicht mehr lange . In: Legal Tribune Online, 10.02.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14637/ (abgerufen am: 04.06.2023 )
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