Die Debatte um sexuelle Belästigung von Frauen ebbt nicht ab, Hamburg will ein noch schärferes Sexualstrafrecht als der Bundesjustizminister. Was nach geltendem Recht strafbar ist und was geändert werden müsste, erklärt Alexander Stevens.
Was genau unter einer "sexuellen Belästigung" zu verstehen ist, da hat so ziemlich jeder Mensch seine ganz eigene Vorstellung. Einigkeit besteht lediglich darüber, dass die Grenze zwischen Distanzlosigkeit und sexueller Belästigung jedenfalls dann eindeutig überschritten ist, wenn "geschlechtliche Körperregionen" in unerwünschter Weise mehr als nur flüchtig berührt werden.
Im Übrigen empfinden einige Menschen bereits zweideutige Bemerkungen als sexuell belästigend, andere sexualisierte oder sexistische "Herrenwitze", wieder andere plumpe Angebote eindeutigen Inhalts. Und dann gibt es natürlich die hart umkämpften "zufälligen" Berührungen.
Eben weil die Auffassungen zur sexuellen Belästigung bis auf eindeutige Extremfälle weitgehend subjektiv geprägt sind und so weit auseinander gehen, hat der Gesetzgeber die sexuelle Belästigung bislang nicht unter Strafe gestellt. Eine allgemeingültige Definition der sexuellen Belästigung erscheint kaum möglich, aber eine rechtssichere gesetzliche Regelung muss ja unabhängig vom Einzelfall für jeden gleichermaßen gelten.
Spannen, Po und Brüste berühren: nicht strafbar
So bekommen sexuelle oder sexualisierte Handlungen nach der derzeitigen Rechtslage eine strafrechtliche Qualität erst dann, wenn sie eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreiten (§ 184g StGB). Zudem müssen sie entweder durch Ausnutzen einer mangelnden Willensbildung des Opfers (sexueller Missbrauch, §§ 174 ff Strafgesetzbuch, StGB) oder durch Gewalteinwirkung oder Bedrohung erfolgen (sexuelle Nötigung, vgl. § 177 StGB).
Wegen eines echten Sexualdelikts, einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung i.S.d. §§ 174 StGB ff., wird strafrechtlich also nur verfolgt, wer sein Opfer durch eine erhebliche sexuelle Handlung missbraucht oder nötigt, nicht aber "nur" belästigt. Moralisch belästigende Verhaltensweisen wie das Spannen, aber auch Berührungen von Po, Brüsten oder selbst im Schritt (oberhalb der Kleidung) und nicht zuletzt der plötzliche Kuss auf den Mund sind dagegen nach geltendem Recht nicht strafbar, da unter die derzeit geltenden Normen des Sexualstrafrechts nicht subsumierbar.
Bei überraschenden Handlungen fehlt es meist schon an einer Missbrauchs- oder Nötigungssituation. Viele sexuelle Handlungen sind auch nicht erheblich i.S.v. § 184 g StGB – und zwar nicht zuletzt angesichts der hohen Strafrahmen der "echten" Sexualdelikte. Im Fall einer Verurteilung drohen nämlich empfindliche Freiheitsstrafen von bis zu 15 Jahren.
Gesetzlicher Schutz vor sexueller Belästigung: nur am Arbeitsplatz
Einen eigenen Straftatbestand der "einfachen" sexuellen Belästigung kennt das Gesetz bislang nicht. Der Gesetzgeber hat sich bisher ganz bewusst dagegen entschieden, die einfache sexuelle Belästigungen unter den Schutz des Strafrechts zu stellen. Dem folgt die höchstrichterliche Rechtsprechung.
Der Bundesgerichtshof lehnt es konsequenterweise ab, durch eine ausufernde Auslegung beispielsweise der Beleidigung (§ 185 StGB) wegen angeblicher Verletzung der Geschlechtsehre ein nicht kodifiziertes kleines Sexualstrafrecht zu schaffen. Die Beleidigungsdelikte stellen eben kein Substitut zur bewusst nicht als Straftatbestand sanktionierten "einfachen" sexuellen Belästigung dar, zumal dogmatisch betrachtet das gewöhnliche Erscheinungsbild einer sexuellen Handlung selten mit einem Angriff auf die Ehre ist. . Auch moralisch nicht zu tolerierende Handlungen in bestimmten Konstellationen wie z. B. ein überraschendes Begrapschen sind also strafrechtlich nicht sanktionierbar.
