VerfGH NRW zur Bürgermeister-Stichwahl: Mit den eigenen Waffen geschlagen

Gastbeitrag von Robert Hotstegs, LL.M.

20.12.2019

Schlappe für Schwarz-Gelb, die Stichwahl bei der Kommunalwahl in NRW bleibt. Das hat der Verfassungsgerichtshof des Landes NRW am Freitag in Münster entschieden. 2009 hatte das Gericht noch anders geurteilt, wie Robert Hotstegs erläutert.

Das Geschenk für die Opposition im nordrhein-westfälischen Landtag kam schnörkellos in Form einer Urteilsverkündung daher: Der Verfassungsgerichtshof (VerfGH) Nordrhein-Westfalen (NRW) hat die Abschaffung der Bürgermeister- und Landrats-Stichwahl gekippt (Urt. v. 20.12.2019, Az. VerfGH 35/19). Die schwarz-gelbe Koalition habe ihre Prognose hinsichtlich der Auswirkungen auf die demokratische Legitimation nicht hinreichend vorbereitet, so das Gericht. Damit findet auch im Herbst 2020 wieder ein zweiter Wahlgang zwischen den beiden Bestplatzierten der Kommunalwahl statt.

Es war der zweite Anlauf einer CDU/FDP-geführten Landesregierung und Landtagsmehrheit in NRW, die ungeliebte Stichwahl bei Bürgermeister- und Landratswahlen abzuschaffen. Während der VerfGH noch vor zehn Jahren die Abschaffung billigte und kein demokratisches Defizit feststellen konnten, hatte sich nun nach einer Mehrheit des Senats die rechtliche und tatsächliche Ausgangslage derart verändert, dass der Landesgesetzgeber gehalten war eine solidere Prognose anzustellen. Weil er dies nicht tat, verstößt die Abschaffung der Stichwahl gegen Landesverfassungsrecht. Gleichzeitig wurde eine Änderung des Wahlkreiszuschnitts aber gebilligt.

Der 2017 für die Dauer der fünfjährigen Legislaturperiode geschlossene Koalitionsvertrag zwischen CDU und FDP äußerte sich nicht ausdrücklich zur Abschaffung der Stichwahl. Allerdings enthielt er bereits den Hinweis: "Wir wollen das kommunale Haupt- und Ehrenamt weiter stärken und dadurch die Attraktivität einer Kandidatur erhöhen." Hierunter subsumierte die Koalition ihren schon Jahre zuvor einmal umgesetzten Plan, die Stichwahlen erneut abzuschaffen.

Rechtsstreit an den Grenzen von Parteilinien

Seit der Einführung eines direktgewählten Hauptverwaltungsbeamten in den Gemeinden und Kreisen an Rhein, Ruhr und Weser durften die Wähler daher zunächst in zwei Wahlgängen, dann ab 2007 in einem Wahlgang, schließlich seit 2011 wieder in zwei Wahlgängen über die politische Leitung vor Ort entscheiden.

Schon bei der Abschaffung 2007 war der Vorwurf erhoben worden, insbesondere die CDU habe sich für eine Wahl in einem einzigen Durchgang entschieden, weil dies eigenen Kandidatinnen und Kandidaten zum Wahlerfolg verhelfen würde. Diese würden nämlich im ersten Durchgang häufig einfache Mehrheiten erzielen, aber seien durchaus im zweiten Wahlgang unterlegen, wenn nämlich andere Parteien ihre Wahlempfehlungen auf den verbleibenden Gegenkandidaten konzentrieren würden.

Gleichwohl billigte der VerfGH 2009 im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens diese Regelung. (Urt. v. 26.05.2009, Az. VerfGH 2/09). Die Landesverfassung erfordere schon keine Direktwahl der Hauptverwaltungsbeamten, auch keine absolute Mehrheit in der Wahl. Grundgesetz und Landesverfassung würden durchaus auch Entscheidungen durch einfache Mehrheit kennen: "Mit der Ausgestaltung der Bürgermeister- und Landratswahlen als Direktwahl in einem Wahlgang mit relativer Mehrheit hält sich der Landesgesetzgeber innerhalb des ihm von Verfassungs wegen eingeräumten Gestaltungsspielraums. Bei einer Volkswahl mit relativer Mehrheit ist der Amtsgewinn für Bürgermeister und Landrat demokratisch legitimiert. Die Regelung verstößt auch weder gegen die Grundsätze der gleichen und unmittelbaren Wahl noch liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit im politischen Wettbewerb vor."

