Die öffentliche Plagiatsprüfung ist inzwischen in einem juristischen Kernbereich angekommen: der Fertigung von Gesetzestexten. Unbeachtet blieb dabei bisher, dass die Frage, wer schrieb bei wem ab, direkt zur Netzwerkanalyse führt. Eine unter Sozialwissenschaftlern gängige Methode, die auch für den juristischen Gebrauch von Interesse sein könnte. Martin Rath hätte da ein paar Ideen.
Ein Blick in eine gewöhnlich wohlunterrichtete kalifornische Online-Suchmaschine und in die Archive eines großen juristischen Fachverlags fördert Erstaunliches zutage: Es findet sich nichts zu einer juristischen Netzwerkanalyse.
Das lässt die etwas boshafte Vermutung zu, dass nicht wenige Juristinnen und Juristen auf die Frage nach dem, was Netzwerkanalyse sei, mit einer Gegenfrage antworten: "Netzwerkanalyse? Nein, brauche ich nicht, die Nerds aus der IT-Abteilung waren gerade hier, mein WLAN läuft störungsfrei."
Sollte diese Gegenfrage mit einem verstörten Gesichtseindruck einhergehen, kann man beruhigen: Die Netzwerkanalyse, von der wir hier sprechen, hat nicht direkt mit IT-Systemen zu tun, ist vielmehr eine sozialwissenschaftliche Methode. Derlei wird im Staatsexamen nicht geprüft, hat also eine Vermutung der Irrelevanz gegen sich. Das ist prüfungstechnisch gut so, intellektuell aber etwas schade.
Ein Instrument der Machtkontrolle
Denn womöglich handelt es sich bei der Netzwerkanalyse um eine Herrschaftstechnik bzw. ein Instrument der Machtkontrolle. Dann hätte sie die Vermutung der Irrelevanz nicht verdient – jedenfalls solange Juristen im Spiel bleiben und sie nicht den IT-Nerds überlassen wollen.
Dieser Tage veröffentlichte der im Internet weltberühmte Journalist Richard Gutjahr eine bereits in ihren Kinderschuhen recht großgewachsene Analyse eines aktuellen Gesetzgebungsprozesses. Kritisch angegangen wird unter dem Titel "LobbyPlag: Die Copy & Paste-Gesetzgeber aus Brüssel" der Versuch des europäischen Normsetzers, das Datenschutzrecht EU-weit zu vereinheitlichen.
Als Methode der Kritik dient dem "LobbyPlag" in erster Linie eine Textanalyse nach Art der fröhlichen Doktorenjagd. Genauso wie die Dissertationen von Guttenberg, Koch-Mehrin und Schavan durch den Nachweis fremder Textelemente ihrer akademischen Würden entkleidet wurden, soll hier die Legitimität des europäischen Normsetzungsprozesses in Zweifel stehen, weil nachgewiesen werden kann, dass wesentliche "Gesetzestexte" und -entwürfe aus Textmaterial von Lobbyistenhand zusammengestückelt wurden.
Albernheiten auf den ersten Blick
Die Gleichsetzung der individuellen Fehlleistung zusammenkopierter Doktorarbeiten mit einem von Lobbyisten mehr oder weniger massiv beeinflussten Gesetzgebungsprozess, also der medienwirksame "Aufhänger" des "LobbyPlag", ist natürlich ein bisschen albern. Nirgendwo dürfte so viel auf vorhandenes Textmaterial zurückgegriffen werden wie in der Gesetzgebung. Was soll das Bürgerliche Gesetzbuch anderes sein als die Krönung von 500 Jahren zivilistischer Kompilationsarbeit? Und das deutsche Strafgesetzbuch (StGB) erweist sich in weiten Teilen, was vermutlich besonders anstößig ist, sogar als Eigenplagiat: Als das StGB 1871 zur Welt kam, konnte der Gesetzgeber die Familienähnlichkeit mit dem preußischen StGB von 1851 kaum leugnen.
