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Beschlüsse des 72. DJT: Die Wunsch­zettel der Juristen

von Tanja Podolski

28.09.2018

Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, Veranstaltungsort des 72. DJT

© chrishoppe.de - stock.adobe.com

Muss der Delinquent wissen, welches Strafmaß ihn erwartet? Oder das BVerwG Vorgaben im Asylrecht machen können? Und jeder Geschädigte ungefragt in eine Sammelklage einbezogen werden? Der DJT mit vielen Anregungen für den Gesetzgeber.

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Der fachliche Teil des Deutschen Juristentages (DJT) 2018 ist abgeschlossen. In sechs Abteilungen ergingen am Donnerstagnachmittag die Beschlüsse, die die Juristen zwei Tage lang intensiv diskutiert haben. Teilgenommen haben am DJT rund 2.600 Anwälte, Richter und Staatsanwälte – stimmberechtigt sind allerdings nur die Mitglieder des DJT, also etwa rund 800 Personen, die bei der Gelegenheit ihren Vorsitzenden Prof. Dr. Mathias Habersack für weitere zwei Jahre bestätigten.

Asylrecht: BVerwG als Tatsacheninstanz und Spurwechsel

Die Abteilung Öffentliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht übernahmen in der Vergangenheit gerne die Arbeitsrechtler – dieses Jahr stand hingegen das Thema Migration auf der Agenda.

Notwendige Änderungen im Prozess- und vor allem im Rechtsmittelrecht hatten Richter und Anwälte bereits seit längerem angemahnt. So ist der Gesetzgeber nun vom DJT aufgefordert, im einstweiligen Rechtsschutz die Zulassungsbeschwerde in Fällen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen. Außerdem – ebenfalls keine neue Forderung – sollen bereits die Verwaltungsgerichte die Berufung in Asylverfahren zulassen können. Dies ist bisher nur auf Antrag durch die Oberverwaltungsgerichte möglich. Zudem wollen die Juristen einen neuen Zulassungsgrund etablieren: Der "ernsthafte Zweifel" an der Ergebnisrichtigkeit soll in den Katalog der Zulassungsgründe gem. § 124 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung aufgenommen werden.

Die deutliche Mehrheit der stimmberechtigten Mitglieder fordert den Gesetzgeber darüber hinaus auf, endlich das Bundesverwaltungsgericht stärker in die Rechtsprechung einzubinden: Es soll eine Tatsachenfeststellungs- und bewertungsbefugnis erhalten, die indes auf grundsätzliche Tatsachenfragen zu den Verhältnissen in Herkunfts- und Abschiebungszielstaaten beschränkt sein soll. Dies könnte nach den Vorstellungen der Juristen durch eine Erweiterung der Revisionszulassungsgründe oder durch ein Vorlageverfahren ermöglicht werden. Derzeit ist die Rechtsprechung bei Verwaltungsgerichten aber auch bei den Oberverwaltungsgerichten im Asylrecht  nicht einheitlich, Entscheidungen der Leipziger Bundesverwaltungsrichter sollen das künftig richten.

Mit großer Mehrheit sprachen sich die Juristen auch für die Möglichkeit des sogenannten Spurwechsels aus. Damit sollen auch abgelehnte Asylbewerber, die eine Beschäftigung nachweisen können oder realistische Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, aus dem Asylverfahren ausscheren und einen Aufenthaltstitel bekommen können. Die Union hat sich stets gegen einen solchen Spurwechsel ausgesprochen und auf die Trennung von Asylverfahren und Zuwanderung gepocht.

Nicht angenommen haben die Mitglieder des DJT den Vorschlag des Gutachters Prof. Dr. Winfried Kluth, eine unabhängige wissenschaftliche Einrichtung zu installieren, um die Gefahrenlage in den Herkunftsländern einzuschätzen.

Familienrecht: Weg vom starren Residenzmodell

Die Diskussionen der Abteilung Familienrecht waren geprägt von der veränderten Realität bei der Betreuung von Kindern getrennt lebender Eltern – denn das Familienrecht und angrenzende Normen stellen aktuell auf das althergebrachte Residenzmodell ab.

