Müssen die europäischen Staaten Frankreich rechtlich beistehen? Außerdem in der Presseschau: EuGH zum Mindestlohn bei öffentlichen Aufträgen, Helmut Kohl erweitert seine Klage um Schmerzensgeld und bedingt einsatzbereite Polizisten.
Thema des Tages
EU-Bündnisfall: Frankreich hat als erster EU-Staat offiziell um den (militärischen) Beistand der anderen Mitgliedstaaten gebeten. Frankreich berief sich dabei auf Artikel 42 Absatz 7 EU-Vertrag, nach dem sich die EU-Länder bei einem bewaffneten Angriff "alle in ihrer Macht stehende Hilfe schulden." Die Europäische Union habe einstimmig ihre Bereitschaft erklärt, so sei Deutschland bereit die militärische Führung in der Minusma-Mission in Mali zu übernehmen, um Frankreich zu entlasten, berichten unter anderem die FAZ (Lorenz Hemicker), zeit.de (Carsten Luther), die taz (Eric Bonse), die SZ (Daniel Brössler) und die Welt (Stefanie Bolzen u.a - Onlinefassung). Die rechtliche Verpflichtung zu einem militärischen Beistand sei auf Grund der "kriegerischen Qualität des Angriffs" der Terrorakte von Paris zweifelhaft, schreibt der Tsp (Jost Müller-Neuhof).
Hubert Wetzel (SZ) findet es verständlich, dass Frankreich sich auf die Beistandsklausel berufe, ob dies auch klug war, sei eine andere Frage, denn im Ernstfall werde die Entscheidung des französischen Präsidenten "Europa spalten und lähmen". Ottfried Nassauer (taz) ist der Ansicht, Frankreich habe seine Partner mit der Entscheidung, nicht die Nato, sondern die Europäische Union um Beistand anzurufen, überrascht. Die Verpflichtung im EU-Vertrag sei verbindlicher formuliert und enthalte auch eine militärische Beistandspflicht.
Der wissenschaftliche Mitarbeiter Björn Schiffbauer erklärt auf juwiss.de die rechtlichen Voraussetzungen des europäischen Beistandsfall. spiegel.de (Claudia Niesen) und der Tsp (Albrecht Meier u.a) geben Antworten auf die wichtigsten Fragen zum Thema.
NATO–Bündnisfall: Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Katrin Fenrich erklärt im Interview mit lto.de (Anne-Christine Herr) die Definition und Legitimation von Krieg im Völkerrecht und stellt klar, dass der NATO-Bündnisfall nach Artikel 5 NATO-Vertrag ein "Beistandsrecht" und keine "Beistandspflicht" schaffe. Alexander Schwarz fragt sich auf juwiss.de, ob die Terroranschläge nicht-staatlicher Akteure tatsächlich als "bewaffneter Angriff" auf ein NATO-Mitglied gewertet und damit zum Auslöser des NATO-Bündnisfalls werden können.
Sicherheitsmaßnahmen in Deutschland: Deutschland hat als Reaktion auf die Terroranschläge die Sicherheitsvorkehrungen erhöht. Bayern fordert mehr Grenzkontrollen, die Polizei verlangt mehr Befugnisse bei der Vorratsdatenspeicherung. lto.de (Anne-Christine Herr/Pia Lorenz) geht mit den Akademischen Räten, Florian Albrecht und Denis Basak der Frage nach, ob die Verschärfung der Sicherheitslage eine staatliche Schutzpflicht sei oder vielmehr dadurch der Rechtsstaat unterminiert werde.
Tanjev Schultz (SZ) meint Hochrüsten bringe nichts. Jedenfalls sei ein Einsatz der Armee im Inland wegen Terror-Gefahr nicht vom Grundgesetz gedeckt. Nach Auslegung des Bundesverfassungsgerichts sei dies nur "in Ausnahmesituationen katastrophalen Ausmaßes" möglich.
