Zu den Protesten gegen den G20-Gipfel ergehen seit dem Wochenende Gerichtsentscheidungen wie am Fließband. Das Versammlungsrecht ist keine einfache Materie, die Sachverhalte sind undurchsichtig. Erklärungen gibt Klaus-Ferdinand Gärditz.
LTO: Herr Professor Gärditz, die Richter in Hamburg arbeiten schon Tage vor Beginn des Gipfeltreffens in Hamburg, auch am Wochenende, um die Anträge von Gegnern des G20-Gipfels und der Polizei abzuarbeiten. Wie also kann es dazu kommen, dass sich die Lage jetzt so zuspitzt?
Prof. Dr. Klaus-Ferdinand Gärditz: Offenbar nehmen viele an, Versammlungen müssten vorher genehmigt werden. Das ist nach dem Versammlungsgesetz (VersG) aber nicht der Fall. Das führt zu den ersten Missverständnissen, eine Versammlung ist gerade nicht genehmigungspflichtig; sie bedarf nur einer vorherigen Anmeldung nach § 14 VersG. Diese Anmeldung dient lediglich dazu, dass sich die Versammlungsbehörde rechtzeitig vorbereiten und möglichen Gefahren entgegentreten kann - und zwar auch mit genügend angemessen ausgestattetem Personal vor Ort.
LTO: Wenn die Bürger sich aber versammeln dürfen, ohne dass dies zu genehmigen wäre, wo liegt dann jetzt in Hamburg das Problem?
Gärditz: Sowohl von den erwarteten Teilnehmern einer Versammlung als auch von ihren Modalitäten können Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen. Diese können nach § 15 VersG im Rahmen der Verhältnismäßigkeit so genannte Auflagen oder als Ultima Ratio sogar ein Versammlungsverbot rechtfertigen. So kann die Polizei Anordnungen erlassen, um Anwohner zu schützen oder die Sicherheit während des Gipfels zu gewährleisten, indem etwa bestimmte Orte gesperrt werden, Schutzabstände einzuhalten sind oder bestimmte gefährliche Gegenstände wie Glasflaschen, Pflastersteine, brennbare Flüssigkeiten, Schutzwaffen nicht mitgeführt werden dürfen.
Schlafen als Versammlung
LTO: Einer der Proteste findet gerade im Hamburger Entenwerder Elbpark statt. Die Aktivisten möchten sich dort über mehrere Tage versammeln und hatten geplant, dort auch zu übernachten. Das Verwaltungsgericht (VG) Hamburg hatte das Camp zunächst erlaubt, nun dürfen die Demonstranten doch nicht ihre Schlafzelte aufstellen. Woran kann das liegen?
Gärditz: Genau ist das nur zu beurteilen, wenn man die örtlichen Begebenheiten kennt. Auch zu den tatsächlichen Geschehnissen gibt es unterschiedliche Berichte. Unabhängig von den konkreten Vorkommnissen in den letzten Tagen vor Ort ist es aber so, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Hinblick auf den G20-Gipfel gerade entschieden hat, dass auch Übernachtungen vom Versammlungsrecht nach Art. 8 Grundgesetz (GG) gedeckt sein können. Die Betonung liegt auf "können". Die Entscheidung aus Karlsruhe war ein Eilverfahren und das BVerfG hat das Protestcamp nur vorsorglich den Regeln des Versammlungsrechts unterstellt.
LTO: Was bedeutet das konkret?
Gärditz: Nun, die Demonstranten können sich zwar auf ihr Versammlungsrecht berufen, weil vorläufig nach der Anordnung des BVerfG "grundrechtsfreundlich" unterstellt wird, dass es sich nach dem Gesamtbild um eine Versammlung im Sinne der Versammlungsfreiheit handelt. Eine Versammlung ist jedoch – wie jedes Grundrecht – nicht schrankenlos gewährleistet. Denn auch die Versammlungsfreiheit kann auf gesetzlicher Grundlage im Rahmen der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden. Nach § 15 VersG kann die zuständige Behörde eine Versammlung verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Ein Verbot erfordert dann aber eine saubere Verhältnismäßigkeitsprüfung. Insbesondere ist sorgfältig zu prüfen, ob mögliche Gefahren, die von Störern ausgehen, wie etwa Gewalttaten, überhaupt den friedlichen Versammlungsteilnehmern zugerechnet werden können. Und wenn nein, ob sich die Gefahr dann nicht gezielter durch Maßnahmen gegen die Störer unterbinden ließe.
2/2: Zelte können untersagt werden
LTO: Die Polizei stört sich offenbar insbesondere an den geplanten Übernachtungen in den Protestcamps.
Gärditz: Das darf sie grundsätzlich auch. Das BVerfG hatte bereits in dem Eilverfahren mitgeteilt, dass die Behörden Zelte und Einrichtungen untersagen können, die allein der Beherbergung von Personen dienen sollen, welche an einer der zahlreichen anderen Versammlungen teilnehmen wollten. Die Lage hierzu scheint derzeit jedoch sehr unübersichtlich und Polizei sowie Verwaltungsgerichte müssen, wie die Kette an Eilentscheidung zeigt, ein breites Spektrum möglicherweise zusammenhängender Szenarien im Blick behalten.
LTO: Dann können Protestcamps mit Übernachtungen generell verboten werden?
Gärditz: Nach dem BVerfG ist zu unterstellen, dass es sich um eine Versammlung handelt. Dies bedeutet aber nicht, dass keine Verbote möglich wären, wenn sich anders die öffentliche Sicherheit nicht gewährleisten lässt. Auch das BVerfG verlangt hier einen maßgeschneiderten Interessenausgleich zwischen den Versammlungsteilnehmern und der öffentlichen Sicherheit. Dabei geht es vor allem um das Design von Auflagen. Im Einzelnen hängt dies von den tatsächlichen Verhältnissen vor Ort ab. Und danach können Übernachtungen jedenfalls an bestimmten Orten notfalls auch generell verboten werden.
Neue Verfügung durch Polizei stets möglich
LTO: Zu den Geschehnissen am Sonntag in Entenwerder gibt es - wie Sie schon sagten - sehr unterschiedliche Berichte, die kaum zu verifizieren sind. Daher einmal folgenden Sachverhalt unterstellt: Es gäbe eine Entscheidung eines VG, nach der die Errichtung eines Camps von den Behörden zu dulden sei. Die Polizei hielte sich aber nicht an diese Entscheidung, sondern hindere die Aktivisten am Aufbau des Camps. Wie wäre dies rechtlich zu beurteilen?
Gärditz: Ein solches Verhalten der Polizei kann durchaus rechtskonform sein. Das VG hat nur die aufschiebende Wirkung gegen eine Verbotsverfügung wiederhergestellt. Es hat aber nicht verboten, eine neue Verfügung zu erlassen, wenn sich etwa die derzeit sehr dynamische Lage vor Ort oder die Gefahrenprognose geändert hat. So kann die Polizei gegebenenfalls auch kurzfristig eine neue, mündliche Verfügung aufgrund der Umstände vor Ort aussprechen. Dies kann eine Allgemeinverfügung nach § 35 S. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz sein, die sofort vollzogen wird.
LTO: Prof. Gärditz, vielen Dank für das Gespräch.
Prof. Dr. Klaus F. Gärditz ist Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht an der Universität Bonn.
Das Interview führte Tanja Podolski.
Tanja Podolski, Proteste zum G20-Gipfel in Hamburg: Härtefall für den Rechtsstaat . In: Legal Tribune Online, 05.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23372/ (abgerufen am: 04.05.2024 )
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