Bis heute ist der Schwangerschaftsabbruch im deutschen Recht nicht als medizinische Dienstleistung, sondern als Tötungsdelikt geregelt. Was das für die betroffenen Frauen sowie medizinisches Personal bedeutet, beschreibt Ulrike Lembke.
Die Forderung "Weg mit § 218!" scheint direkt den 1970er Jahren zu entstammen und nichts mit der heutigen Realität zu tun zu haben. In Gießen steht ab Freitag eine Ärztin vor Gericht, weil sie auf ihrer Website den Schwangerschaftsabbruch neben anderen medizinischen Dienstleistungen aufgeführt hat. Gemäß § 219a StGB drohen ihr dafür eine Geldstrafe oder bis zu zwei Jahre Haft.
Der Schwangerschaftsabbruch ist gemäß §§ 218ff Strafgesetzbuch (StGB) noch immer eine Straftat. Er ist nicht im Recht der medizinischen Dienstleistungen geregelt, sondern im StGB im Abschnitt zu den Tötungsdelikten. Auch Information über die Dienstleistung ist strafbar.
Diese Kriminalisierung hat erhebliche praktische Konsequenzen. Der Schwangerschaftsabbruch ist eine medizinische Dienstleistung, die von immer weniger Arztpraxen und Kliniken überhaupt angeboten wird. Nicht nur im ländlichen Raum müssen betroffene Frauen oft weite Wege auf sich nehmen. Die Vornahme des Schwangerschaftsabbruchs entspricht oft nicht dem medizinischen Standard. Die Kosten werden grundsätzlich nicht von den Krankenkassen übernommen. Und schließlich fühlen religiöse Fundamentalisten sich berufen, betroffene Frauen unzumutbar zu belästigen, Beratungsstellen zu belagern sowie Ärztinnen und Ärzte nachdrücklich in ihrer Arbeit zu behindern.
Auf internationaler Ebene, aber auch in Deutschland gültig, garantiert Art. 16 Abs. 1(e) der UN-Frauenrechtskonvention Frauen gleiches Recht auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über Anzahl und Altersunterschied ihrer Kinder sowie auf Zugang zu den für die Ausübung dieses Rechts erforderlichen Informationen und Mitteln. Verschiedene UN-Ausschüsse, insbesondere der Ausschuss für ökonomische, soziale und kulturelle Rechte, sehen das Menschenrecht auf reproduktive Gesundheit als wesentlichen Bestandteil des allgemeinen Rechts auf Gesundheit an.
Dies umfasst auch den ungehinderten tatsächlichen Zugang zu entsprechenden medizinischen Dienstleistungen sowie Informationen hierüber, ihre Finanzierbarkeit und Qualität nach medizinischen Standards, die Möglichkeit der Familienplanung, das Angebot von Sexualkunde, finanzierbare bzw. kostenfreie Verhütungsmittel, sicheren und legalen Schwangerschaftsabbruch sowie dessen Nachsorge und vieles mehr. Davon ist Deutschland derzeit weit entfernt.
Kein wohnortnahes Angebot von Schwangerschaftsabbrüchen
Zwar sind die Länder laut § 13 Abs. 2 Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) verpflichtet, ein ausreichendes ambulantes und stationäres Angebot der medizinischen Dienstleistung des Schwangerschaftsabbruchs zu garantieren. Doch zum einen können sie Kliniken nicht zwingen, eine Leistung anzubieten, die keine Kassenleistung ist – und das ist der Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich nicht. Zum anderen bieten viele der – auch aus öffentlichen Mitteln finanzierten – Kliniken grundsätzlich keinen Schwangerschaftsabbruch an, so die 420 Kliniken in katholischer Trägerschaft sowie die einiger privater Träger.
Zudem darf nach der deutschen Regelung in § 12 SchKG jede Person, inklusive ärztlichem und medizinischem Personal, ohne Angabe von Gründen die Beteiligung an einem Schwangerschaftsabbruch (außer bei Lebensgefahr für die Schwangere) verweigern. Dabei hat der UN-Ausschuss für die Frauenrechtskonvention immer wieder betont, dass Krankenhäuser ungewollt schwangere Frauen nicht unter Verweis auf entsprechende Vorbehalte ihres Personals abweisen dürfen.
Die gesetzwidrige Unterversorgung führt zu langen Wegen. Da über 60 Prozent der Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen, bereits ein oder mehrere Kinder haben, muss oft auch eine Kinderbetreuung organisiert werden. Dies erschwert es, einen Schwangerschaftsabbruch vertraulich zu halten, und verursacht zusätzliche Kosten. In naher Zukunft droht selbst in Ballungsgebieten eine Unterversorgung. Denn Ärztinnen und Ärzte im Rentenalter, die bisher ambulante Schwangerschaftsabbrüche angeboten haben, finden keine Nachfolge.