So votierten die Juristen einstimmig dafür, dass das Sorge- und Umgangsrecht der Vielfalt der Betreuungsmodelle Rechnung tragen muss. Dazu soll die geteilte Betreuung neben dem Residenzmodell gesetzlich abgebildet und nicht wie bisher als Umgang, sondern rechtssystematisch als elterliche Sorge abgebildet werden.

Von einer geteilten Betreuung soll wiederum dann auszugehen sein, wenn sich das Kind mindestens zu je 40 Prozent bei jedem Elternteil aufhält. Die darauf bezogenen Regelungen etwa im Unterhaltsrecht sollen entsprechend angepasst werden, beschlossen die DJT-Mitglieder.

Verbraucherschutz: Musterfeststellungsklage nicht ausreichend

Nicht zufrieden sind die Juristen mit der erst im Sommer von der Bundesregierung eingeführten Musterfeststellungsklage: Sie lehnten dieses Modell als "unzureichend" ab. Das Konstrukt entlaste nicht die Gerichte und bilde Streuschäden – also geringe Schäden bei einer Vielzahl von Betroffenen – nicht hinreichend ab.

Die Juristen stimmt stattdessen für die Einführung einer Gruppenklage, oft auch als Sammelklage bezeichnet. Mehrheitlich lehnten sie dabei die Opt-out Regelung ab, wonach die Betroffenen prozessual vertreten sind, wenn sie nicht ausdrücklich widersprochen haben.

Die Abteilung sieht darin eine Verkürzung des Rechtsschutzes des Einzelnen nach Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz*. Stattdessen soll das sogenannte Opt-in geregelt werden: Danach macht ein Gruppenkläger Ansprüche aller geltend, wenn diese sich online für das Verfahren registriert haben. Ganz deutlich sprach sich der DJT dafür aus, dass die Urteile Bindungswirkung für alle Beteiligten haben sollen. Zuständig für diese Verfahren wären die Oberlandesgerichte, zugunsten der Effizienz sollen Schadenspauschalierungen möglich sein.

Strafzumessung: keine Sentencing-Guidelines, kein Lebenslang

Die Richter lassen sich nicht in ihre Urteile hereinreden – auch nicht bei der Strafzumessung: Obwohl es je nach Region oder Gerichtsbezirk erhebliche Unterschiede in der Strafzumessungspraxis gibt, lehnte der DJT die Einführung von sogenannten Sentencing Guidelines nach amerikanischem Vorbild rigoros ab. Dabei handelt es sich um feste Vorgaben für das Strafmaß, die sich beispielsweise am Delikt, Anzahl der Vorstrafen und Höhe des entstandenen Schadens orientieren. Auch eine abgeschwächte Form, etwa in Form von Orientierungstabellen, kommt für die ganz klare Mehrheit der abstimmungsberechtigten DJT-Mitglieder nicht als Möglichkeit in Frage, um zu einer einheitlicheren Strafzumessung zu gelangen.

Was der DJT stattdessen vorschlägt, ist eine Datenbank, in die Entscheidungen eingepflegt werden sollen, um "den richterlichen Horizont" zu erweitern. Damit greifen sie Anregungen etwa einer Staatsanwältin auf. Die hatte dargelegt, dass es ihr nur punktuell über den Austausch mit Kollegen möglich sei, sich über die Entscheidungspraxis anderer Gerichte zu informieren. Strafverteidiger hätten einen viel größeren Überblick. 

Dass der DJT sich nicht für gesetzliche Regelungen der Strafzumessung aussprechen würde, wurde den Teilnehmern zwar schnell klar. Geändert werden soll die Strafzumessungsnorm des § 46 Strafgesetzbuch dennoch: An die Stelle der in Abs. 1 formulierten "Schuld" des Täters als Grundlage für die Zumessung der Strafe soll die Formulierung "vom Täter verschuldetes Unrecht" treten, die in Abs. 2 normierte "Gesinnung" soll aus dem Gesetz gestrichen werden.

