Juristenlogik : Etwas anderes gilt, wenn …

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Jahrelang dachten alle, der für Juristen charakteristischste Satzanfang sei "Es kommt darauf an…" Falsch gedacht. Eine südamerikanische Studie von Computerlinguisten hat schon 2011 gezeigt, dass man Volljuristen verlässlich identifizieren kann, indem man die Häufigkeit von "Etwas anderes gilt, wenn…" in ihren Äußerungen nachzählt. Roland Schimmel findet das gar nicht überraschend.
"Etwas anderes gilt, wenn …" kündigt eine Ausnahme an, wo bisher von der Regel die Rede war. Was eine Regel und was eine Ausnahme ist, weiß jeder, der selbst einmal Kind war. Oder Kinder hat. Regeln sind: "Keine Schokolade vor dem Schlafengehen. Keine Zombie-Videos nach 20 Uhr. Händewaschen vor dem Essen." Ausnahmen beginnen mit: "Nur einmal, bitte, nur heute. Bei Oma darf ich das aber immer. Weil ich Geburtstag hab‘." Sofort wird klar, es gibt mehr Ausnahmen als Regeln. Klar ist aber auch: Man muss weder Logik noch Jura studieren, um zu wissen, was ein Regel-Ausnahme-Verhältnis ist.
Dass trotzdem die Juristen diese Technik geradezu gepachtet haben, zeigt sich sofort, wenn man das Wort einmal probeweise googelt. Eigentlich liegt es auf der Hand. Wer ständig Regeln aufstellt oder anwendet, hat eben auch dauernd mit Ausnahmen zu tun. Oft kann man die Regel sogar nur verstehen, wenn man die Ausnahme kennt. Oder es ist vor lauter Ausnahmen nicht mehr klar, ob nun die Regel überhaupt noch die Regel ist oder die Ausnahme.
Für Gesetzgeber und Vertragsgestalter ist das Arbeiten mit ihrer Lieblingstechnik auch unvermeidbar. Die Probleme sind meist komplex und/oder kompliziert, die Regelwerke müssen hingegen einigermaßen allgemein bleiben, damit sie noch verständlich sind und nicht zu umfangreich werden. Wie einfach oder schwierig nun der professionelle Umgang mit Normierungen und Sonderregelungen sein kann, zeigen ein paar ausgewählte Beispiele, die sich mitunter prima als Bewährungsprobe für ein Jurastudium eignen.
Ausnahmen bestätigen die Regel
Zu Anfang ist es noch recht einfach. Die Regel "Du sollst nicht töten" kannten die meisten Menschen schon vor dem Jurastudium. Im ersten Semester lernen sie dann fasziniert "Ausnahmsweise ist es erlaubt, andere Menschen zu töten, wenn man durch Notwehr gerechtfertigt ist." Auch im Krieg - eleganter: im Verteidigungsfall - darf man den Gegnern das Leben nehmen. Wenn das praktisch wird, dann oft gleich millionenfach. Und eigenartigerweise auf beiden Seiten, weil sich im Krieg ja jeder irgendwie verteidigt. Glückliche historische Umstände lassen aber diese Ausnahme zumindest in Nordwesteuropa ein wenig an den Rand des Bewusstseins rücken.
Bis hier ist es übersichtlich: Eine klare Regel, eine klare Ausnahme. Damit kann man leben. Aber natürlich geht es auch etwas komplizierter. Zum Beispiel, wenn die Norm einigermaßen knapp und verständlich formuliert ist, während die Besonderheit schon etwas umständlicher gerät.
§ 985 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) lautet: "Der Eigentümer kann von dem Besitzer die Herausgabe der Sache verlangen." Ein Satz, elf Wörter, inhaltlich nicht allzu schwierig. § 986 Abs. 1 S. 1 BGB heißt dann aber schon "Der Besitzer kann die Herausgabe der Sache verweigern, wenn er oder der mittelbare Besitzer, von dem er sein Recht zum Besitz ableitet, dem Eigentümer gegenüber zum Besitz berechtigt ist." Ein Hauptsatz, ein Nebensatz, ein Einschub, 29 Wörter, im Abstraktionsgrad schon ein wenig anspruchsvoller als die Regel. Und das ist immer noch halbwegs harmlos.
