Böhmermanns Schmähgedicht beleidigt Erdogan nicht, befindet die Staatsanwaltschaft. Außerdem in der Presseschau: Verfassungsänderung für sozialen Wohnungsbau gefordert und erste Erlaubnis für Cannabisanbau erteilt.
Thema des Tages
StA Mainz – Jan Böhmermann: Das kontrovers diskutierte Schmähgedicht des Satirikers Jan Böhmermann bleibt zunächst ohne strafrechtliche Konsequenzen. Die Staatsanwaltschaft Mainz stellte das Verfahren ein, weil durch das Gedicht weder eine Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhaupts nach § 103 StGB noch eine einfache Beleidigung verwirklicht sei. Die grundgesetzlich geschützte Meinungsfreiheit gebiete eine enge Auslegung, wann Schmähungen als Beleidigung zu bestrafen seien. Zudem handele es sich um Satire, weshalb die Kunstfreiheit beachtet und der Beitrag in den Gesamtzusammenhang eingebettet werden müsse. Entscheidend sei letztendlich aber, dass ein Vorsatz Böhmermanns nicht festgestellt werden könne – denn die Zuschreibungen seien derart überzeichnet, dass es ihnen an Ernsthaftigkeit fehle. Böhmermanns Anwalt begrüßte die Entscheidung, kritisierte aber zugleich Bundeskanzlerin Merkel, die die notwendige Zustimmung zur Strafverfolgung erteilt und das Gedicht "bewusst verletztend" genannt hatte. Es berichten lto.de, faz.net und tagesschau.de (Kolja Schwartz).
Reinhard Müller (FAZ) meint, Erdogan werde mit begrüßenswerter Weise daran erinnert, dass die deutsche Justiz wirklich unabhängig sei. Ein Strafbefehl gegen Böhmermann wäre seiner Ansicht nach aber dennoch vertretbar gewesen. Jürn Kruse (taz) findet es richtig, dass Merkel die Ermittlungen zugelassen hat, denn "das unterscheidet den Rechtsstaat mit funktionierender Gewaltenteilung von, ja, Staaten wie der Türkei". Heribert Prantl (SZ) schreibt, die Einstellungsbegründung lese sich "partiell selbst wie eine Satire", da am eigentlichen Einstellungsgrund vorbeigeschrieben werde: "Ein Staatsoberhaupt, das sich so aufführt wie Erdoğan, muss es sich gefallen lassen, dass es polemisch attackiert wird. Anders gesagt: Auf einen groben Klotz gehört auch mal ein grober Keil."
Rechtspolitik
Sozialer Wohnungsbau: In den 1980er Jahren gab es in Deutschland noch 4 Millionen Sozialwohnungen, heute nur noch 1,5 Millionen, von denen jährlich bis zu 100.000 aus der Bindung herausfallen. Aufgrund des steigenden Drucks auf dem Wohnungsmarkt fordert Bundesbauministerin Barbara Hendricks, das Grundgesetz zu ändern und dem Bund die Kompetenz auf diesem Gebiet zurückzugeben, die im Zuge der Förderalismusreform 2006 auf die Länder übertragen wurde. Diese würden für den sozialen Wohnungsbau derzeit zwar übergangsweise weiter vom Bund gefördert, täten aber zu wenig, berichtet die taz (Christian Rath).
GWB-Novelle: Rechtsanwalt Ulrich Soltész erläutert auf lto.de, welche kartellrechtlichen Neuerungen der Gesetzentwurf vorsieht, den das Bundeskabinett jüngst zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) beschlossen hat. Die Auswirkungen auf die Internet-Wirtschaft, insbesondere die Großkonzerne, stünden im Vordergrund, etwa ein Fusionskontrollverfahren auch bei umsatzschwachen Unternehmen, die aber teuer verkauft werden, oder die Anwendung von Kartellrecht auch bei "unentgeltlichen" Leistungen der Internetanbieter. Aber auch für die Realwirtschaft gebe es Änderungen, beispielsweise sollen Bußgelder gegen Mutterunternehmen für Kartellverstöße der Tochterfirmen möglich und weitere Lücken geschlossen werden.
Kontrolle von Internetdienstleistern: Im Interview mit dem Hbl (Dietmar Neuerer/Thomas Sigmund) spricht sich Bundesjustizminister Heiko Maas für eine bessere Kontrolle großer Internetkonzerne aus. Handlungsbedarf sieht er beim Vorgehen gegen Hasskommentare und der marktbeherrschenden Stellung großer Unternehmen wie Google.
