Die Figur des "Überzeugungstäters": Was man mit Über­zeu­gungen alles anfangen kann (oder auch nicht)

von Martin Rath

12.02.2023

Das Gesetz verlangt: Am Ende eines Strafverfahrens soll sich das Gericht eine Überzeugung zur Anklage gebildet haben. Was aber hat es mit dem sogenannten "Überzeugungstäter" auf sich? – Vom Nutzen und Schaden der Überzeugungen.

In der guten alten Zeit, als Gerichtsgebäude noch nach Bohnerwachs rochen, als der Richter und der Anwalt neben dem Apotheker und dem Landarzt die einzigen studierten Leute im Ort waren, gab es einen Witz unter Juristen.

Der Witz hatte ungefähr diese Form: Nach seiner launigen Anekdote über irgendeinen kleinen Diebstahl, bei dem Heu oder Hühner abhandengekommen waren, oder vom Strafverfahren wegen der Schlägerei beim letzten Dorffest mit den nicht ganz glaubwürdigen Aussagen der Zeugen kam der Richter zur Pointe: Wenn er sich nicht ganz sicher sei, ob der Angeklagte die Tat wirklich begangen habe, dann berücksichtige er das eben strafmildernd.

Strafe musste aber natürlich sein, schon um des lieben Friedens im Dorf willen.

Heutige Juristinnen und Juristen verweigern sich, so will man hoffen, bereits der Vorstellung, dass hier überhaupt ein Witz vorliegt – jedenfalls kein guter.

Denn schon 1877 verlangte § 260 Strafprozessordnung (StPO) a.F.: "Über das Ergebniß der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriffe der Verhandlung geschöpften Überzeugung."

Fehlt es an der Überzeugung, dass die Tat dem Angeklagten vorzuwerfen war, muss der Freispruch folgen – eine bloß etwas geringere Strafe, weil das Gericht erhebliche Zweifel am Tatvorwurf hatte: Das darf so nicht sein.

Überzeugungen – woher nehmen, wenn nicht stehlen

Wo Witze gemacht werden, ist wenigstens etwas Problembewusstsein vorhanden – selbst wenn die Pointe kaum in den modernen Rechtsstaat gehört. 

Wer bei der Lösung des Problems, woher Gewissheit kommt, Hilfe in den Nachbarwissenschaften der Jurisprudenz sucht, z. B. in der Philosophie, wird leider nur bedingt fündig.  

Immanuel Kant (1724–1804) unterschied beispielsweise zwischen dem "Meinen" als einem problematischen, dem "Glauben" als einem "assertorischen" und dem "Wissen" als einem apodiktischen Urteil über einen objektiven Gegenstand der Erkenntnis. Die subjektive Zulänglichkeit dieses Urteils nannte Kant "Überzeugung", die objektive Zulänglichkeit "Gewissheit". 

Der Philosoph Jakob Friedrich Fries (1773–1843), der heute weniger prominent ist, aber als engagierter Liberaler, Nationalist, Burschenschaftler (und Antisemit) im 19. Jahrhundert auch in akademischen Kreisen vermutlich mehr gelesen wurde als der anstrengende Immanuel Kant, kannte drei Arten der Überzeugung: Wissen, Glauben und Ahnung. 

Man ahnt schon, dass philosophische Definitionen das Problem des Richters nur in andere Begriffsspiele verlagern – am Ende kommt es darauf an, ein juristisches Urteil mit einem Grad der Gewissheit zu begründen, der unter Berufskollegen anerkannt wird – natürlich ohne "überspannte" Ansprüche an diese Gewissheit zu stellen. "Zwingend" oder "eindeutig" muss ein Beweisergebnis beispielsweise nicht sein, um ein Strafurteil zu tragen (vgl. nur BGH, Urt. v. 22.11.2022, Az. 6 StR 243/22).

Überzeugungen auf der Seite der Angeklagten 

Wer sich der Erkenntnisgrundlagen der eigenen Arbeit nicht gewiss ist, neigt hoffentlich zu etwas Demut und Bescheidenheit. Auch gut dosierte Skepsis mit Blick auf die Leistungen der eigenen Profession wird gern gesehen. Hier trennen sich dann die Wege zwischen – sagen wir – Juristen, Werbefachwirten und Ökobauern. 

Interessant wurde und wird es daher im Justizbetrieb oft dann, wenn es nicht um die selbstkritisch zu Papier gebrachten Überzeugungen der Damen und Herren in den dunklen Roben geht, sondern wenn ein regelrecht hermetisch von seiner Sache überzeugter Klient vor Gericht steht: der Überzeugungstäter oder "Überzeugungsverbrecher".

Dieser Begriff hatte einmal eine zarte Chance, gesetzlich definiert zu werden.

