Ab Freitag steht in Gießen eine Ärztin vor Gericht, weil sie auf ihrer Webseite angibt, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornimmt. Es wird höchste Zeit, diese medizinische Dienstleistung für Frauen zu entkriminalisieren, meint Ulrike Lembke.
Kristina Hänel ist Fachärztin für Allgemeinmedizin. Sie bietet verschiedene medizinische Dienstleistungen an. Auf der Website ihrer Praxis findet sich in der Rubrik "Frauengesundheit" unter anderem das Angebot "Schwangerschaftsabbruch". Das hat ihr nun ein Strafverfahren eingetragen. Am Freitag beginnt der Prozess vor dem Amtsgericht (AG) Gießen wegen verbotener Werbung für Schwangerschaftsabbrüche nach § 219a Strafgesetzbuch (StGB).
Das Verfahren ist beispielhaft für die Situation von ungewollt Schwangeren sowie Ärztinnen und Ärzten in Deutschland. Sie arbeiten unter Strafandrohung. Zwar gab es in den vergangenen Jahren sehr wenige entsprechende Verurteilungen. Aber das deutsche Recht kriminalisiert Schwangerschaftsabbrüche weiterhin als Tötungsdelikte, statt sie als medizinische Dienstleistungen für Frauen in zumeist schwierigen Lebenssituationen anzuerkennen. Wesentlich für die bislang gescheiterte Entkriminalisierung sind zwei berühmt-berüchtigte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) von 1975 und 1993.
Internet-Recherche: Lebensschützer-Propaganda statt Arzt-Angebote
Danach stellt nicht nur der Schwangerschaftsabbruch selbst eine Straftat dar. § 219a StGB verbietet auch jede sachliche Information über Schwangerschaftsabbrüche. Denn mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich seines Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise eigene oder fremde Dienste zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs oder entsprechende hierfür geeignete Mittel anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgibt.
Dafür soll schon die Auflistung des Schwangerschaftsabbruchs als eine von vielen medizinischen Dienstleistungen einer Arztpraxis oder Klinik genügen. Da der Abbruch von der Krankenkasse oder der Patientin bezahlt wird, sieht die herrschende juristische Meinung die Voraussetzung "des Vermögensvorteils wegen" als erfüllt an.
Ungewollt schwangere Frauen können sich daher nicht im Internet darüber informieren, ob und welche Ärztinnen oder Ärzte in ihrer Nähe einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen. Ihr Recht auf freie Arztwahl wird faktisch komplett ausgehebelt.
Der Versuch einer Internet-Recherche führt sie stattdessen auf die Seiten sog. Lebensschützer, wo sie mit Bildern zerstückelter Föten und der Androhung lebenslanger Traumata konfrontiert werden. Gerne wird dort auch die Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen mit dem Holocaust verglichen – eine durch nichts zu rechtfertigende Relativierung nationalsozialistischer Verbrechen.
Die Geschichte der Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs
Dabei war gerade die verschärfte Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ein wesentlicher Bestandteil nationalsozialistischer Bevölkerungspolitiken. So wurde das "Werbeverbot" in § 219a StGB überhaupt erst im Zuge der ersten nationalsozialistischen Strafrechtsreform im Mai 1933 als neuer Tatbestand eingeführt.
Später folgten drakonische Strafen auch für die ungewollt Schwangere selbst sowie Personen, die ihr (unentgeltlich) halfen. Wenn "die Lebenskraft des deutschen Volkes fortgesetzt beeinträchtigt" wurde, drohte ab 1943 die Todesstrafe. Ein Recht der "deutschen Mutter" auf Familienplanung oder Selbstbestimmung über ihren Körper war schlichtweg nicht vorgesehen.
Bereits in der Weimarer Republik war wiederholt die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs gefordert worden, die Anträge fanden im Reichstag aber keine Mehrheit. Nach 1945 wurden die drakonischen Strafen abgeschafft, nicht aber die Straftatbestände selbst.
Erst im Zuge der zweiten Frauenbewegung ab 1967/68 wurde mit der Kampagne "Ich habe abgetrieben!" und dem Slogan "Mein Bauch gehört mir!" wieder stark für eine Entkriminalisierung eingetreten.
Die DDR führte 1972 die sog. Fristenlösung ein, welche den Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten ohne weitere Voraussetzungen entkriminalisiert. In der BRD scheiterten entsprechende Gesetzgebungsverfahren 1975 ebenso wie später im wiedervereinigten Deutschland 1993 am BVerfG.
2/3: BVerfG: Der Staat muss den Fetus schützen; die Schwangere ihn austragen
Berühmt sind die Entscheidungen aus Karlsruhe, weil das BVerfG 1975 die Figur der staatlichen Schutzpflicht entwickelt hat. Danach müssen Bürgerinnen und Bürger nicht nur gegen Freiheitsbeschränkungen durch den Staat geschützt werden, sondern auch vor Rechtsverletzungen durch andere Private. Aus dem verfassungsrechtlichen Zweierverhältnis von Staat und Privatperson wird ein Dreieck aus Staat und mehreren Privatpersonen.