Rechtspolitik
Leiharbeit/Werkverträge: Der Anwalt André Zimmermann zeigt auf dem Handelsblatt-Rechtsboard die wichtigsten Neuerungen des Gesetzentwurfes zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz auf. Im Interview mit der SZ (Thomas Öchsner) spricht die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) über den Gesetzentwurf, die Tarifflucht in Deutschland und den Missbrauch der Leiharbeit. Im Interview mit dem HBl (Donata Riedel) redet der Bundestagsabgeordnete und Parlamentarische Staatssekretär Jens Spahr (CDU) über Ausnahmen vom Mindestlohn für Flüchtlinge und äußert seine Unzufriedenheit mit dem Entwurf.
Frank Specht (HBl) fragt sich, ob das geplante Gesetz "wirklich die Tarifpartnerschaft stärkt oder genau das Gegenteil bewirkt." Unternehmen werden nun genau rechnen, ob es sich nicht lohne, Leiharbeitern nach neun Monaten das gesetzliche "Equal Pay" zu gewähren, anstatt schon ab der sechsten Woche tarifliche Zuschläge.
Asylrecht: Ein "eilbedürftiger" Referentenentwurf des Bundesinnenministeriums zur Beschleunigung des Asylverfahren soll demnächst vom Kabinett beschlossen werden. Der Entwurf sieht unter anderem vor, Antragssteller, die nicht in Deutschland bleiben dürfen, in "besonderen Aufnahmeeinrichtungen" unterzubringen, um ein schnelleres Asylverfahren durchführen zu können. Der Familiennachzug für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz werde erheblich eingeschränkt, berichtet die FAZ (Eckart Lohse).
Europäische Verfassung: Die Professoren Mark Dawson und Floris de Witte sprechen sich auf verfassungsblog.de in einem englischsprachigen Beitrag für eine europäische Verfassung aus. Sie gehen der Frage nach, wie eine solche aussehen sollte.
Korruptionsbekämpfungsgesetz: Der Anwalt Jürgen Taschke (FAZ) erläutert in einem Gastbeitrag den Gesetzentwurf "zur Bekämpfung der Korruption." So überführe der Entwurf Bestechungsvorschriften aus Nebengesetzen in das Strafgesetzbuch und verschärfe bestehende Bestimmungen. Die Ermittlungsmöglichkeiten von Korruption im Ausland werden erleichtert.
Justiz
EuGH zu öffentlichem Mindestlohn: Der Europäische Gerichtshof hat in der Rechtssache "Regiopost" nach Vorlage durch das Oberlandesgericht Koblenz entschieden, dass "die Vorgabe zur Zahlung eines Mindestlohns bei der Ausführung öffentlicher Aufträge im Inland nicht gegen EU-Recht verstößt." Eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit nach Artikel 56 Absatz 1 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union liegt nicht vor, da diese jedenfalls durch den Arbeitnehmerschutz als zwingendem Grund des Allgemeinwohls gerechtfertigt sei, schreiben die FAZ (Joachim Jahn) und der Anwalt André Siedenberg auf lto.de.
BVerfG zu Besoldungsgesetz: Das Bundesverfassungsgericht hat im Oktober entschieden, dass die Neuregelungen des Sächsischen Besoldungsgesetzes aus dem Jahre 2013, welche rückwirkend für die Zeit ab September 2006 gelten, nicht gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot, den Vertrauensschutzgrundsatz und Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz verstoßen, berichtet lto.de. Es gehe schon keine belastende Wirkung von den Regelungen aus, denn die rückwirkende Geltung der Regelungen schaffe ein diskriminierungsfreies Besoldungssystem.
BVerwG zur Abschiebung Minderjähriger: Der wissenschaftliche Mitarbeiter Tobias Klarmann bespricht auf lto.de nun auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, wonach unbegleitete minderjährige Flüchtlinge auch dann nicht in andere EU-Staaten abgeschoben werden können, wenn sie bereits in diesen Staaten Asylanträge gestellt haben. Das Gericht bejaht einen Individualschutz der Regelungen der Dublin II-Verordnung für Minderjährige.
BGH zu Rechtsanwaltskosten: Ein Gläubiger darf auch in einem rechtlich einfach gelagerten Fall einen Anwalt beauftragen, wenn der Schuldner in Zahlungsverzug gerate. Der Bundesgerichtshof hat in einem Urteil vom September den Kostenerstattungsanspruch bei anwaltlicher Tätigkeit konkretisiert und klargestellt, dass in einem solchen Fall regelmäßig eine 1,3- und nicht eine 0,3-Geschäftsgebühr vom Schuldner zu erstatten ist, berichten lto.de (Ulf Nadarzinski) und die FAZ (Joachim Jahn).