Einzig im Arbeitsrecht existiert bislang überhaupt ein effektiver rechtlicher Schutz vor sexuellen Belästigungen. Derartige Verletzungen der arbeitsvertraglichen Pflichten haben regelmäßig entsprechende arbeitsrechtliche Sanktionen zur Folge. Zudem gilt bei sexuellen Belästigungen im Zusammenhang mit der Berufsausübung das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, wodurch der Arbeitgeber zu Sanktionen bis hin zur sofortigen Kündigung gezwungen werden kann.
Jenseits vom Arbeitsplatz existiert aber eine weite rechtliche Grauzone. Denn freilich ist die vom BGH abgelehnte weite Auslegung der sogenannten "Sexualbeleidigung" bei den Amtsgerichten dennoch nach wie vor ständige Praxis. Darüber hinaus gibt es auch genügend Fälle, in denen eine niederschwellige, nicht im Sinne des § 184g StGB "erhebliche" sexuelle Belästigung dennoch als "echtes" Sexualdelikt mit den damit verbundenen äußerst harten und in Relation zur Tatschwere schlicht unverhältnismäßigen Strafen verfolgt wird. Oft entscheidet allein das subjektive moralische Empfinden der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder des Gerichtes, ob aus ein und demselben Vorgang eine Verfahrenseinstellung aus rechtlichen Gründen oder eine harte Verurteilung folgt. Soweit der Status quo.
2/2: Österreichs Straftatbestand gegen sexuelle Belästigung
Die Bundesregierung möchte nun, auch als Folge des massiven Öffentlichkeitsdrucks nach den Übergriffen in Köln in der Silvesternacht durch ein schärferes Strafrecht schnelle Abhilfe schaffen. Hamburg will über die Pläne aus dem Bundesjustizministerium sogar noch hinausgehen und das fehlende Einverständnis des Geschädigten zum Anknüpfungspunkt für Straftatbestände machen.
Beide Unterfangen kranken an den bereits aufgezeigten Unwägbarkeiten, die mit der sexuellen Belästigung einhergehen: Wo soll man eine klare Linie ziehen zwischen strafbarer Handlung und gerade noch sozialadäquaten Verhaltensweisen?
In Österreich gilt seit einiger Zeit ein Strafgesetz gegen sexuelle Belästigung. Das Strafmaß ist mit einer Höchststrafe von sechs Monaten durchaus moderat. Könnte ein solches Gesetz auch für den deutschen Gesetzgeber eine gangbare Lösung sein, um wildgewordene Grapscher endlich strafrechtlich zu bändigen?
Die Formulierung des Tatbestandes allerdings fiel bei dem im Nachbarland so vorbildlich kodifizierten Gesetz allerdings ersichtlich schwer. Er bestraft nun denjenigen, der "eine Person durch eine geschlechtliche Handlung an ihr oder vor ihr unter Umständen, unter denen dies geeignet ist, berechtigtes Ärgernis zu erregen, belästigt" oder wer "eine andere Person durch eine intensive Berührung einer der Geschlechtssphäre zuzuordnenden Körperstelle in ihrer Würde verletzt".
Die Kasuistik hierzu darf mit Spannung erwartet werden. Eine derart schwammige Gesetzesformulierung bietet ersichtlich mehr Auslegungsspielraum als Rechtssicherheit; mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot (lex stricta und lex certa) ist sie kaum in Einklang zu bringen. Wann ist eine Berührung intensiv? Was ist eine geschlechtliche Handlung, was genau ein Ärgernis? Wie lautet die Definition der "Geschlechts-Sphäre"?