Damit war der verfassungsgerichtliche Rechtsschutz erschöpft, allein dem Wähler war es überlassen durch geänderte Mehrheiten den Gesetzgeber zur Abkehr zu bewegen. So geschah es und 2011 führte die wieder mit Mehrheit in den Landtag gewählte rot-grüne Regierungskoalition die Stichwahl erneut ein. Durchaus also auch mit eigenem politischen Kalkül – nun aber in die umgekehrte Richtung.

Gesetzgebungsgeschichte wiederholt sich nicht

Mit der Änderung des § 46c Kommunalwahlgesetz (KWahlG) NRW durch CDU und FDP im Jahr 2019 schien sich juristische Geschichte also schlicht zu wiederholen. Es wurde schon gemutmaßt, ob der VerfGH seine Entscheidung aus 2009 schlicht unter neuem Aktenzeichen in nahezu gleichem Wortlaut verkünden würde.

Es kam aber anders. Bereits in der mündlichen Verhandlung im November sahen sich beide Seiten, 83 Abgeordnete auf Antragstellerseite und der Landtag und die Landesregierung als Beteiligte auf der anderen Seite, kritischen Rückfragen ausgesetzt. Ausdrücklich wurde von der Richterbank aus die Frage in den Saal gestellt, ob die Entscheidung aus 2009 falsch gewesen sei.

Hierüber hatte der Senat nicht zu befinden. Er distanzierte sich auch nicht in seinem heutigen Urteil von seiner eigenen Rechtsprechung. Er maß allerdings den Landesgesetzgeber an dessen eigenen Worten in anderen Gesetzgebungs- und verfassungsgerichtlichen Verfahren. Die 83 erfolgreichen Antragsteller schlugen den Landtag also mit seinen eigenen Waffen – mit seinem eigenen Wissen um die bunte politische Landschaft.

Nach der mündlichen Urteilsbegründung hat es der Landtag nämlich versäumt, die tatsächlichen und rechtlichen Veränderungen seit 2009 und insbesondere 2011 hinreichend zu erfassen und zu würdigen. Während die Landtagsmehrheit zwar im Rahmen anderer Verfahren die Zersplitterung der politischen Parteienlandschaft beklage und einen zunehmenden Wettbewerb auf kommunaler Ebene beschreibe, habe sie dies bei der Prognose auf einstufige Bürgermeisterwahlen geradezu ausgeblendet. Der Gesetzgeber habe eben nicht hinreichend berücksichtigt, dass eine zunehmende Zahl von Kandidatinnen und Kandidaten im ersten Wahlgang die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöhen würden, dass am Ende Bürgermeister und Landräte mit weniger als 50 Prozent der Stimmen ins Amt kämen.

Verhinderte Minderheits-Oberbürgermeister in Düsseldorf und Görlitz

Konkrete Beispiele lieferten bereits letzte Kommunalwahlen, etwa die Landeshauptstadt Düsseldorf konnte hierfür herhalten. Dort regiert Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) seit Juni 2014. Im ersten Wahlgang hatte er zunächst nur 37,9 Prozent der Stimmen erhalten, während sein CDU-Gegenkandidat und bisheriger Amtsinhaber Dirk Elbers 46,1 Prozent auf sich vereinen konnte. Dies machte seinerzeit eine Stichwahl erforderlich und das Blatt wendete sich zugunsten von Geisel. Die Wähler konzentrierten im zweiten Wahlgang 59,2 Prozent der Stimmen auf ihn.

Auch die Oberbürgermeisterwahl in Görlitz hatte im Sommer 2019 eine ähnliche Klarstellung ergeben und für bundesweites Aufsehen gesorgt. Dort wäre nämlich mit Sebastian Wippel (AfD) im ersten Wahlgang ein Kandidat der rechtspopulistischen Partei mit 36,4 Prozent der Stimmen als Sieger hervorgegangen. Erst der zweite Wahlgang ergab deutlich, dass sich die Stimmen auf seinen Konkurrenten Octavian Ursu (CDU) mit 55,2 Prozent vereinten.

