Einen Monat vor Weihnachten 1915 hebt das Reichsgericht die Verurteilung einer Kaffeekettenfilialleiterin wegen Verkaufs sogenannter "Keks" auf und verwirft ein entsprechendes Verbot. Es stand einst viel Recht hinter der trockenen Backware.
Im Winter 1914/15, dem ersten des Ersten Weltkriegs, verordnete der Bundesrat zu Berlin, dass nahezu alles Getreide und Mehl, das dem menschlichen Verzehr dienen sollte, ab sofort einer engmaschigen staatlichen Bewirtschaftung anheimfallen sollte. § 1 der Verordnung schrieb vor:
"Mit Beginn des 1. Februar 1915 sind die im Reiche vorhandenen Vorräte von Weizen (Dinkel und Spelz), Roggen, allein oder mit anderer Frucht vermischt, auch ungebrochen, für die Kriegs-Getreide-Gesellschaft m.b.H. in Berlin, die Vorräte von Weizen-, Roggen-, Hafer- und Gerstenmehl für den Kommunalverband beschlagnahmt, in dessen Bezirke sie sich befinden."
In 53 ausführlichen Paragrafen regelte die Verordnung die auf die Beschlagnahme folgende Enteignung und die rechtswegfreie Entschädigungsleistung sowie eine Ermächtigungsgrundlage für die Gemeinden, für die ihnen ab sofort anvertrauten und später von der Kriegs-Getreide-Gesellschaft zugeteilten Mehl-Bestände nähere Verarbeitungsformen vorzuschreiben.
Beispielsweise wurden die Bäcker darauf verpflichtet, nur noch ein Einheitsbrot auszubacken und Brot erst zwei Tage nach dem Backen zu verkaufen, weil es dann weniger appetitanregend war als das frische Produkt.
Am Beispiel der gut erforschten Festungsstadt Köln (damals: Cöln) lässt sich das Erblühen der juristischen Regelungsbedürfnisse in kriegswirtschaftlichen Fragen besonders gut zeigen. So versammelte beispielsweise das "Cölner Kriegs-Bürgerbuch" bis 1919 rund 1.500 Verordnungen auf 2.700 Seiten. Eine Schlüsselstellung ganz eigener Art hatte hier übrigens der Erste Beigeordnete der Stadt, der später in anderen Zusammenhängen bekannt gewordene Dr. iur. Konrad Adenauer. Ihm oblag nicht nur die Aufsicht über die 4.500 städtischen Beschäftigten, die mit der Überwachung der kriegswirtschaftsrechtlichen Normen in den lokalen Unternehmen betraut waren. Die Kreativität Adenauers zeigte sich auch darin, dafür zu sorgen, dass es überhaupt etwas zu verwalten gab.
Backwaren aus ungewöhnlichen Zutaten
So ließ er sich beispielswese mit zwei bis heute stadtbekannten Brotfabrikanten ein neu entwickeltes Brot patentieren, das aus Mais, Gerste und Reis – letzterer wurde aus den einstweilen neutralen Staaten Italien und Rumänien herbeigeschafft – herzustellen war. Ein Blick ins Zitat der Verordnung oben zeigt: Diese Getreidesorten unterlagen nicht der Beschlagnahme. Der Hang zu einer gewissen Schlitzohrigkeit, jedenfalls Findigkeit, was rechtliche Spielräume betrifft, die dem späteren Oberbürgermeister und noch späteren ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland nachgesagt wird, zeigte sich hier bereits.
Als militärisch wichtigste und kriegswirtschaftlich bedeutende Stadt im deutschen Westen war der Zwang zur Bewirtschaftung von Grundnahrungsmitteln in Köln besonders stark. Gestützt auf die Ermächtigungsgrundlage der Bundesratsverordnung wurde hier beispielsweise bereits 1915 der Kuchen verboten.
Ist der Verkauf von auswärtigem Kek in Bonn verboten?
Der Oberbürgermeister von Bonn hatte derweil mit Erlass vom 3. Februar 1915 seiner eigenen Verbotsfantasie die Sporen gegeben, wonach "vom 12. Februar 1915 ab im Bezirk der Stadt B[onn] kein Gebäck mehr verkauft oder feilgehalten werden darf, das den in der Bekanntmachung gegebenen Backvorschriften nicht entspricht". Die Bundesratsverordnung bedrohte Verstöße mit Haft- oder Geldstrafe und es war an der "Geschäftsführerin einer in B[onn] belegenen Filiale" – vermutlich der damals hoch modernen Geschäftsgruppe "Kaiser's Kaffee" – wegen des Verkaufs von sogenannten "Keks" vom Landgericht Bonn verurteilt zu werden. Offenbar stand der gemeine Kek nicht in den Formvorschriften, die der Oberbürgermeister von Bonn für Backwaren im Sinn gehabt hatte.