BGH zu Zeugnisverweigerungsrecht: Zeugen können sich auch auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht nach § 383 Absatz 1 Nummer 2 Zivilprozessordnung berufen, wenn sie im Falle einer juristischen Person mit deren Geschäftsführer verwandt sind. Dies hat der Bundesgerichtshof Ende September beschlossen, berichtet zpoblog.de (Benedikt Meyer).
BAG zu Abfindungsregelung: Werde die Abfindung in einem Sozialplan individuell nach Bruttomonatsgehalt und Länge der Betriebszugehörigkeit berechnet, muss dies auch für schwerbehinderte Arbeitnehmer gelten. Eine aufgrund ihres Rentenanspruchs geringere pauschale Abfindungsregelung verstosse gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, da eine unmittelbar an das Merkmal Behinderung geknüpfte Ungleichbehandlung vorliege, hat das Bundesarbeitsgericht entschieden. Dies meldet lto.de.
OLG Stuttgart zu EnBW-Deal: Das Oberlandesgericht Stuttgart hat die Berufung des CDU-Politikers Stefan Mappus gegen ein Urteil des Landgerichts Stuttgart zurückgewiesen. Mappus verklagte die Wirtschaftskanzlei Gleiss Lutz auf Schadensersatz. Die Anwälte sollen während des EnBW-Deals vor fünf Jahren die Stuttgarter Landesregierung falsch beraten haben. Das Gericht schloss sich der Auffassung der Vorinstanz an, dass das Land Vertragspartner der Anwälte gewesen sei und Mappus insofern keine Anspruche habe, berichten die FAZ (Joachim Jahn) und das HBl (Martin Buchenau).
LG Nürnberg/Fürth zu Holocaust-Leugnung: Der vorbestrafte Neonazi Gerhard Ittner ist wegen Volksverhetzung und Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole zu eineinhalb Jahre Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt worden, so spiegel.de. Ittner verbreitete in den Jahren 2011 bis 2012 Schriften, in denen unter anderem der Holocaust geleugnet wurde.
OLG München – NSU-Prozess: Auf spiegel.de (Gisela Friedrichsen) wird der Frage nachgegangen, was hinter der Verzögerungstaktik durch den Befangenheitsantrag der Anwälte des Mitangeklagten Ralf Wohllebens, der nun auch an einer Aussage im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München arbeitet, steckt. Es wird vermutet, dass sowohl der Befangenheitsantrag, begründet mit der Unkenntnis Wohllebens von der Einlassungsabsicht Beate Zschäpes, als auch der Urlaub Hermann Borcherts, Zschäpes neuer fünfter Verteidiger, dem umfassenden Abstimmungsbedarf der jeweiligen Verteidiger geschuldet sei.
LG München – Deutsche-Bank: Die taz (Patrick Guyton) und die Welt (Phillipp Vetter) berichten über die Zeugenaussagen von Friede Springer, Mehrheitsaktionärin der Axel Springer SE, und Mathias Döpfner, Vorstandschef von Axel Springer SE, das Verhalten Josef Ackermans und die Hintergründe zum Deutschen-Bank-Prozess vor dem Landgericht München. Angeklagt sind Jürgen Fitschen, der Noch-Co-Chef der Deutschen Bank, die früheren Vorstandsvorsitzenden Josef Ackermann und Rolf Breuer, sowie die früheren Vorstände Clemens Börsig und Tessen von Heydebreck wegen Vorwurfs des versuchten Prozessbetrugs in einem besonders schweren Fall.
LG Koblenz – "Neonazi-Radio": Im April 2011 waren 18 mutmaßliche Betreiber des "Widerstandsradios" unter anderem wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Volksverhetzung zu mehrjährigen Haft- und Bewährungsstrafen verurteilt worden. Auf die Revisionen hin hob der Bundesgerichtshof aufgrund mangelnder Beweiswürdigung alle Urteile auf und verwies an das Landgericht Koblenz zurück. Gestern begann der neue Prozess. Den Angeklagten wird unter anderem vorgeworfen, über das Radio Lieder gespielt zu haben, die den Nationalsozialismus verherrlichen, meldet spiegel.de.