Aus dem Verfassungsrecht ist die staatliche Schutzpflicht heute nicht mehr wegzudenken. Ungünstig ist nur, dass die Figur des Dreiecks so gar nicht auf Staat, Schwangere und Fetus passt, weil letztere eine "Zweiheit in Einheit" (so das BVerfG selbst) bilden und nicht zwei getrennte Enden einer geometrischen Figur.
In den beiden Entscheidungen hat das BVerfG 1975 (Urt. v. 25.02.1975, Az. 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74 – Schwangerschaftsabbruch I) und 1993 (BVerfG, Urt. v. 28.05.1993, AZ. 2 BvF 2/90 und 4,5/92 – Schwangerschaftsabbruch II) diesen zentralen Aspekt verkannt und im Wesentlichen entschieden: Der Embryo/Fetus stellt ein selbständiges Rechtsgut dar. Er ist vom Staat auch mit den Mitteln des Strafrechts auch gegenüber der Schwangeren zu schützen. Und jede (auch ungewollt) schwangere Frau hat von Verfassungs wegen die Pflicht, einen Fetus auszutragen. Da dessen Lebensrecht stets Vorrang hat, ist der Schwangerschaftsabbruch immer rechtswidrig. Nur ausnahmsweise können Frauen straflos bleiben.
Sondervoten: Die "Zweiheit in Einheit" und der abgestufte Schutz
Die Entscheidungen des BVerfG lehnten jeweils Versuche des Gesetzgebers ab, den Schwangerschaftsabbruch durch Fristenregelungen zumindest teilweise zu entkriminalisieren. Allerdings bestand beim BVerfG selbst keine Einigkeit, zu beiden Entscheidungen gab es abweichende Sondervoten.
Richterin Wiltraut Rupp-von Brünneck und Richter Helmut Simon wiesen 1975 auf die Singularität der Schwangerschaft hin, bei der Schwangere und Fetus eine "Zweiheit in Einheit" bildeten. Der Schwangeren werde nicht nur abverlangt, eine Tötungshandlung zu unterlassen, sondern sie solle auch das Heranwachsen der Leibesfrucht in ihrem Körper dulden und später jahrelang mütterliche Verantwortung übernehmen. Dieser ganz besonderen Konstellation werde gerade die Fristenregelung gerecht, die einen abgestuften Schutz des Fetus mit dessen zunehmender Entwicklung zum selbstständigen Leben anerkenne.
Die Richter Bertold Sommer und Ernst Gottfried Mahrenholz wiesen in ihrem Sondervotum 1993 darauf hin, dass es stets Frauen seien, welche die Konsequenzen zu tragen hätten, wenn Sexualität und Kinderwunsch wie so oft nicht übereinstimmten. Die Mehrheit verkenne hier die Rechtsposition der Schwangeren. Die Kollision der Würde des Embryos und der Würde der Schwangeren in der "Zweiheit in Einheit" müsse verhältnismäßig aufgelöst werden. Deshalb habe in der Frühphase der Schwangerschaft die Frau das Letztentscheidungsrecht, wenn sie zuvor eine Beratung aufgesucht hat. Richter Böckenförde vertrat in seinem Sondervotum überdies, dass die Kosten eines Schwangerschaftsabbruchs nach Beratung und in der Frühphase durchaus von den Krankenkassen getragen werden könnten.
BVerfG-Mehrheit: Eher Sanktion für weibliche Sexualität als Rechtsdogmatik
Die Entscheidungen des BVerfG weisen viele handwerkliche Mängel auf. Gleichzeitig erzeugen sie starke Bilder vom schutzbedürftigen Fetus und verantwortungslosen Schwangeren, die sich um ihrer Bequemlichkeit willen gegen ein Kind entscheiden, "weil sie nicht willens sind, den damit verbundenen Verzicht und die natürlichen mütterlichen Pflichten zu übernehmen", wie es in der Entscheidung von 1975 heißt.
Tatsächlich haben mehr als 60 Prozent der Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen, bereits ein oder mehrere Kinder. Sie wissen also, worum es bei den Mutterpflichten geht. Auch führen Kriminalisierung und härtere Strafen nicht zu weniger, sondern nur zu gefährlicheren illegalen Schwangerschaftsabbrüchen.
Die Überlegungen des BVerfG schaffen außergewöhnliches Sonderrecht für schwangere Frauen. Niemand kann nach deutschem Recht zu einer lebensrettenden Organspende oder auch nur Blutspende gezwungen werden. Es gibt keine Leistungsrechte an fremden Körpern, Körperteilen oder Körperflüssigkeiten. Die ungewollt schwangere Frau aber muss, so die Argumentation der Karlsruher Richter, monatelang ihren Körper für die Entwicklung eines anderen Menschen zur Verfügung stellen. Hintergrund dieser Auffassung der Mehrheit der Karlsruher Richter scheint zu sein, dass sie die Schwangerschaft ja selbst durch sexuelle Aktivität verursacht hat (wenn auch vermutlich unter Beteiligung eines Mannes). Ein rechtliches Argument ist daraus nicht ableitbar.