Kaufrecht: Rück-, Unter- und Gegenausnahmen
Um die einfache Frage zu beantworten, ob der Käufer einer Sache diese bezahlen muss, wenn er sie gar nicht erst erhält, weil sie auf dem Transportweg zerstört wurde, muss man zuerst nach einer Regel suchen. Die steht in § 433 Abs. 2 BGB: Wer eine Sache kauft, muss sie bezahlen. Das ist Alltagswissen und zivilrechtlicher Erstsemesterlernstoff.
Eine Ausnahme findet man in § 326 Abs. 1 BGB: Wer die gekaufte Sache unmöglichkeitsbedingt nicht erhält, muss sie nicht bezahlen. Das lernt man im zweiten Semester beim Allgemeinen Schuldrecht – und findet es noch überzeugend.
Damit sich aber jetzt kein Student beruhigt zurücklehnt, kommt gleich die Rückausnahme in § 447 Abs. 1 BGB hinterher: Wer die gekaufte Sache nicht erhält, weil sie unterwegs zerstört wurde, den Versand aber selbst veranlasst hat, muss sie trotzdem bezahlen. Mit ein wenig Gerechtigkeitsgespür ist das noch gut zu verstehen, zumindest wenn man weiß, dass normalerweise der Käufer die Sache beim Verkäufer abholen muss, § 269 Abs. 1 BGB. Technisch bedeutet diese Rückausnahme: Es gilt wieder die ursprüngliche Regel.
Für eine angemessene Erfassung der Probleme des wirklichen Lebens ist das aber noch nicht differenziert genug. Also führt der Gesetzgeber eine Unterausnahme ein, § 474 Abs. 2 BGB: Nicht bezahlen muss die nicht erhaltene Sache, wer zwar den Versand verlangt hat, aber als Verbraucher bei einem Unternehmer eine bewegliche Sache gekauft hat. Erst mit dieser Unterausnahme kann man einem Nichtjuristen erklären, ob er das beim Versandhändler bestellte Mobiltelefon nun bezahlen muss, obwohl er es nicht bekommt. Das ist immerhin schon gedankliche Akrobatik in einem vierstufigen Schema.
Damit es nicht zu einfach wird, gilt übrigens: Abweichende Vereinbarungen sind zulässig, zumindest in Individualvereinbarungen, § 475 Abs. 1 BGB. Das aber ist, wie so oft, umstritten.
2/2: Der Eigentumserwerb: sechs Stufen bis zur Unterrückgegenausnahme
Wer das im zweiten Semester mühelos verstanden oder zumindest auswendig gelernt hat, ist damit noch nicht auf der sicheren Seite. Spätestens in der Sachenrechtsvorlesung im dritten Semester wird es Zeit, sich mit den Voraussetzungen des Eigentumserwerbs an beweglichen Sachen unter besonderer Berücksichtigung des gutgläubigen Erwerbs veräußererfremder Sachen zu befassen.
Nach § 929 S. 1 BGB kann man Eigentum an einer beweglichen Sache nur vom Eigentümer erwerben. Eine recht bekannte Ausnahme enthält § 932 Abs. 1 BGB: Wenn der Erwerber gutgläubig ist, kann er von einem Nichteigentümer Eigentum erwerben. Nach der Rückausnahme des § 935 Abs. 1 BGB ist der Eigentumserwerb vom Nichteigentümer jedoch nicht möglich, wenn die Sache dem Eigentümer abhandengekommen ist.
Weniger bekannt ist da schon die Unterausnahme des § 935 Abs. 2 BGB, wonach der gutgläubige Erwerb abhandengekommener Sachen bei Geld und Inhaberpapieren wiederum möglich ist. Zugleich formuliert aber § 367 Abs. 1 Handelsgesetzbuch (HGB) die Gegen- der Unterausnahme: Ausgeschlossen ist der gutgläubige Erwerb eines Inhaberpapiers, dessen Verlust im Bundesanzeiger bekanntgemacht wurde.