Die Folgen sexueller Belästigung: mal so, mal so
Ist die Hand am Oberschenkel ein strafbarer Eingriff oder bewegt sie sich noch im Toleranzspielraum außerhalb der Geschlechts-Sphäre? Wann wird bei der Anbahnung geschlechtlicher Kontakte die Grenze zwischen dem Mut zum ersten Schritt und einer vorsätzlichen strafbaren Handlung überschritten? Kommt es dabei primär auf die subjektiven Sicht des sich belästigt fühlenden Opfers an? Wann ist denn nun der richtige Moment, um beim Date die Hand um die Schultern zu legen, um sich so (endlich?) näher zu kommen? Muss man vor dem ersten Kuss zur Sicherheit nachfragen, um sich nicht strafbar zu machen?
Von Bestimmtheit kann bei Rechtsbegriffen wie den in der österreichischen Norm verwendeten jedenfalls keine Rede sein. Gleichzeitig kann es bei der derzeitigen Rechts- und Gesetzeslage in Deutschland mangels Rechtssicherheit auch nicht bleiben. Tätliche Grapschereien werden je nach Einzelfall entweder gar nicht oder unverhältnismäßig hart als echte Sexualdelikte bestraft – häufig je nach dem Gericht, vor dem sie landen. Momentan entscheiden deutsche Gerichte trotz der mangelnden gesetzlichen Grundlage bei sexueller Belästigung mal für, mal gegen den Angeklagten - letzteres mit fragwürdiger Auslegung der Beleidigungs- und Nötigungstatbestände und damit juristisch schlicht falsch.
Diese Situation ist weder für die Opfer noch für die Beschuldigten einer sexuellen Belästigung tragbar. Die Geschädigten brauchen effektiven Schutz vor Eingriffen in ihre Sexualität, sowie die Rechtssicherheit, sich gegen sexuelle Übergriffe und Angriffe wehren zu dürfen. Gleichzeitig muss in einem Rechtsstaat aber auch klar sein, welche Verhaltensweisen (noch) erlaubt sind und welche zur Strafbarkeit führen können.
Ein Jahr Gefängnis für einen Oktoberfest-Grapscher?
Die Herausforderung besteht also darin, eine angemessene Lösung zwischen dem Schutz der eigenen Sexualität und dem wilden Pönalisieren bloßer Geschmacklosigkeiten zu finden. Ein schwieriges Unterfangen.
Der vieldiskutierte und leider oft völlig unkritisch aufgegriffene Vorschlag, den Tatbestand der sexuellen Nötigung nach § 177 Abs. 1 StGB auch auf Fälle ohne Gewalt oder Drohung auszudehnen, ist aber mit Sicherheit der falsche Weg. Die Mindeststrafe fängt bei einem Jahr an.
Es hat seinen Grund, dass der Gesetzgeber sich dafür entschieden hat, gerade denjenigen besonders hart zu bestrafen, der eben nicht bloß Überraschung oder Distanzlosigkeit des Opfers ausnutzt, sondern sich sogar körperlicher Gewalt und Drohung bedient, um an seine sexuellen Ziele zu gelangen - bei der Unterscheidung zwischen Diebstahl und Raub ist das nicht anders. Mindestens (!) ein Jahr Gefängnis für den typischen "Oktoberfest-Grapscher" mag aus Sicht eines verärgerten Opfers wünschenswerter erscheinen als dessen Straflosigkeit. Rechtspolitisch aber ist das blanker Irrsinn.
Um zu einer angemessenen und gerechten Lösung zu kommen, muss die Debatte über die Frage des Ob und des Wie einer strafbewährten sexuellen Belästigung differenziert und frei von subjektiver Moral geführt werden. Es bleibt abzuwarten, ob das in der moralisch nach den Ereignissen in Köln aufgeheizten Debatte überhaupt möglich ist.
Der Autor Dr. Alexander Stevens ist Rechtsanwalt in München. Sein Tätigkeitsschwerpunkt ist ist die Verteidigung in Sexualstrafsachen.
Dr. Alexander Stevens, Sexuelle Belästigung: In Deutschland nur bei der Arbeit strafbar . In: Legal Tribune Online, 22.02.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18533/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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