Den zweiten Weltkrieg geführt und verloren zu haben war schmachvoll genug für das Deutschland der späten 40er und frühen 50er Jahre. Doch wie eine Kolonie der Besatzungsmächte wollte man sich nun wirklich nicht fühlen. Um diesen Eindruck zu vermeiden, ging man auch in Rechtsfragen bisweilen recht großzügig vor. Martin Rath nimmt einige Beispiele unter die Lupe.
Am 16. Februar 1950 fiel im Bayerischen Landtag ein 70 bis 80 Kilogramm schwerer Glaslüster von der Decke. Zwar verfehlte er den SPD-Abgeordneten und 1945 von der US-amerikanischen Besatzungsmacht kurzzeitig zum Regierungspräsidenten von Unterfranken bestellten Jean Stock (1893-1965). Doch das Ereignis hinterließ bei jenem einen solchen "Schreck oder Schock", dass er später gegenüber der Allianz-Versicherung Krankheitskosten und Verdienstausfälle in Höhe von – seinerzeit sehr stattlichen – 6.800 Mark geltend machte.
Das Magazin "Der Spiegel" berichtete von diesem Vorgang 1952 und wärmte ihn gleich im Folgejahr noch einmal auf, als der Abgeordnete Stock die Frage verhandelt wissen wollte, ob jene Kriegsgefangenen, die erst Anfang der 1950er Jahre aus der Sowjetunion entlassen wurden, in Bayern noch dem "Entnazifizierungsverfahren" zu unterwerfen seien. Schließlich seien "Tausende von einfachen Parteigängern" überprüft worden, denen es ungerecht erscheinen müsste, "wenn beispielsweise ein jetzt heimgekehrter früherer SS-Obergruppenführer als nicht betroffen erklärt würde".
Rudolf Augsteins Redakteure sprachen dem bayerischen Abgeordneten gleich die Fähigkeit ab, vernünftig zu argumentieren, weil Stock ehemalige SS-Generale nicht ungeprüft aufs westdeutsche Leben loslassen wollte. Zudem empörten sie sich über die Schadensregulierung des Abgeordneten aus dem Jahr 1950 sowie darüber, dass Stock gegen den Freistaat einen Pensionsanspruch durchgesetzt hatte – "für einige Monate Tätigkeit als Regierungspräsident von Unterfranken im Jahre 1945".
Durcheinander nach Krieg, Besatzung, Staatsverfall
Die "Spiegel"-Berichte von 1952/53 verschwiegen diskret, dass der SPD-Mann (zusammen mit einem späteren CSU-Mann) während der NS-Zeit Widerstand geleistet hatte, wiederholt verhaftet worden und zuletzt nach dem 20. Juli 1944 mehrere Monate im KZ Dachau inhaftiert gewesen war. Eine Biografie, die damals nicht nur für Reputation beim US-Militär sorgte, sondern wohl auch manches psychische Trauma erklärt.
Der Pensionsanspruch des bayerischen Abgeordneten, gegen den "Der Spiegel" polemisierte, war indes nicht so kurios, wie unterstellt wurde. Ein Blick in die "Neue Juristische Wochenschrift" des gleichen Jahres fördert zahllose Beispiele dafür zutage, wie viele Fragen rund um Krieg, Besatzung und Staatsumbruch die Justiz der jungen Bundesrepublik zu lösen hatte.
Eine gewisse juristische Verwandtschaft mit dem Pensionsanspruch des Abgeordneten Stock aus seiner Tätigkeit als Regierungspräsident hatte ein Anspruch, über den der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 9. Juli 1953 befand (Az. III ZR 193/51).
Am 1. Juni 1945 hatte ein Beamter des Wiesbadener Regierungspräsidenten den Pkw des späteren Klägers beschlagnahmen lassen. Fraglich war, wer nun für den Schaden haften sollte. Der Regierungspräsident war, gut drei Wochen nach dem Kriegsende in Europa, selbstverständlich ein von der Besatzungsmacht berufener Beamter. Das beklagte Land wand ein, zum Zeitpunkt des Vorgangs noch gar nicht existiert zu haben. "Groß-Hessen" wurde erst am 19. September 1945 gegründet.
Der 3. Zivilsenat des BGH schloss sich dem Argument des 4. Senats an, wonach "die Besatzungsmacht mit der Übernahme der deutschen Verwaltung und Beauftragung neuer Personen mit den Verwaltungsämtern materiell deutsche Hoheitsbefugnisse ausübte und die von der Besatzungsmacht auf diese Weise eingesetzten Amtsträger damit grundsätzlich nicht Organe der Besatzungsmacht wurden".
Die Amtshaftungsansprüche gegen das inzwischen hessische Regierungspräsidium folgten nach der BGH-Rechtsprechung aus einer "Funktionsnachfolge". Damit entfiel eine komplexere Argumentation über die Staatennachfolge. Man hätte sonst darüber diskutieren müssen, wie handlungsfähig das Deutsche Reich bzw. der Freistaat Preußen im Juni 1945 wohl gewesen waren.