Hetze und Verleumdung gegen Ärztinnen und Ärzte
Zum Nachwuchsproblem dürfte auch beitragen, dass Ärztinnen und Ärzte nicht nur abstrakt von Kriminalisierung bedroht sind. Sie werden verleumdet, belästigt und mit Anzeigen überzogen. Sog. Lebensschützer führen online Listen mit "Abtreibungsärzten", die sie als "Tötungsspezialisten" verunglimpfen, und sie verteilen Flugblätter, in denen sie Schwangerschaftsabbrüche mit dem Holocaust gleichsetzen. Im November 2015 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass beides von der Meinungsfreiheit gedeckt sei.
Wesentlicher Hintergrund waren zum einen die Regelungen in §§ 218 ff StGB. Die Gerichtsmehrheit fand die Rechtslage so verwirrend, dass sie entschied, es müsse sich um ein hoch komplexes und hoch umstrittenes Thema handeln, weshalb der Meinungsfreiheit der Vorrang gebühre. Zum anderen zeigte die beklagte Bundesregierung bemerkenswerte Bereitschaft, den Prozess zu verlieren. Sie organisierte keinerlei Unterstützung, während der Kläger drei weltweit agierende Anti-Abtreibungs-Organisationen (ADF, ALfA, ECLJ) an seiner Seite versammeln konnte, deren Argumente sich im Urteil wiederfinden.
Die Richterinnen Helena Jäderblom und Ganna Yudvinska konnten sich nicht mit der Auffassung durchsetzen, dass kein öffentliches Interesse existiert, im Einklang mit der Rechtsordnung arbeitende Gynäkologen durch Holocaust-Vergleiche zu diskreditieren. Die betroffene Arztpraxis musste den Standort wechseln. Ungewollt Schwangere hatten vor dem EGMR gar keine Stimme.
2/3: Medizinische Standards und freie Arztwahl
Die Kriminalisierung wirkt sich auch auf die medizinische Qualität des Schwangerschaftsabbruchs aus. In der ärztlichen Ausbildung oder auch nur der gynäkologischen Facharztausbildung kommen die verschiedenen Methoden des Schwangerschaftsabbruchs nicht vor. Für Notfälle gelehrt wird nicht selten nur die besonders belastende und risikobehaftete Ausschabung. Dabei haben sich schonendere Absaugmethoden selbst in Staaten ohne hoch entwickelte medizinische Infrastruktur weitgehend durchgesetzt.
Auffällig ist ferner die ausgesprochen geringe Quote medikamentöser Abbrüche in Deutschland. Die extrem aufwendige verwaltungstechnische Abwicklung dieser Methode ist nur eine mögliche Erklärung. Insgesamt scheint es wenig Bewusstsein dafür zu geben, dass auch die medizinische Dienstleistung des Schwangerschaftsabbruchs dem medizinischen Standard zu genügen hat.
Die betroffenen Frauen wissen aber nicht, welche Rechte sie in Bezug auf den Schwangerschaftsabbruch haben. Sie sind oft schon froh, wenn sie überhaupt eine Arztpraxis oder Klinik finden, denn das StGB verbietet auch jegliche Information über das entsprechende medizinische Angebot.
Noch 2013 hat das Oberlandesgericht Oldenburg geurteilt, es sei verbotene Beihilfe zum Schwangerschaftsabbruch, wenn ein Arzt einer zum Abbruch entschlossenen Patientin die im Internet mühelos ermittelbare Adresse einer niederländischen Abtreibungsklinik auf einen Zettel schreibt (Urt. v. 18.02.2013, Az. 1 Ss 185/12). Mit Blick auf die rechtliche Situation und den medizinischen Standard fahren nicht wenige ungewollt schwangere Frauen inzwischen aber (wie vor 50 Jahren) in die Niederlande, um einen Schwangerschaftsabbruch legal und sicher vornehmen zu lassen.
3/3: Gehsteigbelästigung ungewollt schwangerer Frauen
In den Niederlanden ist ein Abbruch legal und unproblematisch möglich. In Deutschland hingegen positionieren sich religiöse Fundamentalisten vor dem Eingang von Beratungsstellen, Arztpraxen oder Kliniken. Dort fragen sie ihnen unbekannte Frauen nach einer Schwangerschaft, fordern sie auf, "ihr Kind leben zu lassen" und drängen ihnen Bilder von zerstückelten Föten und Plastikembryonen auf. Der Umgang mit diesem neuen Phänomen der Gehsteigbelästigung ist noch uneinheitlich.