Die Rück- zur Gegen- der Unterausnahme in § 367 Abs. 2 HGB lautet dann: Ist der kaufmännische Erwerber des abhandengekommenen Inhaberpapiers in Unkenntnis der Verlustbekanntmachung im Bundesanzeiger und ist diese Unkenntnis nicht grob fahrlässig, erwirbt er gutgläubig Eigentum auch von einem Nichteigentümer. Auf der sechsten Stufe des Schemas kehrt man also zurück zur zweiten Stufe, genannt: die Ausnahme.
Vom Anwendungsgebiet des § 367 Abs. 1 ordnet übrigens auch § 367 Abs. 3 HGB eine Abweichung an: Handelt es sich bei dem Inhaberpapier um eine Banknote, bleibt es bei der Unterausnahme des § 935 Abs. 2 BGB. Eigentlich klar, oder? Die ist aber – entgegen dem missverständlichen Wortlaut – gleichstufig zu § 367 Abs. 2 HGB.
Im dritten Semester ist man also immerhin bei sechsstufigen Regel-Ausnahme-Konstruktionen angekommen. Das lässt noch Platz nach oben für den Rest des Studiums.
Die 66,666…-Prozent-Ausnahme
Bisher war nur die Rede von Sonderregelungen, welche die Norm in ihr Gegenteil verkehren. Diese sind leicht zu handhaben, weil das Ergebnis immer um 180 Grad gedreht wird: schwarz/weiß/schwarz/weiß und so weiter. Es gibt aber auch andere, die nicht nach diesem simplen Schema funktionieren.
Jeder alltägliche Verkehrsunfall zeigt das. Wer den Unfall verursacht hat, haftet dem Unfallverletzten auf Schadensersatz. In der Regel vollumfänglich, ausnahmsweise aber nicht, wenn der Verletzte den Unfall mitverursacht oder mitverschuldet hat, § 254 BGB. Dann haftet der Hauptverursacher nur zu 90 Prozent. Oder zu zwei Dritteln oder zur Hälfte.
Auch solche Situationen fassen Juristen gern unter "Etwas anderes gilt, wenn…". Was die Bedeutung der Formulierung nicht klarer werden lässt. Aber das kennt man ja schon: Was der Jurist meint, wenn er "regelmäßig", und was, wenn er "grundsätzlich" schreibt, ist ja auch erst auf den zweiten oder dritten Blick zu verstehen.
Alles ein unproblematisches Problem?
In den Lehrbüchern zur juristischen Methodenlehre werden diese Fragen nur beiläufig oder gar nicht angesprochen. Unter dem Stichwort "Ausnahme" finden sich am ehesten noch Überlegungen zur Analogiefähigkeit von Ausnahmeregelungen. Selbst eine einheitliche Terminologie scheint es nicht zu geben. Die Verfasser gehen wohl davon aus, dass es sich bei den Regel-Ausnahme-Verhältnisse um ein unproblematisches Problem handelt. Was nichts daran ändert, dass sie ziemlich anstrengend sein können. Aber es geht eben nicht ohne.
Abgesehen davon hat die Anstrengung auch ihr Gutes. Angenommen, Sie wollten Ihrer Patentochter ausreden, Jura zu studieren. Alle Argumente haben nichts gefruchtet. Geben Sie ihr einen Schönfelder und einen Palandt, nehmen Sie ihr den Internetzugang (denn sonst findet sie diesen Text im Nullkommanix). Dann fragen Sie sie, ob und unter welchen Bedingungen man gutgläubig ein abhandengekommenes Inhaberpapier in Form eines Geldscheins erwerben könne.
Nach fünf Stunden schließen Sie die Tür wieder auf. Wenn sie richtig antwortet, eine leicht verständliche Grafik zum Regel-Ausnahme-Schema entworfen hat und immer noch Jura studieren will: Lassen Sie sie! Und schenken ihr den Palandt.
Der Autor Prof. Dr. Roland Schimmel ist Professor für Wirtschaftsprivatrecht an der FH Frankfurt am Main.