Bei "dieser Empörung, die ich gut verstehen kann", will er die Leute abholen. Am Donnerstag erscheint sein Buch "Das Ende der Gerechtigkeit – Ein Richter schlägt Alarm". Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes.
LTO: Herr Gnisa, morgen erscheint Ihr Buch "Das Ende der Gerechtigkeit". Ist das eine private Veröffentlichung oder ein Buch des Deutschen Richterbundes (DRB)?
Gnisa: Das ist mein persönlicher Zwischenruf. Das Buch ist mit keinem Gremium des DRB abgesprochen. Aber natürlich nimmt man mich öffentlich vor allem als Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes wahr. Das lässt sich nicht völlig trennen. Und es sind ja auch Forderungen des DRB eingeflossen.
LTO: Wollten Sie schon immer ein Buch über die Krise der Justiz schreiben?
Gnisa: Nein. Es war auch gar nicht meine Idee, sondern die des Literaturagenten Stefan Linde. Ich hatte in Trier einen Vortrag über die "Erosion des Rechtsstaats" gehalten, er hatte davon erfahren und mich dann kontaktiert und überzeugt.
LTO: Im Nachwort des Buches danken Sie dem Herder-Verlag für den "Mut", dieses Buch zu veröffentlichen. Ist es in Deutschland gefährlich, über die Justiz zu publizieren?
Gnisa: Nein. Aber es ist ökonomisch mutig. Ich sage ganz offen, dass wir mit dem Buchprojekt auch Absagen erhalten haben. Es gab Verlage, die glauben, dass sich ein Buch über Rechtsstaat und Justiz nicht verkauft. Dabei ist es, soweit ich sehe, die erste umfassende Darstellung des Themas von einem Justiz-Insider.
LTO: Haben Sie das Buch absichtlich kurz vor der Bundestagswahl veröffentlicht?
Gnisa: Ja. So ein Debattenbuch muss in einer Phase auf den Markt kommen, in der verstärkt politisch diskutiert wird.
"Wenn man sofort im Juristendeutsch spricht, hört ja keiner zu"
LTO: Sehen Sie "Das Ende der Gerechtigkeit" als seriöses Sachbuch oder als Kampfschrift?
Gnisa: Es soll ein ebenso seriöses wie engagiertes Sachbuch sein. Es soll die Leute aber auch fesseln, sie sollen es gerne lesen.
LTO: Deshalb der reißerische Titel "Das Ende der Gerechtigkeit"?
Gnisa: Der Arbeitstitel war "Justiz - ein Nachruf". Das war zu negativ. Der jetzige Titel soll nicht bedeuten, dass alles ungerecht ist, sondern dass wir aufpassen müssen; die Gerechtigkeit könnte sonst Schaden nehmen.
LTO: Warum stellen Sie ausgerechnet die Gerechtigkeit heraus? Im Buch betonen sie mehrfach, dass man Recht und Gerechtigkeit klar unterscheiden müsse. Gerechtigkeit sei ein juristisch "unerhebliches" "moralisches Konstrukt"...
Gnisa: Man muss die Worte verwenden, die auch die Menschen verwenden. Wenn man sofort im Juristendeutsch spricht, hört ja keiner zu. Im Buch erkläre ich dann, dass Gerechtigkeit im Rechtsstaat immer über demokratisch legitimierte Gesetze definiert wird.
LTO: Auch sonst sind Sie nicht zimperlich: "Wie es aussieht, haben das Recht und seine sorgsame Pflege außerhalb der Justiz nur noch wenige Fürsprecher." Oder: "Ablehnung prägt den Umgang unserer Politiker mit dem Recht" Glauben Sie das wirklich?
Gnisa: Das sind Sätze aus der Einleitung, die versucht, den Finger in die Wunde zu legen. Es macht keinen Sinn, ein Sachbuch zu schreiben, das die Probleme zuschüttet.
LTO: Im ersten Teil geht es viel um Innenpolitik - Abschiebungen, Terror, kriminelle Familien-Clans - und weniger um die Justiz....
Gnisa: Es ist ja auch kein reines Justiz-Buch, sondern ein Buch über den Rechtsstaat. Und die Leute verlieren das Vertrauen in den Rechtsstaat, wenn sie das Gefühl haben, dass er hilflos ist und sie nicht mehr schützt. Bei dieser Empörung, die ich gut verstehen kann, will ich die Leute abholen.
2/2: "Schnelle und konsequente Abschiebungen, wo dies möglich ist"
LTO: Härte fordern Sie vor allem bei Abschiebungen. Warum?
Gnisa: Weil wir hier ein großes offensichtliches Vollzugsdefizit haben. Der Staat setzt das Recht oft nicht durch, aus Angst, dass er als unmenschlich kritisiert wird. Dabei werden alle humanitären Argumente im Asylverfahren und vor Gericht gründlich geprüft. Wenn eine Entscheidung dann rechtskräftig ist, muss sie auch durchgesetzt werden.
LTO: Und wenn sich die Sicherheitslage verschlechtert, wie in Afghanistan?
Gnisa: Das muss natürlich geprüft werden. Aber solche Veränderungen sind auch vor allem deshalb relevant, weil die Abschiebungen viel zu lange verzögert wurden. Ich plädiere für schnelle und konsequente Abschiebungen, wo dies möglich ist. Und wo es nicht möglich ist, da müssen die Leute eine sichere Perspektive bei uns bekommen. Ich halte nichts von Ketten-Duldungen. Wer nach fünf Jahren immer noch hier ist, braucht einen sicheren Aufenthaltstitel, damit er an Sprachkursen und anderen Integrationsmaßnahmen teilnehmen kann.