Die einstufige Wahl birgt damit das nicht nur theoretische, sondern ganz praktische Risiko, dass ein Kandidat zwar mehr Stimmen erhält als seine Mitbewerber, dass aber gleichwohl eine Mehrheit aller Wählerinnen und Wähler sich gegen ihn ausspricht. Das bilden einstufige Wahlverfahren in der bisherigen Form nicht ab.

Der nordrhein-westfälische Landtag hatte dies nicht hinreichend berücksichtigt, obwohl er sich des zunehmenden Risikos durch den politischen Wettbewerb in den Gemeinden grundsätzlich bewusst war. Auch hatte er unberücksichtigt gelassen, dass die Gemeindeordnung selbst in anderem Zusammenhang ein doppeltes Quorum eingeführt hat: So genügt für die Abwahl eines im Amt befindlichen Bürgermeisters die einfache Mehrheit der Wähler nämlich nicht. Dies müssen vielmehr zugleich auch mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten betragen. Der Gesetzgeber hatte sich also womöglich selbst in Widerspruch gesetzt.

Mit dem Urteil vom Freitag schreibt der Verfassungsgerichtshof seine Sperrklausel-Rechtsprechung fort. Sie hatte dem Gesetzgeber bereits intensive Beobachtungspflichten, Begründungs- und Dokumentationspflichten aufgetragen. Dies gilt ausdrücklich nun auch für die Entscheidung über den konkreten Wahlmodus.

Der VerfGH schließt dabei auch nach heutiger Rechtsprechung nicht aus, dass auf besser Prognose- und Begründungsbasis der Landtag erneut zur Abschaffung einer Stichwahl kommen könne. Dies ändere aber nichts daran, dass das Gesetz 2019 verfassungswidrig und daher nichtig sei.

Sondervotum durch Kommentator und zukünftigen Vizepräsidenten

Die Entscheidung des VerfGH erging mit knapper Mehrheit. Vier der sieben Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter stellten den Verfassungsverstoß fest und stellten damit den Rechtszustand vor dem 31.08.2019 und damit die Stichwahl wieder her. Drei Richter sprachen sich mit zum Teil unterschiedlicher Begründung dagegen aus. Prof. Dr. Dauner-Lieb, Prof. Dr. Heusch und Dr. Röhl sahen auch aktuell in der Abschaffung der Stichwahl weder einen Verstoß gegen das Demokratieprinzip, noch gegen die verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätze. Sie konnten sich aber in der Beratung des Senats nicht durchsetzen und fügten ihre Auffassung dem Urteil als Sondervotum bei. Erst vor wenigen Tagen war Prof. Dr. Heusch vom Landtag zum zukünftigen Vizepräsidenten des Verfassungsgerichtshofs gewählt worden, parallel erschien sein Kommentar zur Landesverfassung (Heusch/Schönenbroicher, Landesverfassung Nordrhein-Westfalen, 2. Auflage), der nun unmittelbar nach Erscheinen bereits einer Aktualisierung bedürfte.

Einhellig war der Senat der Meinung, dass Änderungen am konkreten Zuschnitt von Wahlbezirken nicht zu beanstanden waren. Zwar stellte das Gericht fest, dass je nach prozentualer Abweichung der Größe von Wahlbezirken der Landtag unterschiedlich intensiver Begründungspflichten unterliege, im konkreten Fall seien die Vorgaben für Neuzuschnitte aber nicht zu beanstanden.

Während vielfach in der NRW-Kommunalpolitik das Urteil bereits als Klarstellung begrüßt wurde, ist die Diskussion um Kosten und Notwendigkeit einer Stichwahl sicherlich nicht beendet. Der Landtag wäre aber gut beraten, würde er nicht ein weiteres Mal alten Wein in neue Schläuche gießen, sondern auch über die Zusammenfassung von erstem und zweitem Wahlgang etwa in einer Rangfolge oder Zustimmungswahl diskutieren. Modelle gäbe es durchaus, den Wählerwillen auch in einer Wahl deutlicher abzubilden und echte repräsentative Mehrheiten für Bürgermeister und Landräte sicherzustellen.

Der Autor Robert Hotstegs ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht in der Hotstegs Rechtsanwaltsgesellschaft, Düsseldorf und Autor des Handkommentars "Verfassungsbeschwerde.NRW" (ISBN 978-3-7481-5650-5).

Zitiervorschlag

VerfGH NRW zur Bürgermeister-Stichwahl: Mit den eigenen Waffen geschlagen . In: Legal Tribune Online, 20.12.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39377/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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