Im "Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches" aus dem Jahr 1924, der im Wesentlichen auf den Rechtsprofessor und sozialdemokratischen Justizminister Gustav Radbruch (1878–1949) zurückging, wurde folgende Regelung vorgeschlagen:

"An Stelle von strengem Gefängnis und Gefängnis tritt Einschließung von gleicher Dauer, wenn der ausschlaggebende Beweggrund des Täters darin bestand, daß er sich zu der Tat auf Grund seiner sittlichen, religiösen oder politischen Überzeugung verpflichtet hielt."

In der Weimarer Republik war bekanntlich nicht nur die Bereitschaft, mit Gewalt für politische Auffassungen zu kämpfen, deutlich ausgeprägt – von der kommunistischen Weltrevolution bis zum völkisch-deutschnationalen Identitätsterror. Die Strafen fielen sehr unterschiedlich aus. Der Kommunist Eugen Leviné (1883–1919) wurde etwa wegen seiner Beteiligung an der Münchener Räterepublik als Hochverräter zum Tod verurteilt und erschossen, der Hochverräter Adolf Hitler (1889–1945) genoss nach seinem Putschversuch vom 8./9. November 1923 den recht offenen Strafvollzug der Festungshaft.

Die Ungleichheit in der Behandlung der rechts- und linksextremen Gesinnungstäter ist ein fester Posten im rechtshistorischen Nähkästchenwissen. Radbruchs Vorschlag verhält sich hingegen in überraschender Weise quer zu dieser zutreffenden, aber etwas langweiligen Überlieferung – nämlich lösungsorientiert.

Die Festungshaft, die als "ehrenvolle" Strafe das Gegenstück zur entehrenden und physisch schwer belastenden Zuchthausstrafe war, sollte von der "Einschließung" abgelöst werden – als eine angenehme, nicht mit Zwangsarbeit verbundene Form des Freiheitsentzugs, die dem Gefangenen beispielsweise die akademische oder künstlerische Produktivität erlauben würde. Ein Hitler hätte weiter sein "Mein Kampf" schreiben können, Ernst Toller (1893–1939) weiter seinen "Hinkemann".

Zu den Gründen, warum der Überzeugungstäter gegenüber anderen Straftätern zu bevorzugen sei, referierte Radbruch:

"Der Überzeugungsverbrecher hebt sich als scharf umrissener Typus von den gemeinen Verbrechern ab. Der gemeine Verbrecher ist seines Unrechts überführbar, oft durch die Logik seiner eigenen Tat. Der Dieb will für sich das Eigentum, das er in einem anderen verletzt; der Urkundenfälscher verlangt für die gefälschte Urkunde das gleiche öffentliche Vertrauen, das er durch seine Fälschung erschüttert; beide bejahen grundsätzlich die Schutzwürdigkeit und den Strafschutz des von ihnen angegriffenen Rechtsgutes und dürfen sich folgerichtig nicht beklagen, wenn sich dieser Strafschutz auch gegen sie selber wendet. Der gemeine Verbrecher steht im Widerspruch zu sich selbst, als Vertreter seines eigenen besseren und klügeren Selbst tritt ihm der strafende Staat entgegen. Der Überzeugungstäter aber ist nicht aus sich selbst widerlegbar, es steht der in der Staatsgewalt verkörperten eine andere geschlossene Überzeugung gegenüber, der Staat mag ihn mit aller Schärfe als einen Gegner bekämpfen, er kann ihn nicht wie einen sittlich Haltlosen bessern wollen" (Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 44 [1924], S. 34–38, hier 35 f.).

Überzeugungstäter: Sind sie nicht besonders gefährlich?

Zu dieser gesetzlichen Regelung kam es bekanntlich nicht. Die NS-Diktatur machte vielmehr schwerste Straftaten gegen vermeintliche Feinde im eigenen Staat sowie in den militärisch besetzten Gebieten zur Sache ihrer völkischen und rassistischen Gesinnung. Die wohl überwiegende Masse dieser Verbrechen wurde nach den Zweiten Weltkrieg durch Amnesie und Amnestie für erledigt erklärt.

Doch das Problem – jedenfalls die rhetorische Figur – des Überzeugungstäters blieb erhalten.

In einem Urteil vom 8. September 1954 ging der Bundesgerichtshof (BGH) beispielsweise kurz auf die Motive eines Angeklagten ein, der Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967) als Knecht "der amerikanischen Kriegstreiber sowie der deutschen Monopolherren" beschimpft hatte, der "Deutschland auf Jahrzehnte hinaus zur tributpflichtigen Kolonie degradieren" wolle. 