LTO: Gilt das auch für die kurdisch-libanesischen Clans von Duisburg-Marxloh?
Gnisa: Natürlich. Sie können nicht abgeschoben werden, weil kein Land sie als eigene Staatsbürger anerkennt. Deshalb sind sie dauerhaft hier, aber nur geduldet. Da sieht man doch, wie so etwas zu Kriminalität und zur Bildung von Parallelgesellschaften führt. Da müssen wir pragmatischer werden.
LTO: Die Politik will in Deutschland die Vorratsdatenspeicherung wieder einführen. Aber der Europäische Gerichtshof und das Oberverwaltungsgericht Münster haben Bedenken. Sie schreiben: "Die Vorratsdatenspeicherung darf nicht kippen." Fallen Sie der Justiz da nicht in den Rücken?
Gnisa: Als DRB-Vorsitzender halte ich mich bei der Bewertung von Gerichtsurteilen zurück.
LTO: Deshalb kritisieren Sie lieber die Politik?
Gnisa: Da, wo sie es verdient hat, ja.
LTO: Sie haben der Politik rechtswidriges Verhalten vorgeworfen. Ein Beispiel ist der Ankauf sogenannter Steuer-CDs...
Gnisa: Ja, der Staat kauft hier Daten, die in der Schweiz oder in Liechtenstein illegal beschafft wurden. Er verhält sich also wie ein Hehler. So kann ein Staat kein Vorbild für die Bürger sein.
LTO: 2015 ist der Ankauf von Steuer-CDs im Strafgesetzbuch legalisiert worden, bei der Schaffung des neuen Delikts "Datenhehlerei". Ist damit nicht alles geklärt?
Gnisa: Auch wenn die Beamten sich hier nicht mehr strafbar machen, so bleibe ich doch bei meiner Kritik: Es kann nicht sein, dass der Staat Anreize setzt, damit in anderen Staaten Straftaten begangen werden. So etwas schadet dem Rechtsstaat.
"Wenn neue Strafvorschriften eingeführt werden, sind alte abzuschaffen."
LTO: Was sind Ihre drei wichtigsten Forderungen für die Rettung des Rechtsstaats?
Gnisa: Erstens: Die Justiz muss personell wieder ausreichend ausgestattet werden. Es fehlen bundesweit 2.000 Richter und Staatsanwälte. Und es fehlt Unterstützungspersonal. Es macht keinen Sinn, dass die Richter alles selbst machen müssen. Zweitens: Wir müssen die Selbstverwaltung der Justiz einführen und das Weisungsrecht für die Staatsanwaltschaften abschaffen. Drittens: Die Politik sollte nicht ständig nach neuen Gesetzen rufen. Wenn neue Strafvorschriften eingeführt werden, sind alte abzuschaffen.
LTO: Fangen wir hinten an: Welche Strafvorschriften halten sie für verzichtbar?
Gnisa: Um eine herauszugreifen, die der Justiz viel Aufwand macht: Schwarzfahren. Es kann nicht sein, dass die Justiz Unmengen kleiner Verfahren abwickeln muss, nur weil die Verkehrsgesellschaften aus Kostengründen keine Zugangskontrollen zu den U-Bahnen einführen wollen.
LTO: Was ist mit Straßenbahnen, was ist mit Bussen?
Gnisa: Da werden sich auch technische Lösungen finden lassen. Das Justizministerium sollte eine Kommission einrichten, die Vorschläge für eine Entrümpelung des Strafgesetzbuchs macht.
LTO: Die Selbstverwaltung der Justiz haben Sie zu Ihren zentralen Forderungen gezählt. Hatten Sie nicht voriges Jahr, nach Ihrer Wahl zum DRB-Vorsitzenden, diesen Punkt zurückgestellt, weil er sowieso nicht durchsetzbar ist?
Gnisa: Das war vor der Zuspitzung der Situation in Polen und in der Türkei. Das hat mir vor Augen geführt, wie wichtig es ist, dass die Justiz eine eigenständige Gewalt im Staat ist. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Situation in Deutschland so demokratisch bleibt wie sie ist.
LTO: Es hat der Justiz in Polen und der Türkei nichts geholfen, dass es dort Justizverwaltungsräte gibt...
Gnisa: Das hat den Durchgriff der Exekutive aber zumindest gehemmt. Wenn die AfD in einem deutschen Bundesland die Wahl gewinnt und den Justizminister stellt, könnte er mit dem Austausch weniger Schlüsselpositionen die Justiz unter Druck setzen. Hier müssen wir dringend Bremsen einbauen.
Jens Gnisa, "Das Ende der Gerechtigkeit - Ein Richter schlägt Alarm", Herder, 288 Seiten. 24 Euro
Jens Gnisa ist Direktor des Amtsgerichts Bielefeld und seit 2016 Vorsitzender des DRB.
Das Interview führte Christian Rath.
Christian Rath, Jens Gnisa über Justiz und Rechtsstaat: "Der Staat setzt das Recht oft nicht durch" . In: Legal Tribune Online, 16.08.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23977/ (abgerufen am: 28.04.2024 )
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