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19305

Geschichte der Europäischen Menschenrechtskonvention: Mister Ste­wart stellt die rich­tige Frage

von Martin Rath

05.05.2016

Patrick Stewart in seinem Videoclip

Bild: Youtube-Screenshot

Der Star-Trek-Darsteller Patrick Stewart macht sich dieser Tage in einem Videoclip über die Haltung seiner Regierung zur EMRK lustig. Doch hat die ihrerseits komische Seiten und Auswüchse angenommen, wie die Geschichte zeigt.

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Ein Video stellt die richtige Frage

Der ehedem kommandierende Offizier des Raumschiffs Enterprise spielt in dem viralen Video einen konservativen Politiker, der im Kreis zunächst folgsamer Parteifreunde pathetisch fragt, was die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) "je für uns getan" habe.

Am Ende erfährt der von Stewart gespielte Politiker, dass es die Briten selbst gewesen seien, die nach 1945 Wesentliches dazu geleistet hätten, die EMRK zu etablieren.

Es mag auf den ersten Blick etwas unfein sein, die Pointe zu verraten. Doch geht der Witz noch ein gutes Stück weiter als es das kleine Video darstellt.

Ungeliebte Entscheidungen aus Straßburg

Ein mitunter skurriles Verhältnis zu Straßburg pflegten britische Politiker schon lange bevor sie sich in den 1970er Jahren darüber empören konnten, dass der Prügelstrafe an den Schulen des Königreichs mit Hilfe des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ein Ende bereitet werden könnte. Oder darüber, dass der britische Parlamentarismus sein hohes Ansehen in der Welt dadurch einbüßen musste, weil Strafgefangenen nicht mehr pauschal das Wahlrecht entzogen werden durfte. Die Richter im fernen Elsass hätten sich wohl nur noch dann unbeliebter machen können, hätten sie der britischen Upper-Class auch noch die Fuchsjagd verboten.

In einem 2001 publizierten Aufsatz erklärt der britische Rechtshistoriker A.W.B. Simpson (1931–2011) das im Stewart-Video karikierte Engagement der britischen Regierung während der Gründerjahre der EMRK mit dem Stillstand der Menschenrechtspolitik innerhalb der Vereinten Nationen. Bald nach der rechtlich eher unverbindlichen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 hätten die Briten sich auf das europäische Feld verlegt, um weiter an diesem Renomee verheißenden rechtspolitischen Prozess teilzuhaben.

Briten verbreiten EMRK-Geltung

Während die beiden anderen Supermächte, USA und Sowjetunion, aus machtpolitischen Gründen die Bindung an internationale Menschenrechtsnormen zu vermeiden suchten, band sich das Vereinigte Königreich weitgehend unbedacht im europäischen Rahmen.

Durch Schlamperei britischer Uperclass-Politiker, die Simpson zudem als Amateure mit Oxford- beziehungsweise Cambridge-Abschluss beschreibt, wurde von der Möglichkeit großzügig Gebrauch gemacht, abhängige Gebiete nach Artikel 63 der EMRK in ihren Geltungsbereich einzubeziehen.

Mit einem am 23. Oktober 1953 beim Europarat hinterlegten Dokument erklärte die Regierung ihrer Majestät, dass die EMRK nicht nur für so naheliegende Gebiete wie die Inseln Man, Jersey oder Guernsey anwendbar sei. Unter dem Schutz der Konvention standen von nun an auch die Menschen in Britisch-Somaliland und an der Goldküste, dem heutigen Ghana, sowie diejenigen im südafrikanischen Swasiland oder in Singapur.

Der fernste Punkt, der jemals unter dem Schutz der EMRK stand, findet sich dank britischer Herrschaftskunst knapp 17.000 Kilometer von Straßburg entfernt: Auch für das Königreich Tonga, ein britisches Protektorat in der Südsee, wurde die Anwendbarkeit der EMRK erklärt (PDF).

Imperialistische Herrschaft unter EMRK-Geltung?

