Vor 75 Jahren brannten in Deutschland über 1.000 Synagogen, ein vorläufiger Höhepunkt der Judenverfolgung im Dritten Reich. Inzwischen leben wieder 200.000 Juden in Deutschland. Während die Verteilung staatlicher Mittel unter den jüdischen Gemeinden nur die Gerichte beschäftigt, diskutierten über die Beschneidung auch der Gesetzgeber und die Gesellschaft lebhaft, berichtet Thomas Traub.
"Die Epoche des Judentums in Deutschland ist endgültig vorbei", sagte der bedeutende Rabbiner Leo Baeck nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager in Theresienstadt.
Anlässlich der Verleihung des Lord-Jakobovits-Preises im Mai 2013 betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel, es grenze an ein Wunder, dass sich diese bittere Prognose nicht erfüllt hat. In Deutschland existieren heute wieder lebendige jüdische Gemeinden. Einen kleinen Beitrag zu diesem Wunder leistet das Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes (GG): als Ordnung zur Entfaltung religiöser Freiheiten.
Willkürmaßnahmen im Gewand des Rechts
Im Jahre 1938 erlebten die jüdischen Gemeinden in Deutschland neben der gewaltsamen Zerstörung ihrer Gebetshäuser auch ihre rechtliche Degradierung. Mit dem "Gesetz über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Kultusvereinigungen" aus dem März 1938 wurde den jüdischen Religionsgemeinschaften der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts entzogen.
Allerdings wird dieses Gesetz – ebenso wie der Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit aus rassischen Gründen – zu den nationalsozialistischen Rechtsvorschriften gezählt, die fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, dass sie von Anfang an als nichtig erachtet werden müssen. Denn der Entzug des Körperschaftsstatus steht im Zusammenhang mit der planmäßig betriebenen Verfolgung und Vernichtung der Juden und ist daher als eine "in das Gewand des Rechts gekleidete Willkürmaßnahme" zu qualifizieren (BVerwG, Urt. v. 15.10.1997, Az. 7 C 21/96).
Daher sind die jüdischen Gemeinden in Deutschland auch heute überwiegend in der Rechtsform einer "Körperschaft des öffentlichen Rechts" i.S.d. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 Weimarer Reichsverfassung (WRV) organisiert, was ihnen beispielsweise das Recht gibt, Kultusgemeindesteuern zu erheben.
Das Verhältnis zwischen dem deutschen Staat und den jüdischen Religionsgemeinschaften ist in zahlreichen Verträgen geregelt. Neben dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland haben inzwischen alle Bundesländer Verträge mit jüdischen Gemeinden geschlossen. Außer Themen wie dem Schutz jüdischer Feiertage oder der Pflege verwaister Friedhöfe ehemaliger jüdischer Gemeinden sind dort auch staatliche Zuschüsse an jüdische Gemeinden geregelt.
2/2: Verteilung staatlicher Mittel birgt juristische Konflikte
Beispielsweise zahlt der Bund jährlich zehn Millionen Euro an den Zentralrat der Juden in Deutschland zur Erhaltung und Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes, zum Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft und zu den integrationspolitischen und sozialen Aufgaben des Zentralrats in Deutschland.
Bei der Verteilung dieser Mittel auf die jüdischen Gemeinden kommt es immer wieder zu juristischen Auseinandersetzungen. So hatte das Bundesverfassungsgericht eine Regelung im Vertrag des Landes Brandenburg mit der Jüdischen Gemeinde - Land Brandenburg für verfassungswidrig erklärt, durch die die Landesgemeinde mit der Verwaltung der finanziellen Leistungen für "alle auf den jüdischen Religionsgesetzen beruhenden Gemeinden" Brandenburgs beauftragt wurde, selbst wenn diese der Landesgemeinde nicht angehören. Die Karlsruher Richter sahen darin einen Verstoß gegen die religiöse Neutralität des Staates, das Gleichbehandlungsgebot und das Rechtsstaatsprinzip (Beschl. v. 12.05.2009, Az. 2 BvR 890/06).
Eine Klage wegen der Verteilung staatlicher Mittel an jüdische Gemeinden in Sachsen-Anhalt wird in Kürze vor dem Bundesverwaltungsgericht verhandelt (Az. 6 C 19.12).
Jüdischer Religionsunterricht
Neben den vertraglich vereinbarten Rechten stehen den jüdischen Gemeinden alle Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit dem Staat offen, die das Grundgesetz den Religionsgemeinschaften garantiert. Ein wichtiges Beispiel dieses Kooperationsverhältnisses ist der Religionsunterricht, der gemäß Art. 7 Abs. 3 GG ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen ist. In mehreren Bundesländern wird jüdischer Religionsunterricht erteilt. An der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg existiert ein eigener Studiengang für die Ausbildung jüdischer Religionslehrer.
Der verfassungsrechtliche Schutz der jüdischen Gläubigen kommt schließlich in den Gesetzen zum Ausdruck, die die individuelle und korporative Religionsfreiheit konkretisieren. So ist in § 4a Abs. 2 Tierschutzgesetz eine Ausnahmegenehmigung für das Schächten, also das betäubungslose Schlachten vorgesehen, wenn zwingende Vorschriften einer Religionsgemeinschaft das Schächten vorschreiben oder den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen. Damit wird Juden – und Muslimen – ermöglicht, ihre religiösen Speisegebote auch in Deutschland zu befolgen.
Debatte um Beschneidung findet friedliches Ende in neuem Gesetz
Eine intensive rechtliche und politische Diskussion hatte außerdem ein Urteil des Landgerichts Köln ausgelöst, das die religiös motivierte Beschneidung eines männlichen Kleinkindes als strafbare Körperverletzung qualifiziert hatte (Urt. v. 07.05.2012, Az. 151 Ns 169/11). Inzwischen ist der Gesetzgeber tätig geworden. Nach § 1631d BGB umfasst die elterliche Personensorge auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichtsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll.
Außerdem dürfen in den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Jungen auch die von einer Religionsgemeinschaft vorgesehenen Personen Beschneidungen durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und – ohne Arzt zu sein – für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind. Diese Regelung knüpft an den jüdischen Beschneidungsritus an, der nach einem Gebot aus dem 1. Buch Mose am achten Tag nach der Geburt von einem dafür speziell ausgebildeten Mohel durchgeführt wird.
Selbstverständlich muss auch diese nicht-ärztliche Beschneidung fachliche Standards einhalten, was insbesondere eine angemessene Schmerzbehandlung beinhaltet. Insgesamt ist die gesetzliche Regelung zu begrüßen und verfassungsmäßig. Sie sichert einerseits das Elternrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 GG und die Religionsfreiheit von Eltern und Kindern nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und erfüllt andererseits den staatlichen Schutzauftrag zugunsten der körperlichen Unversehrtheit der Kinder gemäß Art. 2 Abs. 2 GG.
Der Autor Thomas Traub ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Kirchenrecht der Universität zu Köln und Lehrbeauftragter an der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung.
Thomas Traub, 75 Jahre nach der Reichspogromnacht: Jüdisches Leben unter dem Schutz des GG . In: Legal Tribune Online, 09.11.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9992/ (abgerufen am: 28.03.2024 )
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