Pure Lust am Strafen? Österreich als Inland
Während funktionale Zuordnungen dieser Art schön übersichtlich sind, weil der Funktionsträger schlicht für Schäden- oder Pensionsansprüche seiner Beamten haftet, spiegelt sich ausgerechnet in strafrechtlichen Urteilen der frühen 1950er Jahre eine leicht barocke Komplexität, die aus den wechselnden Herrschaftsverhältnissen in Deutschland und dem, was sich zeitweise dazu zählen lassen musste, ergab.
Etwas Staunen löst zum Beispiel die Anwendung des § 244 Strafgesetzbuch (StGB) aus, der zwischen 1872 und 1969 nicht – wie heute – den bewaffneten bzw. Bandendiebstahl unter Strafe stellte, sondern Wiederholungstaten pönalisierte: "Wer im Inlande als Dieb, Räuber oder gleich einem Räuber oder als Hehler bestraft worden ist, darauf abermals eine dieser Handlungen begangen hat, und wegen derselben bestraft worden ist, wird, wenn er einen einfachen Diebstahl (§ 242) begeht, mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren, wenn er einen schweren Diebstahl (§ 243) begeht, mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren bestraft."
Schlechte Karten also für einen Angeklagten, dem neun vollendete und ein versuchter Wohnungseinbruch vor dem Landgericht Berlin nachgewiesen worden waren. Mit seiner Revision wehrte sich dieser dagegen, auch noch nach § 244 StGB als Wiederholungstäter bestraft zu werden. Ein bisschen pikant war am Urteil des BGH (v. 15.9.1953, Az. 5 StR 375/53) die Verortung der bisherigen Aburteilungen des Berliner Einbrechers als "im Inlande" gelegen. Die Verteidigung machte geltend, dass der Angeklagte in den Jahren 1941 und 1943 von den österreichischen Landesgerichten Leoben und Graz nach Diebstahlsvorschriften des österreichischen StGB von 1852 verurteilt worden war und einen Teil seiner Strafe zu "schwerem Kerker" in "Marburg/Drau" (heute: Maribor, Slowenien) verbüßt habe, das erst 1941 – ebenso völkerrechtswidrig wie zuvor ganz Österreich – vom Deutschen Reich annektiert worden sei.
Der Bundesgerichtshof sah diese Strafen der österreichischen Landesgerichte nach österreichischem Strafrecht jedoch, wie vom damaligen § 244 StGB gefordert, als Diebstähle "im Inlande" an, weil beide Verurteilungen nach der Annexion Österreichs 1938 "auf Grund deutscher Gerichtshoheit" erfolgt seien.
Bayerische Pension, hessischer Pkw, deutscher Rückfalldieb
Ähnlich straffreudig verfuhr man zwei Jahre zuvor mit einem hessischen Dieb: Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main entschied am 31. Januar 1951 (Ss 382/50), dass vorangegangene Strafurteile von Gerichten der Militärgerichtsbarkeit als Begründung für die Bestrafung als Rückfalldieb heranzuziehen seien, soweit deutsche Diebe nach deutschem Strafrecht im Inland betroffen waren.
In Hessen konnte man sich zwar darauf berufen, dass die US-Militärregierung dies ausdrücklich so angeordnet hatte. Aber das OLG Frankfurt am Main lieferte zudem ein interessantes Argument dafür, warum deutsche Juristen in den 1950er Jahren – jenseits aller Polemik gegen die sogenannte "Siegerjustiz" der Nürnberger Prozesse – gar nicht so versessen darauf waren, die unter fremder Herrschaft ergangenen Urteile zu negieren:
Adolf Schönke (1908-1953), Mitbegründer eines heute sehr gängigen StGB-Kommentars, hatte den Gedanken formuliert, die alliierten Gerichte in Deutschland seien als ausländische Gerichtsbarkeit einzustufen – spiegelbildlich zur älteren deutschen Konsulargerichtsbarkeit. Diesem Gedanken zu folgen, lehnten die Frankfurter Richter strikt ab.
Das könnte der historische Hintergrund erklären. Konsularrecht bzw. Konsulargerichtsbarkeit hatte das Deutsche Reich unter anderem bis 1918/19 für seine afrikanischen und asiatischen Kolonien betrieben: Wer als Weißer zum Beispiel in Deutsch-Ostafrika eine Straftat beging, wurde nach dem StGB bestraft. Die deutschen Konsulargerichte waren "inländische" Gerichte im Ausland.
Eine unkritische Gleichsetzung der von den alliierten Militärregierungen in Deutschland betriebenen oder beeinflussten Gerichtsbarkeit mit fremder Konsulargerichtsbarkeit wäre auf eine zumindest psychologische Gleichstellung Deutschlands mit einem britischen, französischen und US-Kolonialstaat hinausgelaufen. Einer Kolonialgerichtsbarkeit ausgeliefert zu sein, das war – politisch unkorrekt gesagt – nichts für vollwertige Menschen.
Verlängerte Zuchthausstrafen für Rückfalldiebe, bayerische Pensionsansprüche oder hessische Amtshaftung vor Landesgründung – interessant, dass solche Entscheidungen auch am seidenen Robenfaden einer solchen Herrschaftspsychologie hingen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Rechtsgeschichten: Allerlei Besatzungsprobleme . In: Legal Tribune Online, 07.07.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9090/ (abgerufen am: 01.05.2024 )
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