In München hatte die Ordnungsbehörde schließlich das Verbot einer ununterbrochenen Gehsteigbelästigung unmittelbar vor einer Arztpraxis angeordnet. Das Verwaltungsgericht (VG) München (Urt. v. 12.05.2016, Az. M 22 K 15.4369) sah allerdings keinen hinreichenden Beweis erbracht, dass diese Belästigung unzumutbar war. Statt dies kurz festzustellen, wurde auf mehr als zwanzig Seiten Urteilsbegründung im Wesentlichen die Argumentation der Kläger inklusive Papst-Zitats wiedergegeben. Da in diesem Fall keine Bilder zerstückelter Föten gezeigt wurden, klassifizierte das VG München die Belästigung überdies als "sensibles Beratungsmodell".
Weitaus überzeugender ist die rechtliche Argumentation des VG Freiburg (Urt. v. 04.03.2011, Az. 4 K 314/11), bestätigt vom Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg (Urt. v. 11.10.2012, Az. 1 S 36/12; Urt. v. 10.06.2011, Az. 1 S 915/11) und vom Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 22.07.2013, Az. 6 B 3/13). Es ging um das Verbot einer Gehsteigbelästigung rund um die Uhr unmittelbar vor der einzigen Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle in freier Trägerschaft. Die Gerichte konstatierten eine schwerwiegende Persönlichkeitsrechtsverletzung der ungewollt schwangeren Frauen. Die Meinungsfreiheit beinhalte nicht, anderen die eigene Meinung derart aufzudrängen.
Aufzwingen von religiösen Überzeugungen
Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die persönliche Lebenssphäre. Eine Schwangerschaft ist, jedenfalls im Frühstadium, der Intimsphäre zuzuordnen, was einen besonders intensiven Schutz bedingt. Ebenso ist die Entscheidung zum Abbruch einer Schwangerschaft höchstpersönlich. Die Gehsteigbelästigung versucht daher ein Eindringen in die innerste Gedanken- und Gefühlswelt. Da die Beratung vor dem Abbruch nach §§ 218a Absatz 1, 219 StGB verpflichtend ist und nur wenige Arztpraxen und Kliniken einen Schwangerschaftsabbruch anbieten, können die betroffenen Frauen auch nicht ausweichen.
Die Gegner können dagegen auch anderswo im öffentlichen Raum ihrer (religiösen) Überzeugung Ausdruck verleihen. Die Belästigung können sie aber weder mit der Religions- noch Meinungsfreiheit rechtfertigen. Die Religionsfreiheit schützt zwar das eigene Leben nach religiösen Überzeugungen, aber nicht, anderen diese religiöse Lebensweise aufzuzwingen. Auch die Meinungsfreiheit schützt das Haben und Äußern von Meinungen, nicht aber das Aufzwingen der eigenen Meinung an – überdies besonders verletzliche – Personen.
Der EGMR sah es als zulässig an, entsprechende Aktivitäten auf dem Parkplatz einer Abtreibungsklinik zu unterbinden. Und nach dem EGMR können sich Apotheker nicht auf ihre Religionsfreiheit berufen, um den Verkauf von Verhütungsmitteln zu verweigern.
UN bezieht Position für die Frauen
Der UN-Ausschuss für ökonomische, soziale und kulturelle Rechte betont den Zusammenhang zwischen Gleichberechtigung, Frauenrechten und reproduktiver Gesundheit und sieht konkreten Handlungsbedarf. Ebenso hat jüngst der UN-Ausschuss für die Frauenrechtskonvention gefordert, dass Deutschland "den Zugang zu sicherem Schwangerschaftsabbruch sicherstellt, ohne der Frau eine verpflichtende Beratung und eine dreitägige Wartezeit aufzuerlegen, welche von der WHO für medizinisch nicht erforderlich erklärt wurde, und gewährleistet, dass solche Eingriffe von der Krankenkasse übernommen werden."
Es ist an der Zeit, wieder über §§ 218ff StGB zu sprechen. Und im Lichte der Menschenrechte zu handeln.
Prof. Dr. Ulrike Lembke hat den Lehrstuhl für Gender im Recht an der FernUniversität in Hagen inne und ist Vorsitzende des Arbeitsstabes "Reproduktive Gesundheit und reproduktive Rechte" des Deutschen Juristinnenbundes.
Prof. Dr. Ulrike Lembke , Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland: Auf nach Holland . In: Legal Tribune Online, 23.11.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25679/ (abgerufen am: 02.05.2024 )
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