Erreichbarkeit von Arbeitnehmern: In einem Gastbeitrag in der FAZ schreiben die Rechtsanwälte Burkard Göpfert und Andreas Schöberle über das Recht von Arbeitnehmern auf Freizeit und Urlaub und ob ein gesetzliches "Recht auf Unerreichbarkeit" festgeschrieben werden müsse. Denn manch ein Mitarbeiter frage sich, "ob Urlaub nicht eher die Fortsetzung der Arbeit mit schlechterer Verbindung ist". Nach Darstellung der Rechtslage kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass dieses Problem mit gesetzgeberischen Mitteln kaum zu lösen sei, sondern ein besseres Bewusstsein in den Unternehmen erfordere.
Unternehmensbewertung: Die Rechtsanwälte Frank Hannes und Christian von Oertzen erläutern in einem Gastbeitrag in der FAZ die Bewertung eines Unternehmens im sogenannten Ertragswertverfahren. Da dieses aufwändig und kostspielig ist, kann für die erbschaftsteuerliche Bewertung auch das vereinfachte Ertragswertverfahren angewandt werden, das 2016 wohl zu erheblich geringeren Wertergebnissen führen wird.
Justiz
BVerfG – Ceta: Am 12. Oktober wird das Bundesverfassungsgericht in einem Eilverfahren über das Freihandelsabkommen Ceta verhandeln und am darauffolgenden Tag seine Entscheidung verkünden, ob Deutschland dem Abkommen im Rat der Europäischen Union zustimmen darf. Dabei wird es insbesondere um die umstrittenen Investitionsschutzgerichte gehen, meldet die FAZ (Corinna Budras).
BGH zu D&O-Versicherung: Sogenannte Directors-and-Officers-Versicherungen springen für Haftpflichtschäden durch dienstliches Verschulden von Managern ein. Obwohl der Versicherer sie mit dem Unternehmen abschließt, ist versicherte Person nur der Manager selbst, der bislang vom Unternehmen im Haftungsfall daher erst verklagt werden musste. Der Bundesgerichtshof entschied nun in zwei Fällen, dass eine Abtretung des Deckungsanspruchs des Managers gegen den Versicherer an das geschädigte Unternehmen zulässig ist, auch wenn der Manager nur außergerichtlich in Anspruch genommen wurde, schreibt Rechtsanwalt Florian Wettner in einem Gastbeitrag in der FAZ.
LG Neuruppin – Kindstötung: Im Prozess um den Tod eines 8-Jährigen im Jahr 1974 hat die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren gefordert. Sie wirft der inzwischen 74-jährigen Mutter des Jungen vor, diesen absichtlich mit Kohlenmonoxid aus dem Gasherd vergiftet und dann den Notarzt gerufen zu haben, um die Tat wie einen Unfall aussehen zu lassen. Diese streitet alles ab, berichtet spiegel.de (Uta Eisenhardt).
AG München – Behauptete Vaterschaft: Jemanden öffentlich als Vater des eigenen Kindes zu bezeichnen ist eine Tatsachenbehauptung, deren Wahrheitsgehalt von dem Behauptenden nachzuweisen ist, entschied das Amtsgericht München. Im verhandelten Fall muss die Mutter Äußerungen über den angeblichen Vater sowie Bilder von diesem aus sozialen Netzwerken entfernen, weil sie keinen Beweis dafür vorlegen konnte, dass der Mann tatsächlich der Vater ist. Derartige Veröffentlichungen verletzten ihn in seinem Persönlichkeitsrecht, schreibt die FAZ (Karin Truscheit).
VG Osnabrück zu Niqab am Abendgymnasium: Zur Entscheidung des Verwaltungsgericht Osnabrück, eine Schülerin nicht mit Verschleierung am Unterricht teilnehmen zu lassen, weil dadurch die Kommunikation und der Bildungsauftrag gefährdet seien, merkt Jost Müller-Neuhof (Tsp) an, der Bildungsauftrag würde "insbesondere dann erfüllt, wenn Mädchen (und Jungen) ungehindert, unskandalisiert und ohne republikweite Medienbeachtung sowie unter Alarmierung von Verfassungsschutz und Polizei der regelmäßige Schulbesuch gestattet wird."
Recht in der Welt
Ungarn – Flüchtlingsrecht: Nach dem an zu niedriger Wahlbeteiligung gescheiterten Referendum über die EU-Flüchtlingsquoten hat der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban laut lto.de lto.de angekündigt, die Verfassung ändern zu wollen, ohne weitere Details zu nennen. Rechtsprofessor Gábor Halmai auf verfassungsblog.de erläutert das Referendum in einem englischsprachigen Artikel.
