Ein Fachanwalt für Medizinrecht wird wegen versuchten Totschlags verurteilt: Er hat nach beharrlicher Weigerung der Pflegeheimleitung das Durchtrennen der von der Patientin abgelehnten PEG-Sonde veranlasst. Nun muss sich der BGH mit Grundsatzfragen der Sterbehilfe befassen. Ein Kommentar von Prof. Dr. Gunnar Duttge und Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Ludwig Schreiber.
Die Patientin befand sich nach einer Hirnblutung im irreversiblen Wachkoma. Eine Besserung des Gesundheitszustandes war nicht zu erwarten. Bevor sie in diesen Zustand geriet, hatte sie unmissverständlich erklärt, dass sie keine lebensverlängernden Maßnahmen in Form von künstlicher Ernährung und Beatmung im Falle nicht mehr behebbarer Bewusstlosigkeit wünsche.
Die Tochter, die zugleich als ihre Betreuerin bestellt war, versuchte gegenüber der Leitung des Pflegeheims letztlich vergeblich, diesen Willen mittels Entfernung der angelegten PEG-Sonde durchzusetzen.
Die Tochter einigte sich mit der Heimleitung zunächst darauf, dass nicht mehr das Heim, sondern sie selbst der Patientin die Ernährung über die Sonde einstellen, die erforderliche Palliativversorgung durchführen und ihrer Mutter im Sterben beistehen sollten.
Ein Ultimatum, ein durchtrennter Schlauch und die Konsequenzen
Anschließend stellte jedoch, als die Nahrungszufuhr bereits eingestellt und die Reduktion der Flüssigkeitszufuhr begonnen worden war, das Heim ein Ultimatum, mit dem es die Einwilligung der Tochter in die Aufrechterhaltung der künstlichen Ernährung herbeiführen wollte.
Der von der Tochter mandatierte Rechtsanwalt veranlasste diese, den Versorgungsschlauch mit einer Schere zu durchtrennen, weil gegen die rechtswidrige Fortsetzung der Sondenernährung durch das Heim ein effektiver Rechtsschutz nicht kurzfristig zu erlangen sei. Das Heim erzwang sodann das Anlegen einer neuen PEG-Sonde.
Das Tatgericht, das die Tochter der Patientin frei sprach, weil sie sich angesichts des Rechtsrats des Angeklagten in einem unvermeidbaren Erlaubnisirrtum befunden und deshalb ohne Schuld gehandelt habe, verurteilte den Angeklagten trotz Annahme eines eindeutig gegen die Lebens-verlängerung gerichteten Patientenwillens wegen versuchten Totschlags.
Das LG Fulda ignoriert den Patientenwillen – und das gleich doppelt
Erstaunlicherweise fiel diese Widersprüchlichkeit dem Fuldaer Gericht nicht auf. Durch die falsche Einordnung der Tat als aktiven Tötungsversuch nahm es sich selbst die Möglichkeit, das Verhalten des Angeklagten richtig als Fall einer Therapiebegrenzung zu bewerten. Denn es ging dem Angeklagten nicht darum, das Leben der Patientin durch Gabe eines tödlichen Mittels zu verkürzen, sondern allein darum, aus Respekt gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht eine lebensverlängernde Maßnahme zu Ende gehen zu lassen. Ein solches Verhalten gilt im Arzt-Patienten-Verhältnis sachlich unbestritten als "passive Sterbehilfe", die bei eindeutigem Patientenwillen nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten ist. Dass hier der Anwalt und nicht ein Arzt die Maßnahme zu Ende gehen ließ, d.h. der bloße Wechsel der veranlassenden Person, kann diese Einordnung nicht verändern.
Trotzdem bot die Erwägung einer erlaubten Nothilfe dem Gericht noch einen Ausweg aus der bereits anvisierten Bestrafung. Es versperrte sich diesen Weg freilich dadurch, dass es in dem Durchtrennen des Schlauches eine Rechtsgutsverletzung der Patientin erblickte, die durch Nothilfe nicht gerechtfertigt werden könne.
Verkannt hat es damit aber, dass nicht das Leben als solches um jeden Preis geschützt werden muss, sondern allein nach Maßgabe des Willens des konkret Betroffenen. In der Sache hat das Gericht somit einen unzulässigen Austausch der Rechtsgüter unter Missachtung des Patien-tenwillens vorgenommen.
Eigenmächtiger Eingriff in laufende Behandlung nur als ultima ratio
Allerdings ist die Eigenmächtigkeit des Eingreifens in die laufende Behandlung und Versorgung nicht zu verkennen. Unter Nothilfegesichtspunkten kann dies nur ausnahmsweise – als "ultima ratio" – erlaubt sein, d.h. es darf kein anderweitiger Ausweg, insbesondere auch nicht durch Inanspruchnahme obrigkeitlicher Hilfe, offen stehen.
Im vorliegenden Fall hätte jedoch ohne weiteres das zuständige Betreuungsgericht angerufen werden können; denn dessen Aufgabe besteht gerade darin, Konflikte zwischen Betreuer, Arzt und Pflegeheim zu lösen und dabei nicht zuletzt auch mögliche Zweifel am Patientenwillen rechtsverbindlich zu beseitigen.
Dass effektiver Rechtsschutz nicht zu erlangen sei, wie der Angeklagte gegenüber der Tochter angeführt hat, ist daher nicht haltbar. Die gewisse zeitliche Verzögerung, die damit verbunden ist, liegt in der Natur eines jeden gerichtlichen Verfahrens und ist hinzunehmen. Die von der Rechtsordnung vorgesehene Abhilfemöglichkeit nicht in Anspruch zu nehmen, aber zugleich das Recht zur Nothilfe zu reklamieren, ist eine widersprüchliche Rechtsauffassung.
Strafbarkeit ja – aber nur wegen unterlassener Hilfeleistung
Im Ergebnis ist eine Verurteilung des Angeklagten daher vertretbar, aber nicht wegen versuchten Totschlags, sondern allein wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB).
Denn darin liegt das verübte Unrecht, das dem Angeklagten hier zur Last gelegt werden muss. Es war ihm trotz der vorausgegangenen Auseinandersetzungen zumutbar, die lebensverlän-gernde PEG-Sonde so lange zu dulden, bis eine gerichtliche Entscheidung getroffen war.
Die für die Eigenmächtigkeit des Angeklagten ausgeworfene Strafe von neun Monaten auf Bewährung lässt sich gewiss für eine unterlassene Hilfeleistung, aber nicht für ein Kapitaldelikt rechtfertigen. Die vom Gericht großzügig angenommenen Milderungsgründe offenbaren, dass es die Tat im Ganzen auch selbst nicht als Verbrechen gewertet wissen wollte.
Der Autor Prof. Dr. Gunnar Duttge ist geschäftsführender Direktor des Zentrums für Medizinrecht, Mitglied der Ethikkommission der Universität Göttingen sowie Mitglied des Arbeitskreises Ethik der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.
Der Autor Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Ludwig Schreiber ist Gründungsmitglied und langjähriger Direktor der Abteilung für Arzt- und Arzneimittelrecht der Universität Göttingen und war unter anderem Vorsitzender der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer.
Das Zentrum für Medizinrecht der Georg-August-Universität Göttingen beschäftigt sich neben Fragen der Sterbehilfe auch mit solchen der Organtransplantation, des Arzeimittelrechts, der Hirnforschung u.ä.
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Gunnar Duttge, Abbruch der Behandlung unheilbar Kranker: . In: Legal Tribune Online, 02.06.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/628 (abgerufen am: 10.10.2024 )
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