2/2: Griechenland bewirkt Rüge gegen London
Um die britische Kolonialjustiz durch die Europäische Kommission für Menschenrechte prüfen zu lassen, hätte ein anderer Mitgliedsstaat der Konvention wegen der hingerichteten und internierten kenianischen Untertanen offiziell Beschwerde einreichen müssen. Für tote Afrikaner oder das ähnlich brutale Vorgehen der Briten in Malaysia interessierte sich freilich kein Regierungsmitglied in Bonn, Oslo oder Rom.
Die erste Kränkung ihrer sensiblen Souveränität durch die Macht der EMRK erlebte die Londoner Regierung, nachdem die Regierung Griechenlands im Mai 1956 bei der Europäischen Kommission für Menschenrechte wegen des britischen Vorgehens auf Zypern vorstellig wurde.
Auch in diesem Kolonialgebiet regte sich Widerstand gegen die britische Herrschaft, die neben militärischer Gewalt mit Maßnahmen imperialer Sonderjustiz reagierte. Nach Artikel 15 EMRK sind angemessene Abweichungen vom Schutzstandard der Konvention zwar erlaubt, wenn "das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht" wird.
Die Kommission monierte aber, dass die britische Regierung ihre Absicht, sich auf dieses Notstandsrecht zu stützen, den anderen Staaten nicht rechtzeitig und begründet zur Kenntnis gebracht habe. Ein härteres Verdikt gegen das Vereinigte Königreich blieb nur aus, weil es überhaupt der erste derartige Verstoß gegen die EMRK war, den die Kommission zu verhandeln hatte.
Kein Menschenrechtsschutz aus Personalmangel
Die Falle zwischen Realität und Recht war perfekt aufgestellt: Da herrscht man immer noch über ein Weltreich, aus dem bisher nur Indien ausgeschieden war, kann aber mit den Beamten und Militärangehörigen in den Kolonien schwerlich einen gehobenen Standard geschützter Grund- und Menschenrechte zur Geltung bringen. 200 Jahre rassistisch geprägter Herrschaftspraxis gehen ja auch an den Herrschenden nicht spurlos vorbei.
Wie blauäugig die britische Regierung bei der Zuordnung der Kolonialgebiete unter die Geltung der EMRK vorging, zeigt sich in einem Fall, in dem sie dies – wohl sehr zum Bedauern heutiger Bürger des Territoriums - unterließ: Der Gouverneur von Hongkong meldete nach London, nicht genügend juristisches Personal zu haben, um das örtliche Recht auf Vereinbarkeit mit der EMRK zu überprüfen.
Hongkong wurde daher nicht in den Geltungsbereich der EMRK einbezogen und erhielt erst kurz vor der Übergabe an die Volksrepublik China einen Menschenrechtskatalog. Einen Fuß in die Tür der kommunistischen Diktatur hat der EGMR damit leider nicht setzen können.
Vorbehalte auch jenseits Großbritanniens
Freilich führte nicht nur die Integration der Briten in dieses europäische Rechtssystem zu skurrilen Verrenkungen.
Dass die damals bitterarme Republik Irland bei ihrem Beitritt zur EMRK den förmlichen Vorbehalt erklärte, dass das in Artikel 6 Abs. 3 lit. c der Konvention verbürgte Recht auf bedarfsweise kostenlose Strafverteidigung nicht über das Maß hinaus übernommen würde, in dem irische Angeklagte bereits Beistand erhielten, gehört dabei noch zu den harmloseren Dingen.
Die Bundesregierung zu Bonn meldete etwa den Vorbehalt an, dass Artikel 103 Absatz 2 Grundgesetz das vorrangige Verbot rückwirkender Strafbarkeitsnormen vorgebe. Mit Artikel 7 Absatz 2 EMRK hatten sich die übrigen Konventionsstaaten hingegen ihr mehr oder weniger rückwirkend konstruiertes Strafrecht gegen NS-Täter und -Kollaborateure abgesegnet. Obwohl die Konvention hier schwerlich strafbegründend formuliert ist, ging die Regierung Adenauer hier auf Nummer sicher.
Wirklich merkwürdig erscheint zudem der Vorbehalt Norwegens anlässlich des Beitritts zur EMRK. Seine Verfassung 17. Mai 1814 schrieb nicht nur die protestantische Staatskirche vor und verbot Juden den Zutritt zum Königreich, es hieß in Artikel 2 zudem: "Jesuiten und Mönchsorden dürfen nicht geduldet werden."
Die antijüdische Norm wurde zwar 1851 aufgehoben, die erhalten gebliebene Vorschrift gegen die Jesuiten war der norwegischen Regierung aber noch 1953 so wichtig, dass sie den katholischen Orden durch entsprechende Erklärung vom Schutz der EMRK ausnahm.
Leider keine Rückkehr zu Fuchsjagd-Diskussionen
Vermutlich hat jedes Land seine politische Nostalgie. In Deutschland mag man eine Zeit im Blick haben, da die Atomkraftwerke noch friedlich vor sich hin dampften und wohl erzogene blonde Kinder mit Seitenscheitel noch nicht von dämonischen Altachtundsechzigern zum Studium finsterer Genderlehren verführt wurden.
Im Vereinigten Königreich wünscht sich mancher die Zeit zurück, als die heftigsten Debatten im Unterhaus noch dem Verbot der Fuchsjagd galten. Über Politiker solcher Geisteshaltung macht sich Patrick Stewart lustig. Diesen Humor mag man genial finden oder ein bisschen billig.
Fest steht allerdings, dass sich die Frage, was denn die Europäische Menschenrechtskonvention jemals für die Briten getan habe, doch eigentlich eher kenianische, malaysische oder zypriotische Oppositionelle zu Zeiten der britischen Herrschaft stellen durften – um nicht von all den potentiell durch die Konvention geschützten Menschen zu sprechen, deren Rechte auch ohne die ausdrückliche Doppelmoral des fehlenden Vollzugs einer moralisch hochwertigen Gesetzgebung hinten angestellt blieben.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Solingen.
Martin Rath, Geschichte der Europäischen Menschenrechtskonvention: . In: Legal Tribune Online, 05.05.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19305 (abgerufen am: 03.12.2024 )
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