Auch ist eine Rechtsordnung, in der die Gleichberechtigung der Geschlechter und eine Austragungspflicht für ungewollt schwangere Frauen gleichermaßen gelten, nur sehr mühsam vorstellbar. Und doch regelt das derzeitige deutsche Recht genau das.
3/3: §§ 218ff StGB: primär verwirrende Regelungen
Bis heute ist der Schwangerschaftsabbruch nicht im Recht der medizinischen Dienstleistungen geregelt, sondern im Strafgesetzbuch im Abschnitt "Straftaten gegen das Leben". Es ist derselbe Abschnitt, in dem Mord und Totschlag sanktioniert sind.
Dieses massive Unwerturteil wird zudem umgesetzt durch eine kaum verständliche und höchst widersprüchliche Regelung. Zunächst stellt § 218 StGB fest, dass ein Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich strafbar ist, auch wenn er mit Einverständnis der Schwangeren geschieht.
§ 218a Abs. 1 StGB enthält eine Fristenregelung. Danach ist der Tatbestand von § 218 StGB nicht erfüllt, wenn der Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten zwölf Wochen durch einen Arzt oder eine Ärztin und nach einer Pflichtberatung erfolgt. § 5 Schwangerschaftskonfliktgesetz bestimmt, dass die Beratung ergebnisoffen zu führen ist, ermutigen und Verständnis wecken, nicht belehren oder bevormunden soll. § 219 StGB hingegen verlangt, dass die Beratung dem Schutz des ungeborenen Lebens dient und die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigt.
Neben der Fristenlösung gibt es weitere Ausnahmen von der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs. Nach § 218a Abs. 2 StGB ist der Schwangerschaftsabbruch nicht rechtswidrig, wenn damit eine Lebensgefahr oder schwerwiegende Gefahr für die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren abgewehrt wird (sog. medizinische Indikation). Gleiches gilt, wenn die Schwangerschaft auf einer Sexualstraftat beruht (sog. kriminologische Indikation) und vor der 13. Woche abgebrochen wird.
Entgegen der landläufigen Meinung sehen die Vorschriften der §§ 218ff StGB seit 1995 aber keine Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch aufgrund schwerer Krankheit oder Behinderung des Fetus vor. Faktisch wird in solchen Fällen häufig eine medizinische Indikation angenommen. Die zunehmenden Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik spielen dabei eine höchst problematische Rolle.
Ein Strafrecht für Ärztinnen und Ärzte
Ferner enthalten §§ 218ff StGB ein ganz spezifisches Arztstrafrecht. Für gewöhnlich wird die Verletzung ärztlicher Pflichten durch Standesrecht sowie die Arzthaftung sanktioniert. Geht es jedoch um die Voraussetzungen eines Schwangerschaftsabbruchs, ist jeder ärztliche Fehler nach §§ 218b, 218c StGB selbst eine Straftat.
Dass Ärztinnen und Ärzte, die dennoch bereit sind, dieses Risiko einzugehen, überhaupt gefunden werden können, verhindert das sog. Werbeverbot aus § 219a StGB.
Für einen medikamentösen Abbruch innerhalb der ersten Wochen bräuchten Frauen zwar grundsätzlich keinen ärztlichen Beistand. Sie haben aber keinen Zugang zu den dafür notwendigen Medikamenten. § 219b StGB stellt es nämlich unter Strafe, Mittel oder Gegenstände, die zum Schwangerschaftsabbruch geeignet sind, in den Verkehr zu bringen.
Kriminalisierung voller Widersprüche
Diese aktuelle Rechtslage ist mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung kaum in Einklang zu bringen. Die Absolutheit der Urteile aus Karlsruhe führt letztlich nur in Wertungswidersprüche. Wenn die Interessen des Fetus den Rechten der Schwangeren unbedingt vorgehen, ist letztlich weder eine Fristen- noch Indikationenlösung erklärlich. Die Formel von "rechtswidrig, aber straffrei" bleibt eine hohle Phrase. Sie entspricht auch nicht der geltenden Rechtslage, denn § 218a Absatz 1 StGB regelt explizit, dass bei der Fristenlösung schon der Tatbestand von § 218 StGB nicht erfüllt ist.
Aufgefallen ist das im vergangenen Vierteljahrhundert seit der jüngsten BVerfG-Entscheidung wohl noch niemandem. Nun aber steht eine Ärztin vor Gericht, die Frauen in einer schwierigen Lebenslage eine dringend benötigte medizinische Dienstleistung anbietet und die den Fehler gemacht hat, dies öffentlich zu sagen. Der Fall Kristina Hänel sollte darauf aufmerksam machen, welche Normen aus welchen Zeiten wir noch mit uns herumschleppen.
Prof. Dr. Ulrike Lembke hat den Lehrstuhl für Gender im Recht an der FernUniversität in Hagen inne und ist Vorsitzende des Arbeitsstabs "Reproduktive Gesundheit und reproduktive Rechte" des Deutschen Juristinnenbundes.
Prof. Dr. Ulrike Lembke , Schwangerschaftsabbruch in Deutschland: Eine medizinische Dienstleistung als Tötungsdelikt . In: Legal Tribune Online, 21.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25631/ (abgerufen am: 27.04.2024 )
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