Unter anderem für diese – damals in KPD- und SED-Kreisen gepflegte –"Reichsbürger"-Prosa war der Angeklagte vom Landgericht (LG) Flensburg wegen übler Nachrede gegen eine Person des politischen Lebens zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt worden, §§ 186, 187a Strafgesetzbuch (StGB).

Das BGH-Urteil betrifft vor allem die Abgrenzung zwischen Tatsachen- und Wertungsanteil in der gegen Adenauers Westbindungspolitik geäußerten Polemik, moniert aber auch, dass das LG Flensburg "dem Angeklagten die mangelnde Einsicht" – in das Unrecht seiner Äußerungen – "nicht straferhöhend angerechnet" hatte, "weil er aus Überzeugung gehandelt habe".

Das könne, so der BGH, derart allgemein nicht stehen bleiben: "Gerade der Überzeugungstäter wird zur Wiederholung seines Tuns neigen, und es wird daher oft besonders nachdrücklicher Ahndung bedürfen, um ihn zur Einhaltung der gesetzlichen Ordnung anzuhalten" (BGH, Urt. v. 08.09.1954, Az. 6 StR 190/54).

Auch beim Überzeugungstäter: Es kommt darauf an 

In einem Verfahren gegen zwei Angeklagte, denen vorgeworfen wurde, die terroristische "Rote Armee Fraktion" unterstützt zu haben, fand der BGH mit Urteil vom 29. Oktober 1975 Gelegenheit, seine Haltung zu Überzeugungstätern zusammenzufassen.

Wegen ihrer – dem ersten Anschein nach – gut bürgerlichen Bildungs- und Erwerbsbiografie hatte hier das LG Karlsruhe Freiheitsstrafen von neun und sechs Monaten u. a. wegen gemeinschaftlichen Werbens für eine kriminelle Vereinigung in Tateinheit mit Hausfriedensbruch, Körperverletzung und Sachbeschädigung zur Bewährung ausgesetzt.

Dass die Biografien der beiden Angeklagten, eines Arztes und einer Studentin, zu einem rechtstreuen Leben verhelfen würden, war nach Ansicht des BGH aber nicht hinreichend begründet worden. Denn gut bürgerlich hätten sie schon zum Zeitpunkt der Tat gelebt, ohne dass sie dies aufgehalten habe. O-Ton BGH:

"Bei den Angeklagten handelt es sich aber nicht um Straftäter, die sich ihres Fehlverhaltens bewußt sind und von denen erwartet werden kann, daß sie den Spruch eines Gerichts respektieren und befolgen. Sie sind vielmehr sogenannte 'Überzeugungstäter', die das Gericht als Repräsentanten des Staates betrachten, dessen Beseitigung sie erstreben, und bei denen in der Regel nicht damit zu rechnen ist, daß sie allein unter dem Eindruck einer Verurteilung die Gesetze künftig achten werden."

Zwar seien "Überzeugungstäter" nach langjähriger Rechtsprechung nicht ganz von der Strafaussetzung zur Bewährung auszuschließen, bestätige "sich diese Gesinnung aber in strafbaren Handlungen, und besteht Grund zu der Befürchtung, daß die Angeklagten solche Handlungen wieder begehen werden, so müssen gewichtige Tatsachen vorliegen, die ein Abgehen von der Erwartung rechtfertigen, daß Gesinnungstäter im allgemeinen ihre Aktivitäten auch bei Verurteilung zu einer (dazu noch relativ milden) Strafe nicht ändern" (BGH, Urt. v. 29.10.1975, Az. 3 StR 369/75 S).

Wohin mit den Überzeugungen?

Fehlt es an Strafprozessen, die sich überwiegend oder ausschließlich der politischen Gesinnung von Angeklagten widmen können, wandert das von Radbruch behandelte Problem des Überzeugungstäters in andere juristische Gefilde – beispielsweise das Beamten- und das Recht der digitalen Massenkommunikation, also Rechtsgebiete, die allesamt keine derart akzentuierte Vorstellung vom Regelbruch haben, wie sie in den klassischen Straftheorien formuliert wurde. Oder es wird einfach justizfrei gestritten.

Der narzisstische Reflex von Menschen mit starken Gesinnungen, schlicht nirgendwo als "sittlich Haltloser gebessert" werden zu wollen, lebt jedoch fort.

Ihm abzuhelfen, liegt aber wohl eher in der Fähigkeit, mit belastbaren Argumenten zu streiten und dabei der anderen Seite zuzuhören. Ein Gerichtssaal sollte dazu nicht nötig sein. Etwas Demut und Bescheidenheit kleiden hier auch ohne Robe.

Zitiervorschlag

Die Figur des "Überzeugungstäters": . In: Legal Tribune Online, 12.02.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51039 (abgerufen am: 10.11.2024 )

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