In London durfte man zunächst davon ausgehen, dass sich das wirtschaftlich bankrotte britische Weltreich trotzdem nicht mit vorlauten Menschenrechtsanwälten in den afrikanischen, asiatischen oder pazifischen Herrschaftsgebieten würde beschäftigen müssen.

Dabei wurden die althergebrachten Brutalitäten imperialer Herrschaft durchaus justizförmig inszeniert. Im Zuge des sogenannten Mau-Mau-Aufstandes, einer vor allem von Angehörigen der Kikuyu-Ethnie getragenen Rebellion, verhängten die "Special Emergency Assize Courts" der britischen Machthaber in Kenia binnen dreieinhalb Jahren über 1.500 Todesurteile, von denen zwei Drittel unverzüglich und ohne Berufungsmöglichkeit durch öffentliches Erhängen vollstreckt wurden.

Kenia aber war EMRK-Gebiet. Dass kein afrikanischer Untertan von Elizabeth II. den Weg nach Straßburg fand, war einem Verhandlungserfolg ihrer Majestät Regierung zu verdanken: In der Londoner Whitehall hatte man sich gegen eine vorrangige Kompetenz eines Gerichtshofs ausgesprochen, der dann neben dem primären Entscheidungsorgan – der Europäischen Kommission für Menschenrechte – tatsächlich rund 20 Jahre vergleichsweise bedeutungslos blieb. Auch den Weg zur Individualbeschwerde beim EGMR öffnete das Vereinigte Königreich erst, als es sein Empire 1965 weitgehend verloren hatte.

Der Londoner Bürgermeister Boris Johnson erkannte diese Zusammenhänge unlängst, als er US-Präsident Obama wegen dessen positiver Einstellung zu den europäischen Institutionen einen Halb-Kenianer mit Abscheu gegenüber dem Empire nannte. Um die Zusammenhänge so zu sehen, muss man schon die sensible Seele eines britischen Poltikers haben.

Die Griechen verpetzen die Briten

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Um die britische Kolonialjustiz durch die Europäische Kommission für Menschenrechte prüfen zu lassen, hätte ein anderer Mitgliedsstaat der Konvention wegen der hingerichteten und internierten kenianischen Untertanen offiziell Beschwerde einreichen müssen. Für tote Afrikaner oder das ähnlich brutale Vorgehen der Briten in Malaysia interessierte sich freilich kein Regierungsmitglied in Bonn, Oslo oder Rom.

Die erste Kränkung ihrer sensiblen Souveränität durch die Macht der EMRK erlebte die Londoner Regierung, nachdem die Regierung Griechenlands im Mai 1956 bei der Europäischen Kommission für Menschenrechte wegen des britischen Vorgehens auf Zypern vorstellig wurde.

Auch in diesem Kolonialgebiet regte sich Widerstand gegen die britische Herrschaft, die neben militärischer Gewalt mit Maßnahmen imperialer Sonderjustiz reagierte. Nach Artikel 15 EMRK sind angemessene Abweichungen vom Schutzstandard der Konvention zwar erlaubt, wenn "das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht" wird.

Die Kommission monierte aber, dass die britische Regierung ihre Absicht, sich auf dieses Notstandsrecht zu stützen, den anderen Staaten nicht rechtzeitig und begründet zur Kenntnis gebracht habe. Ein härteres Verdikt gegen das Vereinigte Königreich blieb nur aus, weil es überhaupt der erste derartige Verstoß gegen die EMRK war, den die Kommission zu verhandeln hatte.

Kein Menschenrechtsschutz aus Personalmangel

Die Falle zwischen Realität und Recht war perfekt aufgestellt: Da herrscht man immer noch über ein Weltreich, aus dem bisher nur Indien ausgeschieden war, kann aber mit den Beamten und Militärangehörigen in den Kolonien schwerlich einen gehobenen Standard geschützter Grund- und Menschenrechte zur Geltung bringen. 200 Jahre rassistisch geprägter Herrschaftspraxis gehen ja auch an den Herrschenden nicht spurlos vorbei.