Gerade noch rechtzeitig zum Kriegsweihnachtsgeschäft der deutschen Bäcker und Konditoren nahm sich das Reichsgericht in Leipzig der rheinländischen Backwarenjustiz an. Mit Urteil vom 23. November 1915 (Az. V 344/15) sprach es die Kaffeekettenfilialleiterin frei. "Diese Keks", stellten die Reichsgerichtsräte fest, entsprächen zwar "nicht den Regeln über die Herstellungsweise von Kuchen, welche in § 7 der […] erlassenen Bekanntmachung des Oberbürgermeisters zu B[onn] vorgeschrieben sind".
Allerdings hatte der Oberbürgermeister von Bonn seine Regelungsbefugnisse überschritten, denn hergestellt worden waren die Keks in einer Fabrik außerhalb der beschaulichen Universitätskleinstadt am Rhein, mithin aus Mehl, das der Verfügungsgewalt seiner Gemeinde gar nicht unterlag. Damit fehlte die Rechtsgrundlage für eine Verurteilung.
2/2: Schlaumeier-Wettbewerb in der Jura-Bibliothek
Kritischen Lesern wird aufgefallen sein, dass bis hierher stets von "Kek" für das Einzelstück und von "Keks" für die Mehrzahl dessen die Rede war, was wir heute als "Keks" und "Kekse" bezeichnen. Des Rätsels Lösung: Die Übernahme des englischen Worts "cake(s)", vermittelt durch verschiedene Großbäcker, die die englische Keks-Kultur mittels großindustrieller Fertigung in Deutschland heimisch gemacht hatten, war noch nicht ganz abgeschlossen. Dem Reichsgericht waren nach dem Blick in die 1915er-Ausgabe des Duden jedenfalls die "Kekse" noch "Keks".
Wer heute zu Band 49 der "Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen" greift, kann daher auf den Seiten 306 ff. prüfen, ob sich dort in den vergangenen 100 Jahren Orthografie- Schlaumeier vermeintlich korrigierend verewigt haben. Hier dürften sich Jurastudenten, die sich an Präsenzbeständen ihrer Bibliothek vergangen haben, als Gegenstand der philologischen Forschung wiederfinden.
Beeindruckende Kleinigkeit: das Ermächtigungsgesetz
In der Rechtsprechung des Reichsgerichts während des Ersten Weltkriegs nimmt zumeist eine vergleichsweise bekannte Ermächtigungsgrundlage eine wichtige Position für die Bündelung von Staatsgewalt beim Militär ein: das Belagerungszustandsgesetz.
Über die Befugnis von Festungskommandanten und kommandierenden Generälen, im "Interesse der öffentlichen Sicherheit" in nahezu jede denkbare Verwaltungsaufgabe hineinzuregieren, wurde oft zu Gericht gesessen. Im Jahr 1915 galt dies vor allem für Verstöße gegen die vom Militär angeordnete Vorverlegung der Sperrstunde. Kneipen früher zu schließen, diente nicht allein der Minderung des Verzehrs und dazu die Heiligkeit des Krieges vor alkoholisiertem Frohsinn zu schützen, sondern schränkte vor allem die Kommunikation der Arbeiterschaft ein.
In der Kek-Rechtsprechung war dies anders. Hier rückt eine beinah unsichtbare Ermächtigungsgrundlage in den Blick. Wir erinnern uns: Ausführliche 53 Paragraphen, zehn Seiten im Reichsgesetzblatt nahm allein die Regelung der Beschlagnahme von Getreide und Mehl ein. Fleißige Juristen, wie der Kölner Beigeordnete Adenauer, mehrten die Normen des Kriegswirtschaftsrechts weiter ins Unermessliche.
Lehre aus dem Kek(s)
Doch die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für weite Teile des Kriegswirtschaftsrechts findet sich erst auf den zweiten Blick, fast versteckt in einem Gesetz, das am 4. August 1914 in erster Linie eine Verlängerung der Verlängerung der Scheck- und Wechselfristen regelte. Dort heißt es in einem gleichsam überzähligen § 3 Absatz 1: "Der Bundesrat wird ermächtigt, während der Zeit des Krieges diejenigen gesetzlichen Maßnahmen anzuordnen, welche sich zur Abhilfe wirtschaftlicher Schädigungen als notwendig erweisen."
Auf diese Ermächtigungsgrundlage stützte sich dann sehr viel Recht. In ungeahnter Tiefe und Breite wurde in wirtschaftliche Freiheiten eingegriffen, sodass bald das böse Wort von einem Sozialismus die Runde machte, den konservative preußische Kommunalbeamte eingeführt hätten.
Vielleicht ist es ja eine sinnvolle Lehre aus dem Kek(s), das endlos zitierte Carl-Schmitt-Wort von der Souveränität, die derjenige habe, der den Ausnahmezustand bestimmt, ein wenig zu variieren: Denn als souverän zeigt sich hierzulande womöglich mehr derjenige, der mit denkbar schmaler Ermächtigungsgrundlage eine ungeheure Menge an Recht setzen – und dann auf einen unfassbar weitgehenden Rechtsgehorsam bauen kann.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist.
Martin Rath, Rechtsgeschichte: Kriegsjahr 1915: Strafbarkeit des auswärtigen Kek . In: Legal Tribune Online, 13.12.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17837/ (abgerufen am: 09.05.2024 )
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