Türkei – Rechtsstaat: Die SZ (Mike Szymanski) schreibt über Rechtsstaatlichkeit in der Türkei nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016. Der Ausnahmezustand im Land wurde aktuell um 30 Tage verlängert, 32.000 angebliche Putschisten wurden inzwischen gefangen genommen – darunter auch Richter und Staatsanwälte.
Polen – Gesetzesänderungen: Die in Polen in erster Lesung beschlossene Verschärfung des Abtreibungsverbots, das Abtreibungen nur noch in engsten Ausnahmefällen zulässt und für unzulässige Schwangerschaftsabbrüche hohe Haftstrafen vorsieht, sorgt für starken Protest, worüber die taz (Judyta Smykowski) berichtet. Nun berät die polnische Regierungspartei PiS über ein weiteres umstrittenes Gesetz, das "Gesetz zum guten Namen Polens". Danach sollen Haftstrafen verhängt werden können, wenn Polen fälschlicherweise Kriegsverbrechen zugeschrieben werden, schreibt die SZ (Florian Hassel).
EU – Transparenz: Zur Debatte um Transparenz bezüglich des Lobbyismus in EU-Institutionen haben die Grünen im EU-Parlament Vorschläge für ergänzende Regeln vorgelegt, die auch den EU-Parlamentariern umfangreiche Pflichten auferlegen sollen, berichtet die SZ (Thomas Kirchner).
Großbritannien – EMRK: Die britische Regierungspartei will ein Gesetz einbringen, dass Großbritannien im Krieg von der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) entbindet. Derzeit würde gegen britische Soldaten "im industriellen Maßstab" Klagen erhoben, es gebe einen Rechtsmissbrauch, wovor die Streitkräfte geschützt werden müssten. Darüber berichtet die FAZ (Jochen Buchsteiner).
Sonstiges
Cannabisanbau für Kranken: Vor einigen Monaten entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass einem an Multipler Sklerose leidenden Mann aus Mannheim der Anbau von Cannabis zum Eigengebrauch erlaubt werden muss. Nun hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte erstmals eine entsprechende Erlaubnis erteilt, berichtet lto.de.
Kindeswohlgefährdung: Im vergangenen Jahr ist die Anzahl der Jugendamtskontrollen wegen des Verdachts auf Kindeswohlgefährdung um vier Prozent auf 129.000 Fälle gestiegen – in 20.800 davon wurde akuter Handlungsbedarf festgestellt. Es sei ein Umdenken in der Gesellschaft festzustellen, dass Vernachlässigung, Gewalt oder sexueller Missbrauch keine Privatsache sei, schreiben SZ (Ulrike Heidenreich) und FAZ (Johannes Steger). Gerichte und Polizei, die Jugendämter selbst, aber auch die Bevölkerung sei sensibilisierter und meldeten häufiger Verdachtsfälle.
Fischer zu Strafe: In seiner Kolumne auf zeit.de schreibt Bundesrichter Thomas Fischer unter anderem darüber, wie die Höhe einer Strafe bestimmt wird.
Arbeitsbedingungen im Gefängnis: Die SZ (Ronen Steinke) interviewt den Sprecher der Gefangenen-Gewerkschaft – Bundesorganisation (GG/BO) Oliver Rast zu Beschäftigung in deutschen Gefängnissen. Das Gefängnis sei für viele Unternehmen ein interessanter Standort geworden, die Gefangenen arbeiteten jedoch zu Billiglöhnen und seien nicht rentenversichert, was nach der Entlassung ihr Armutsrisiko erhöhe. Wirksame Resozialisierung müsse den Gefangenen eine Zukunftsperspektive eröffnen.
Das Letzte zum Schluss
Vertrackter Rätselspaß: Die Staatsanwaltschaft Nürnberg hat das Strafverfahren gegen eine 90-Jährige eingestellt, die im Nürnberger Neuen Museum ein Kreuzworträtsel ausgefüllt hatte. Dieses war unglücklicherweise Teil eines an der Wand hängenden Kunstwerks und die Museumsleitung daher nicht sonderlich erfreut über den Rätselspaß gewesen. Nach gründlicher Prüfung kam die Staatsanwaltschaft nun allerdings zu dem Ergebnis, dass die Schuld der Dame als gering eingestuft werden kann, berichtet spiegel.de.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/lil
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 5. Oktober 2016: Böhmermann-Verfahren eingestellt / Sozialwohnungen vom Bund? / Cannabisanbau bewilligt . In: Legal Tribune Online, 05.10.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20755/ (abgerufen am: 17.05.2024 )
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