Philosophische Gespräche im Strafvollzug: Was wertvoll ist

von Marlene Grunert

04.10.2012

In der JVA Tegel in Berlin treffen sich Gefangene seit gut zehn Jahren zu Sokratischen Gesprächen. Nach anfänglicher Skepsis gibt es mittlerweile lange Wartelisten. Über die Spielregeln freien Philosophierens und Dialoge jenseits des Knastalltags berichtet Marlene Grunert.

Wenn man sich vom Industriegebiet am nordwestlichen Rand Berlins der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel nähert, fällt plötzlich jedes Detail der Umgebung auf. Das Gartencenter Holland, das gegenüber liegende City Hotel, in dem nur die kleinsten Preise übernachten, und die Eckkneipe Mukke vor den schweren Gefängnismauern. Hinter dem Stacheldraht ragen die historischen Kirchtürme der St. Andreas-Kapelle auf. Alles scheint wie in einen absurden Bezug zum massiven Gefängnisbau gesetzt.

Die JVA Tegel ist die größte geschlossene Einrichtung des erwachsenen Männervollzugs in Deutschland.

In Haus 5 leben die Gefangenen, die eine lebenslängliche Freiheitsstrafe zu verbüßen haben. Um dorthin zu gelangen, muss der Besucher nicht nur die Sicherheitskontrollen passieren, sondern auch die Gefängniskapelle. Seit nunmehr gut zehn Jahren finden hier alle zwei Wochen die Sokratischen Gespräche statt – ein philosophischer Dialog unter Gefangenen, der in Europa einmalig ist.

Elementare Fragen im Dialog klären

In den Gesprächskreisen sollen elementare Fragen diskutiert werden, um die Gefangenen auf die Zeit nach ihrer Entlassung vorzubereiten. Die sieben Gesprächsteilnehmer bestimmen selbst, worüber sie innerhalb von vier Monaten sprechen möchten. Ein immer wiederkehrendes Thema ist das Spannungsverhältnis zwischen der Zeit im Gefängnis und dem Leben, das draußen weitergeht.

Die Dialoge sollen nicht der Lösung alltäglicher Knastprobleme dienen. Häufig geht es deshalb um Fragen, die nichts mit der Haftsituation zu tun haben. "Oftmals reduzieren die Gefangenen sich selbst und ihre Biographie auf die begangenen Straftaten", erzählt Horst Gronke, einer der Leiter der Sokratischen Gespräche. Diese Einteilungen in Gut und Böse, Täter und Nichttäter, versucht die Runde aufzulösen.

Individuelle Erfahrung steht am Anfang

Derzeit wird in Haus 5 diskutiert, was wertvoll ist. Im sokratischen Sinn sollen sich die Gefangenen in einem ersten Schritt ihrer eigenen Erfahrungen zu diesem Thema bewusst werden. Ismet erzählt, dass ihm erst klar wurde, wie wertvoll seine Frau für ihn war, als sie sich von ihm trennte, weil er ins Gefängnis kam. Willy, der irgendwann einmal nach seiner Entlassung das Schmetterlingstal auf Rhodos sehen möchte, ist der Gedanke wertvoll, dass er draußen immer noch Freunde hat, denen er wichtig ist. Jede dieser Schilderungen steht für sich. Es soll nicht darum gehen, sie psychoanalytisch auszudeuten.

In einem zweiten Schritt versuchen die Teilnehmer, anhand einer dieser Erfahrungen allgemein gültige Aussagen zum Thema zu treffen. Einer der Gesprächsleiter protokolliert die folgende Diskussion, um sie in die nächste Sitzung zu tragen. Jede Aussage findet auf diese Weise Anerkennung.

Die Gesprächsleiter achten darauf, dass die Regeln des Sokratischen Gesprächs eingehalten werden. Dabei agieren sie lediglich als Moderatoren und bieten den Teilnehmern Hilfe zum Dialog. Zu den Regeln gehört es, den anderen zuzuhören. Die Teilnehmer sollen versuchen, einander zu verstehen, um schließlich zu wahren Aussagen zu kommen. 

"Da strebt sich mir alles den Nacken hoch"

Zwischendurch schweift das Gespräch ab. Dann geht es wieder um den Knastalltag. Ein Teilnehmer fragt, ob der Beitrag nur online erscheinen wird; denn in der JVA herrscht Internetverbot. In diesen Momenten lenken die Moderatoren die Aufmerksamkeit zurück auf das eigentliche Thema. Sie fordern klare Aussagen von den Häftlingen, weisen auf Widersprüche hin und helfen, Verständnis für andere  Meinungen zu entwickeln, auch wenn sich dabei manch einem "alles den Nacken hochstrebt."

Der Philosophiekreis soll den Teilnehmern ein Gespür für zur Wahl stehende Möglichkeiten vermitteln. "Bestenfalls führen die Gespräche dazu, dass die Gefangenen Alternativen für ihr eigenes Leben entwickeln, das maßgeblich von der begangenen Tat geprägt ist", sagt Gesprächsleiter Jens Peter Brune.

Die Gefangenen schätzen das Niveau der Gespräche. Hauke spricht von "Gehirnjogging im Knast". Er war bereits in vielen Gefängnissen der Bundesrepublik untergebracht und lobt die JVA Tegel für die "Sokratischen".

Willy, der während der Sitzung viel geschwiegen hat, steht auf und packt seine Thermoskanne ein. "Also für mich ist es wertvoll, wenn ihr nächste Woche wiederkommt."

Zitiervorschlag

Marlene Grunert, Philosophische Gespräche im Strafvollzug: . In: Legal Tribune Online, 04.10.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7234 (abgerufen am: 31.10.2024 )

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