LG Freiburg – Staatsanwalt: Am Donnerstag beginnt der Prozess vor dem Landgericht Freiburg gegen einen ehemaligen Staatsanwalt, der mehrere Ermittlungsverfahren mit Absicht nicht konsequent betrieben habe. Ihm wird Rechtsbeugung und Strafvereitelung im Amt vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe übernimmt die Anklage, so dass der Angeklagte nicht seinen ehemaligen Kollegen gegenüber treten müsse, meldet lto.de.
Kohl klagt Schmerzensgeld ein: Nachdem der Bundeskanzler a.D. Helmut Kohl im Mai vor dem Oberlandesgericht Köln im Streit um die Zitate in dem Buch "Vermächtnis: Die Kohl-Protokolle" der Autoren Heribert Schwan und Tilman Jens, herausgegeben von der Verlagsgruppe Random House, erreicht hatte, dass die weitere Verbreitung des Buches verboten wurde, will Kohl nun die Klage um Schmerzensgeld in Höhe von fünf Millionen Euro nebst Zinsen erweitern. Dies wäre die höchste Summe, die ein deutsches Gericht je zugesprochen hätte, so spiegel.de (Ann-Katrin Müller) und zeit.de.
Recht in der Welt
Frankreich – Attentäter: Die FAZ (Helene Bubrowski) stellt die ersten Ermittlungsergebnisse zu den Anschlägen von Paris zusammen. Alle bislang identifizierten Tatverdächtigen seien männlich zwischen 20 und 31 Jahre alt, haben einen arabischen Migrationshintergrund, sind in den Banlieues von Paris und Brüssel aufgewachsen und haben für den IS in Syrien gekämpft.
Frankreich – Aufrüstung: Die SZ (Christian Wernike) zeigt die Vorschläge des französischen Präsidenten François Hollande auf, "wie er sein Land im Kampf gegen den Terror aufrüsten will." So soll unter anderem "Gotteskriegern" die Staatsbürgerschaft aberkannt werden, die Verfassung um eine Notstands-Klausel ergänzt und durch ein neues Notstandsgesetz solle eine schärfere Überwachung gewährleistet werden. Nicolas Sarkozys Vorschlag Fußfesseln für Verdächtige einzuführen, habe der Präsident dem Staatsrat zur rechtlichen Prüfung vorgelegt.
Sonstiges
Fischer über Schuld: In seiner Kolumne auf zeit.de geht Bundesrichter Thomas Fischer unter dem Titel "das Böse und das Verrückte" diesmal der Frage nach, nach welchen Maßstäben wir den schuldlos von dem mit Schuld handelnden Täter unterscheiden. Das Strafgesetzbuch sei auf der Prämisse "wen wir nicht bestrafen dürfen, den wollen wir 'heilen'" aufgebaut.
Erbrecht: Ein dreiseitiges Anzeigensonderblatt in der SZ ist dem Erbrecht gewidmet. So wird zum Beispiel das neue EU-Erbrecht vorgestellt und dem Problemkreis rund um die Schenkungen zu Lebzeiten nachgegangen.
Das Letzte zum Schluss
Bedingt einsatzbereit: Zwei Trickdiebe schlugen in einem Grafinger Juweliergeschäft zu. Daraufhin verständigte man die Polizei. Doch diese hatte keine Zeit, denn es sei leider keine Streife verfügbar, "man soll die Diebe doch bitte selbst dingfest machen und festhalten bis die Polizei komme – irgendwann." Die Diebe konnten jedoch entkommen. Eine zufällig vorbeikommende Bekannte des Juweliers habe sich das britische Kennzeichen des Fluchtautos notiert, und man habe dieses an die Polizei weitergegeben. Doch auch diesmal überraschte die Polizei, denn "mit ausländischen Nummernschildern könne man nichts anfangen," so die SZ (Wieland Bögel).
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/ps
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 18. November 2015: Europas Beistandspflicht / EuGH zum Mindestlohn / Kohl fordert Schmerzensgeld . In: Legal Tribune Online, 18.11.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17572/ (abgerufen am: 05.05.2024 )
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