Geschichtsbewusste Juristinnen und Juristen könnten auch über die populistische Kritik am Lobbyismus die Nase rümpfen. So kam 1929, wie der Bremer Zivilrechtslehrer Roland Dubischar in seinen großartigen "Prozesse, die Geschichte machten" (München, 1997) belegt, eine wirtschaftlich hoch bedeutsame Materie in einem ganz windigen Normgebungsverfahren zustande: Die Allgemeinen deutschen Spediteurbedingungen (ADSp) wurden von den zentralen Interessensverbänden der deutschen Wirtschaft gleichsam "hoheitlich" publiziert. Normsetzungsarbeit ganz ohne Demokratieherleitungskette. Der Berliner Rechtsanwalt Dr. Martin Isaac, Syndikus des Speditieursverbandes, hatte nicht nur die ADSp wesentlich mitformuliert. Das von der Lobby sozusagen selbstgesetzte Recht wurde auch gleich in Form eines Kommentars, verfasst von Issac, flächendeckend den Gerichten zugeschickt.
Diese funktionsfähige Normgebung von Lobbyistenhand hat den NS-Staat überstanden, hat sich in der zweiten deutschen Republik als sinnvoll behauptet und bestimmt – unter starker Modifikation der allgemeinen Haftungsregelungen – das Transportrecht bis heute mit. Keine schwache Leistung für einen Normkomplex in der modernen, mobil gewordenen Industriegesellschaft.
Methode, um Verhältnisse zum Tanzen zu bringen
Populistische Anti-Lobby-Initiativen umweht gerne ein etwas antimodernistischer Zug. In den öffentlichen Reaktionen auf die LobbyPlag-"Enthüllung" werden jedenfalls schon wieder Töne laut, die nur einen in demokratischer Reinheit glänzenden Gesetzgeber anerkennen möchten. Dass hinter dieser objektiv unmöglichen Forderung gerne ein bonapartistisches Regiment lauert, vergessen Populisten gerne.
Verdienstvoll ist aber – neben dem erkennbaren Anliegen, ein akzeptables europäisches Datenschutzregime zu erhalten – die interessante Methode, Lobby- und Unternehmensstrukturen in der aktuellen EU-Normsetzungsarbeit in Form einer Netzwerkanalyse abzubilden.
Gutjahr und Kollegen zeigen aufgrund des ihnen vorliegenden Text- und Datenmaterials, wie die Einfluss nehmenden Akteure in einer Netzwerkstruktur zusammenhängen. Von solchen Analysen sollten auch Juristinnen und Juristen eigentlich gar nicht genug bekommen, denn mit ihnen könnten sie ihre Verhältnisse auch ganz frei von antimodernen Zügen zum Tanzen bringen.
2/2: Das soziale Geflecht zwischen Dissertationen und Festschriften
Kulturwissenschaftliche Netzwerkanalysen sind ein statistisches Verfahren, mit dem die sozialen Beziehungen zwischen Akteuren graphisch leicht nachvollziehbar dokumentiert werden können. Junge Ethnologen ziehen beispielsweise bis heute hinaus in die Welt – vom afrikanischen Dorf bis zum US-amerikanischen Vorort – und dokumentieren per Fragebogenerhebung schlicht, wer wie oft mit wem spricht. Daraus lassen sich die Netzwerke ganz anschaulich ableiten.
Die Methode lässt sich überall einsetzen, wo soziale Beziehungen auf den ersten Blick unüberschaubar sind, beispielsweise im Roman "Simple Storys" von Ingo Schulze, für den die Ethnologen Michael Schnegg und Thomas Schweizer eine Netzwerkanalyse vorlegten. Auch die verwirrenden Verhältnisse auf Thomas Manns "Zauberberg" wurden bereits netzwerkanalytisch beleuchtet (PDF).
Bemerkenswert, dass der marktführenden kalifornischen Internet-Suchmaschine sowie einer führenden deutschen Juristerei-Datenbank der Begriff "Netzwerkanalyse", jedenfalls in dieser sozialwissenschaftlichen Dimension und in Bezug auf rechtliche Fragen unbekannt ist.
Dabei stünde das Material für interessante juristische Netzwerksanalysen in jeder besseren Universitätsbibliothek frei zur Auswahl: Beispielsweise könnte eine Auswertung der riesigen Mengen – intellektuell oft nicht sehr spannender – juristischer Festschriften und Doktorarbeiten unter der schlichten Fragestellung "Wer schreibt bei wem?" ein klares Netz sozialer und intellektueller Kontakte ausweisen. Hier sozialwissenschaftlich heranzugehen, würde sich schon allein deshalb lohnen, weil sich der Kindergarten-Sound, den Juristen in solchen Kontaktfragen oft hören lassen ("Der Professor P. hat sich vom Professor H. eine Scheibe abgeschnitten.") beenden ließe.