Wie blauäugig die britische Regierung bei der Zuordnung der Kolonialgebiete unter die Geltung der EMRK vorging, zeigt sich in einem Fall, in dem sie dies – wohl sehr zum Bedauern heutiger Bürger des Territoriums - unterließ: Der Gouverneur von Hongkong meldete nach London, nicht genügend juristisches Personal zu haben, um das örtliche Recht auf Vereinbarkeit mit der EMRK zu überprüfen.

Hongkong wurde daher nicht in den Geltungsbereich der EMRK einbezogen und erhielt erst kurz vor der Übergabe an die Volksrepublik China einen Menschenrechtskatalog. Einen Fuß in die Tür der kommunistischen Diktatur hat der EGMR damit leider nicht setzen können.

Vorbehalte auch jenseits Großbritanniens

Freilich führte nicht nur die Integration der Briten in dieses europäische Rechtssystem zu skurrilen Verrenkungen.

Dass die damals bitterarme Republik Irland bei ihrem Beitritt zur EMRK den förmlichen Vorbehalt erklärte, dass das in Artikel 6 Abs. 3 lit. c der Konvention verbürgte Recht auf bedarfsweise kostenlose Strafverteidigung nicht über das Maß hinaus übernommen würde, in dem irische Angeklagte bereits Beistand erhielten, gehört dabei noch zu den harmloseren Dingen.

Die Bundesregierung zu Bonn meldete etwa den Vorbehalt an, dass Artikel 103 Absatz 2 Grundgesetz das vorrangige Verbot rückwirkender Strafbarkeitsnormen vorgebe. Mit Artikel 7 Absatz 2 EMRK hatten sich die übrigen Konventionsstaaten hingegen ihr mehr oder weniger rückwirkend konstruiertes Strafrecht gegen NS-Täter und -Kollaborateure abgesegnet. Obwohl die Konvention hier schwerlich strafbegründend formuliert ist, ging die Regierung Adenauer hier auf Nummer sicher.

Wirklich merkwürdig erscheint zudem der Vorbehalt Norwegens anlässlich des Beitritts zur EMRK. Seine Verfassung 17. Mai 1814 schrieb nicht nur die protestantische Staatskirche vor und verbot Juden den Zutritt zum Königreich, es hieß in Artikel 2 zudem: "Jesuiten und Mönchsorden dürfen nicht geduldet werden."

Die antijüdische Norm wurde zwar 1851 aufgehoben, die erhalten gebliebene Vorschrift gegen die Jesuiten war der norwegischen Regierung aber noch 1953 so wichtig, dass sie den katholischen Orden durch entsprechende Erklärung vom Schutz der EMRK ausnahm.

Leider keine Rückkehr zu Fuchsjagd-Diskussionen

Vermutlich hat jedes Land seine politische Nostalgie. In Deutschland mag man eine Zeit im Blick haben, da die Atomkraftwerke noch friedlich vor sich hin dampften und wohl erzogene blonde Kinder mit Seitenscheitel noch nicht von dämonischen Altachtundsechzigern zum Studium finsterer Genderlehren verführt wurden.

Im Vereinigten Königreich wünscht sich mancher die Zeit zurück, als die heftigsten Debatten im Unterhaus noch dem Verbot der Fuchsjagd galten. Über Politiker solcher Geisteshaltung macht sich Patrick Stewart lustig. Diesen Humor mag man genial finden oder ein bisschen billig.

Fest steht allerdings, dass sich die Frage, was denn die Europäische Menschenrechtskonvention jemals für die Briten getan habe, doch eigentlich eher kenianische, malaysische oder zypriotische Oppositionelle zu Zeiten der britischen Herrschaft stellen durften – um nicht von all den potentiell durch die Konvention geschützten Menschen zu sprechen, deren Rechte auch ohne die ausdrückliche Doppelmoral des fehlenden Vollzugs einer moralisch hochwertigen Gesetzgebung hinten angestellt blieben.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Solingen.

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Martin Rath, Geschichte der Europäischen Menschenrechtskonvention: Mister Stewart stellt die richtige Frage . In: Legal Tribune Online, 05.05.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19305/ (abgerufen am: 24.09.2023 )

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