Bekommen sollen die Strafrechtler nach den Wünschen des DJT eine Rückfall- und Verlaufsstatistik, um mehr Informationen darüber zu erhalten, welchen Einfluss Strafen auf die Rückfallquoten haben. Auch sollen die angedrohten Mindeststrafen in den Fällen abgesenkt werden, in denen die Strafrichter bisher auf die minder schweren Fälle ausweichen. Regelbeispiele sollen unbenannte besonders schwere Fälle ersetzen. Eine deutliche Mehrheit fand auch die Abschaffung des zwangsläufigen Strafausspruchs der "lebenslangen Freiheitsstrafe" bei Mord.

Damit junge Juristen früh die Herausforderungen der angemessenen Strafzumessung kennenlernen, sollen das Strafzumessungsrecht und kriminologische Grundlagen in die Ausbildung während des Vorbereitungsdienstes aufgenommen werden.

Wirtschaftsrecht: Mehr Alternativen bei Beschlussmängeln

Einen gesellschaftsrechtlichen Dauerbrenner hatte die Abteilung Wirtschaftsrecht mit dem Beschlussmängelrecht auf dem Programm. Als Problemfelder benannte der Vorsitzende der Abteilung, Prof. Dr. Jochen Vetter, dogmatische Unstimmigkeiten, unzureichenden Schutz von Minderheitsgesellschaftern oder Wettbewerbsnachteile der Unternehmen.

Die rund 60 abstimmungsberechtigten Mitglieder haben sich klar für die Notwendigkeit einer erneuten Reform des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts ausgesprochen. Danach sollen fehlerhafte Beschlüsse nicht mehr unmittelbar zur Nichtigkeit führen, sondern alternative Rechtsfolgen ins Gesetz eingefügt werden– und zwar bei allen Beschlüssen in der Hauptversammlung.

Gesetzliche Regelungen fordert die Abteilung auch für die sonstigen Gesellschaftsformen und insbesondere die GmbH und die Personengesellschaften, für die es bisher keine gibt. Bei der Reform solle die Möglichkeit eröffnet werden, Schiedsverfahren zu führen. Für die Aufnahme in die Satzung soll – so hat es die Abteilung mit knapper Mehrheit entschieden - eine qualifizierte, satzungsändernde Mehrheit ausreichend sein.

Gemeinnützigkeit: Mehr Transparenz bei Non Profit Organisationen

Erstmals befasste sich der DJT mit sogenannten Non-Profit-Organisationen (NPO), also Einrichtungen, die Gewinne für satzungsmäßige Zwecke erwirtschaften dürften. "Tatsächlich wird die Tätigkeit der NPO in Deutschland vornehmlich durch das Gemeinnützigkeitsrecht geprägt", erklärte der Abteilungsvorsitzende Prof. Dr. Peter Rawert. Dieser Status sei in Deutschland durchaus ein Gütesiegel, definiert wird der Begriff dabei aber bisher nur durch das Steuerrecht.

Dieser Status soll nach den Vorstellungen der Abteilung Bindungswirkung für alle staatlichen Stellen erhalten. Notwendig sei, das bisher bestehende Sanktionssystem für Verstöße gegen das Gemeinnützigkeitsrechts grundlegend zu überarbeitet werden, so Rawert. Heute drohe die Aberkennung der Gemeinnützigkeit schon bei kleinen Regelverstößen. Dies müsse auf schwerwiegende Verfehlungen begrenzt werden.

Wichtig ist dem DJT gleichzeitig mehr Transparenz durch einheitliche Berichts- und Rechnungslegungsstandards und eine Einschränkung des Steuergeheimnisses. Für rechtfähige Stiftungen des bürgerlichen Rechts fordert der DJT ein Stiftungsregister – und übte scharfe Kritik an der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Stiftungsrecht, die sich diesem auch von Stiftungsseite seit Jahrzehnten vorgebrachten Petitum nach wie vor hartnäckig verweigert. "Der DJT macht dazu den Vorschlag, rechtsfähige Stiftungen auf Ersuchen der zuständigen Stiftungsbehörden künftig zumindest deklaratorisch in das Vereinsregister einzutragen", sagte Rawert. Damit würde es ohne zusätzlichen Organisationsaufwand zu einem Vereins- und Stiftungsregister.

*Korrigiert am Tag der Veröffentlichung, 16.03 Uhr.

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Beschlüsse des 72. DJT: . In: Legal Tribune Online, 28.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31211 (abgerufen am: 09.11.2025 )

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