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9. GWB-Novelle in der Praxis: Reform zum Kar­tell­scha­dens­er­satz auf der Ziel­ge­raden

von Dr. Kim Lars Mehrbrey

18.04.2017

Kartellanten

© Jonathan Stutz - Fotolia.com

Bald bricht eine neue Ära des Kartellschadensersatzes an: Versteckt in der 9. GWB-Novelle, die das Kartellrecht modernisieren soll, finden sich Regelungen, die das deutsche Prozessrecht essentiell verändern.

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Der deutsche Gesetzgeber hatte wenig Spielraum

Viel Spielraum blieb dem deutschen Gesetzgeber nicht - Brüssel hatte die Richtung vorgegeben: Die von allen Mitgliedstaaten bis zum 27. Dezember2016 umzusetzende EU-Schadensersatzrichtlinie 2014/104/EU sollte einheitlichere Rechtsnormen in der EU schaffen. Es soll das Kartellrecht modernisiert und es Kartellopfern leichter gemacht werden, Schadensersatz von Kartellanten zu erlangen.

In wenigen Tagen tritt das deutsche Umsetzungsgesetz nun mit etwas Verspätung in Kraft. Die Änderungen sind weitreichend. Umso mehr überrascht es, dass es kaum Diskussionen im Gesetzgebungsprozess gab. Der Regierungsentwurf passierte die diversen Ausschüsse größtenteils unverändert.

Schadensersatz trifft Kartellanten mehr als die Bußgelder

Für die Unternehmen bedeuten die Neuregelungen bei Kartellverstößen eine deutliche Verschärfung im Hinblick auf den möglicherweise zu leistenden Schadensersatz.

Denn ein Kartellverstoß hat schon bisher nicht nur das allgemein bekannte Bußgeld der Wettbewerbsbehörde zur Folge - es sei denn, die Kartellanten kommen als Kronzeuge ohne Zahlung davon. Darüber hinaus ist der Kartellbeteiligte verpflichtet, den Abnehmern den durch das Kartell verursachten Schaden auszugleichen.

Im Grundsatz müssen die Kartellanten den Mehrbetrag zuzüglich Zinsen ersetzen, der von den Unternehmen in der Lieferkette wegen des Kartells zu viel gezahlt wurde. Multipliziert mit der Abnahmemenge im gesamten Kartellzeitraum – und häufig noch darüber hinaus – kann diese Mehrbelastung (overcharge) zu hohen Millionen- und gar Milliardenforderungen führen.

Derartige Klagen auf Kartellschadensersatz in dieser Größenordnung sind schon bisher vor deutschen Gerichten keine Seltenheit. In den Vereinigten Staaten führen solche Schadensersatzansprüche bereits zu höheren finanziellen Belastungen für Kartellanten als die Bußgelder der Kartellbehörden.

Schadensvermutung für Unternehmen in der Lieferkette

In der Theorie ist der Anspruch auf Schadensersatz schnell begründet, zumal das Zivilgericht an die Feststellung des Kartellverstoßes durch die Behörden gebunden ist. In der Praxis fällt der Nachweis, welcher Preis sich ohne das Kartell gebildet hätte, allerdings häufig schwer - um diesen hypothetischen Preis zu ermitteln, benötigt man die Expertise von Wettbewerbsökonomen.

Die wird man auch künftig brauchen – doch der Nachweis, dass die Preiserhöhungen auf das Kartell zurückzuführen sind, wird mit der Novelle vereinfacht. Insbesondere Unternehmen, die nicht direkt von einer Kartellabsprache betroffen sind, sondern erst auf einer späteren Stufe der Lieferkette, haben es nun leichter. Nach der Neufassung wird gesetzlich vermutet werden, dass der Schaden auf ihre Ebene weitergereicht worden ist. Es liegt damit an den Kartellanten, dem entgegenzutreten.

Ausweitung der Rechte auf Vorlage von Dokumenten

Ein weiteres praktisches Problem war bislang die Informationsbeschaffung. Zwar verpflichtet die Zivilprozessordnung (ZPO) bereits jetzt den Prozessgegner und auch Dritte dazu, Unterlagen vorzulegen. Die Gerichte wenden diese Vorschriften, die an bestimmte Voraussetzungen geknüpft sind, jedoch restriktiv an. Denn die Pflicht zur Offenlegung von Dokumenten, die im anglo-amerikanischen Recht eine Grundsäule des Rechtssystems ist, gilt hierzulande als Ausforschung des Prozessgegners und ist verpönt.

Dieser Ansatz wird nun auf die Probe gestellt. Kartellopfer erhalten deutlich umfassendere Rechte auf Vorlage relevanter Dokumente. Dies gilt nicht nur gegenüber den Kartellanten selbst, sondern auch gegenüber Dritten, die am Rechtsstreit nicht beteiligt sind.

Damit wird im deutschen Recht Neuland betreten. Dieser Bruch mit der Rechtstradition überrascht, zumal die neuen Vorlagerechte über die Vorgaben der Richtlinie hinausgehen. So können sie schon ausgeübt werden, bevor eine Klage eingereicht wird. Zur Einschränkung der neuen Informationsrechte wurden einige eher unscharf konturierte Regelungen, wie etwa für geheimhaltungsbedürftige Daten, ergänzt.

Deutschland steht mit dieser großzügigen Umsetzung der Discovery-Rechte nicht allein. Nach derzeitigem Umsetzungsstand wird etwa Spanien die Richtlinie zum Anlass nehmen, die neuen Offenlegungsrechte auf sämtliche kommerzielle Zivilrechtsstreitigkeiten auszuweiten.

Den vorhandenen Raum hat der Gesetzgeber nicht ausgenutzt

2/2: Haftung der Obergesellschaften bleibt ungeregelt

Unklar bleibt mit der 9. GWB-Novelle, ob Geschädigte auch gegenüber den Konzernobergesellschaften Kartellschadensersatzansprüche durchsetzen können – dies wurden nicht geregelt. Wohl aber die Möglichkeit der Verhängung von Bußgeldern gegenüber den Konzernmüttern.

Entsprechend ist bereits unter Praktikern eine intensive Diskussion darüber entbrannt, ob ein Durchgriff auf die Konzernmutter auch für die zivilrechtliche Haftung gilt. Hierdurch würde die Haftungsmasse zugunsten der Geschädigten erheblich erweitert werden. Letztlich wird aber – mangels gesetzlicher Regelung – die Konzernhaftung beim Kartellschadensersatz durch die Gerichte geklärt werden müssen.

Andere Länder, andere Regelungen für Verbraucher

Klar hingegen ist, dass sich auch mit der Neuregelung für Verbraucher nichts ändert. Immer wieder wird zwar die Frage diskutiert, wie der einzelne Verbraucher selbst Schäden geltend machen kann – denn schließlich sind in den vergangenen Jahren in so ziemlich allen Lebensbereichen Kartelle aufgedeckt worden.

Doch der Vorschlag des Bundesrats, Musterklagen für Verbraucherschutzverbände bei Kartellrechtsverstößen zu ermöglichen, konnte sich nicht durchsetzen. Daher wird es sich auch künftig für Verbraucher nicht lohnen, Preisüberhöhungen vor Gericht einzuklagen: Der Aufwand für den Schadensnachweis ist angesichts der Schadenssumme jedes Betroffenen zu hoch.

Andere Länder haben diese Thematik anders gelöst: Im Vereinigten Königreich führte der Consumer Rights Act zum 01. Oktober 2015 für Kartellschäden eine Sammelklage US-amerikanischer Provenienz ein. Wird eine geschädigte (Verbraucher-) Klasse zugelassen, ist jeder Verbraucher mit Wohnsitz im Inselreich, der die Merkmale erfüllt, vom Klageverfahren erfasst, es sei denn, er spricht sich dagegen aus ("opt out"). Erste derartige Sammelklagen liegen beim zuständigen Competition Appeal Tribunal vor – eine davon wird auf überhöhte Bankgebühren bei Zahlung mit Kreditkarten gestützt und richtet sich auf Schadensersatz in Höhe von 14 Milliarden Pfund.

Diese Sammelklagen haben Kartellbeteiligte in Deutschland nicht zu befürchten. Doch gerade die neuartigen Auskunftsansprüche werden betroffene Unternehmen, Richter und Rechtsanwälte vor unbekannte Herausforderungen stellen. Die ersten Discovery-Klagen deutschen Rechts werden vermutlich nicht lange auf sich warten lassen.

Der Autor Dr. Kim Lars Mehrbrey ist Partner im Düsseldorfer Büro von Hogan Lovells und auf Streitigkeiten in Kartellschadensersatzfällen sowie im Gesellschaftsrecht spezialisiert.

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Dr. Kim Lars Mehrbrey , 9. GWB-Novelle in der Praxis: Reform zum Kartellschadensersatz auf der Zielgeraden . In: Legal Tribune Online, 18.04.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22659/ (abgerufen am: 24.09.2023 )

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