Die "Dichte" einer h.M. plötzlich messbar
Aber über solche atmosphärischen Vorteile hinaus könnte eine solche Netzwerksanalyse beispielsweise auch zur Objektivierung juristischer Meinungsmache beitragen, was man nicht unterschätzen soll. Wenn heute ein Gericht oder ein Juraprofessor behauptet: "Das ist h.M. und kann nicht bezweifelt werden", müssen sich andere Juristen auf ihr Rechtsgefühl oder ausführliche Recherchen stützen, um zu ermitteln, ob diese Behauptung zutrifft. Netzwerkanalysen der juristischen Prominenz würden die "Dichte" ihres jeweiligen Umfeldes abschätzen helfen, könnten klären, wie viele Kollegen wahrscheinlich ins Zungenreden einfallen werden, das aus der These, etwas sei "h.M." erst eine wirklich herrschende Meinung macht.
Umgekehrt könnten wenig finanzstarke Interessensgruppen ermitteln, welche akademischen Advokaten sie für ihr normsetzungsbedürftiges Anliegen ansprechen sollten – Professoren vermutlich, die gut, aber nicht zu gut vernetzt sind, renommiert, aber noch nicht zu teuer.
Ein weiteres Anwendungsbeispiel gefällig? In einer ganzen Anzahl von Projekten, die aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, wurde und wird das Gespräch mit Juristinnen und Juristen in Gesellschaften gesucht, die sich in Umbrüchen befinden – auf deutsche und europäische Standards hin oder von diesen weg. Der deutsch-chinesische Rechtsstaatsdiskurs gerät etwa immer wieder in die Öffentlichkeit, allerdings nur, weil er Gegenstand diplomatischer Spiegelfechtereien wird. Weniger bekannt ist, dass vor dem so genannten Arabischen Frühling von EU-Seite der Versuch gemacht wurde, den Juristen in den Maghreb-Ländern europäische Standards schmackhaft zu machen.
Und lief nicht jüngst in der Türkei, die Deutschland dank Millionen Menschen im Inland, ihrer wirtschaftlichen Dynamik und den EU-Beitrittsverhandlungen noch deutlich näher liegt als der Maghreb, eine absurde Verhaftungswelle, betrieben von einer rätselhaften Justiz?
Wüsste man nicht gern genau, welche Juristen in China, dem Maghreb und der Türkei in welchen Netzwerken dichter oder weniger eng zusammenhängen, um effizient Einfluss in rechtsstaatlicher Hinsicht nehmen zu können – oder wenn es heißt: Wollen wir sie reinlassen, aufnehmen in unseren Klüngel? Es wird ja, früher oder später, nicht allein um EU-Aufnahmeanträge gehen. Haben sich Lawfirms aus der Volksrepublik China schon in deutsche eingekauft oder steht uns das noch bevor?
Hierzu würden Netzwerkanalysen, die regelmäßig vermutlich nicht viel mehr als eine Aufbereitung publizierter juristischer Materialien erfordern dürften, objektive Auskünfte geben. Das hülfe Geld sparen und wahrscheinlich auch Freiheitsrechte und sogar Menschenleben retten: Wie ist es um die objektive Netzwerkstärke von Richter Yilmaz oder Staatsanwalt Wang bestellt, den wir zum Deutschen Juristentag einladen möchten? Welchen Einfluss nimmt man mit der Einladung? Stärkt man ein gutes, schwächt man ein böses Netzwerk?
Dieter Simon hat unlängst mit gewohnter Bissigkeit angemerkt, dass zwischen der Doktorwürde eines Handwerkers, der sich um eine neue Ventilfunktion verdient gemacht hat und einer Juristendissertation zur Europarechtskompatibilität einer deutschen Norm kein qualitativer Unterschied bestehen müsse.
Mit juristischen Netzwerkanalysen ließe sich doch ein schönes neues Teilhandwerk erlernen. Menschen, die die großartige methodische Differenz zwischen Gutachten- und Urteilsstil begriffen haben, gibt es hierzulande doch langsam genug.
Literatur:
Von Michael Schnegg & Harmut Lang liegt online die ausführliche "Netzwerkanalyse. Eine praktische Einführung" vor (PDF, 55 Seiten).
Martin Rath, Juristische Grenzwissenschaften: Instrument zur Klüngelanalyse . In: Legal Tribune Online, 17.02.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8161/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag