Was haben der Verfassungsrechtler Friedrich Gottlob Nagelmann und die OLG-Präsidentin Henriette Heinbostel gemein? Beide sind Juristen von einigem Format, finden in Schriften namhafter Kollegen Erwähnung und sind dennoch… frei erfunden. Unser – sehr realer – Autor Roland Schimmel hat zur Vita dieser und weiterer Phantomjuristen nachgeforscht.
Friedrich Gottlob Nagelmann ist vielleicht der einzige Jurist, dem schon lange vor seinem Ableben, nämlich im Jahre 1984, eine Gedächtnisschrift zuteilwurde. Auf den ersten Blick mag das pietätlos wirken. Auf den zweiten ist es halb so schlimm: Die Gedächtnisschrift ist real und in jeder ordentlichen Fachbibliothek einsehbar, Nagelmann selbst hingegen war – man sträubt sich, das zu schreiben – virtuell. Fiktiv. Hypothetisch. Freundlich formuliert: In einem besseren Paralleluniversum muss er so gelebt haben, wie sein detailliert dokumentierter Lebenslauf es suggeriert.
Von Phantombüchern war an dieser Stelle schon mehrfach die Rede. Die Frage drängt sich auf: Gibt es auch Phantomjuristen? Irgendwer muss die Phantombücher schließlich schreiben…
Die Antwort liegt auf der Hand: Es gibt sie. Und Nagelmann ist nur einer von ihnen, wenn auch vermutlich der bekannteste. Beeindruckend schon die Lebensdaten: Geboren am 3. September 1889, gestorben am 29. Februar 2004, nachdem er zunächst bereits seit 1959 als verschollen gegolten hatte, dann aber in den letzten Jahren wieder verschiedentlich selbst publizistisch zu Tage getreten war.
BVerfG verfasst Gedächtnisschrift zu Ehren Nagelmanns
Fast alles, was wir über ihn wissen, wissen wir aus der erwähnten Gedächtnisschrift. Von der juristischen Bandbreite seiner Interessen und Tätigkeiten legen die knapp 50 von ehemaligen Mitgliedern des 3. Senats am Bundesverfassungsgericht verfassten Beiträge ein lebhaftes Zeugnis ab: Thematisch liegt der Schwerpunkt im Verfassungs- und Prozessrecht, es gibt aber auch einen zivilrechtlichen Beitrag (über Sachmängelgewährleistungshaftung bei erwartungswidrigen Festschriftinhalten) und Grundsätzliches, etwa zur Reinen Rechtslehre.
Gemeinsam ist den Beiträgen, dass die Themen nicht selten absichtlich marginal bis leicht juristisch-esoterisch gewählt sind, meist stark fußnotenlastig ausfallen und überhaupt im Zeichen des juristischen Abkürzungs- und Vollständigkeitsfetischismus leicht ironisierend an die Sache herangehen. Nagelmanns fiktive Werke – oft unveröffentlicht – werden immer wieder zitiert. Aufbau, Diktion und Duktus wirken ganz ernsthaft und typisch juristisch, aber in jedem Text erreicht der Leser früher oder später den Punkt, an dem er merkt, dass das alles nicht ernst gemeint sein kann.
Das Buch ist mit allen Finessen einer Festschrift versehen: Lebenslauf, seltene private Fotos, Schriftenverzeichnis, Vorstellung der Verfasser und Sachregister. Es wurde weiland in der juristischen Fachpresse, aber auch im Spiegel begeistert rezensiert; noch heute werden die Beiträge gelegentlich in Rechtsprechung (z.B. VG Berlin, Beschl. v. 01.04.2004, Az. 27 A 81.04) und Schrifttum (z.B. Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 2. Teil, II.3., Rn 48, Fn 1 ff.; Maunz/Dürig-Jachmann, Grundgesetz, Art. 95 Rn. 149) zitiert.
Mit den Jahren wird der Text aber wieder zum Geheimtipp. Schade, denn die Erinnerung an Nagelmann als einen der großen Peripheruniversaljuristen des 20. Jahrhunderts verdiente wachgehalten zu werden. Auch wenn er nie gelebt haben sollte. Aber eben dessen ist man sich beim Lesen der Gedächtnisschrift nicht mehr so ganz sicher …
Zwei weitere Phantome: Dölle und Knack
Nagelmann ist indessen nicht das erste mit einer Gedächtnisschrift geehrte Phantom. Da wäre zuvor noch der Psychologieprofessor Ernst August Dölle (1898 - 1972) zu nennen, der auch Jahre nach seinem (mutmaßlichen?) Tod mehrere Alleinstellungsmerkmale beanspruchen kann: eine eigene Internetseite und einen nach ihm benannten Hörsaal an der Uni Düsseldorf nebst Erinnerungsplakette; die zu seinen Ehren gegründete Fachgesellschaft rundet das Bild ab.
Weitaus skizzenhafter geblieben und daher auch weniger bekannt als Nagelmann ist sein Zeitgenosse, Schulfreund und Bruder im Geiste Julius Knack. Dabei hätte er weiß Gott mehr Aufmerksamkeit verdient, hat er sich doch in besonderem Maße um die Ausbildung des juristischen Nachwuchses verdient gemacht. Nachzulesen ist das in der Kleinen Fehlerlehre für Juristen (herausgegeben von Christof Gramm). Das Buch ist Jurastudenten dringend zu empfehlen (während die anderen hier genannten Texte allenfalls am Rand der Examensrelevanz dahersegeln), auch wenn es bedauerlicherweise seit 1989 nie neu aufgelegt wurde. Den strafrechtlichen Teil hat übrigens der unlängst tragisch früh verstorbene Strafrechtslehrer Joachim Vogel beigesteuert.
Im Vorwort findet sich eine biographische Skizze zu Knack (1890 - 1966), im Text geistert er hauptsächlich durch die Fußnoten. Wer das Buch liest, hat einigen Erkenntnisgewinn und stellt beiläufig fest, dass die Autoren – typisch juristisch, aber immer mit einem Augenzwinkern – Knack als Pseudo-Autorität benutzen, um ihre eigenen Überlegungen als empirisch abgesichert zu präsentieren.
Sucht man übrigens mit der Standardsuchmaschine nach Fotos von Knack, findet man nur die falschen: Sie zeigen einen Namensvetter (* 1874). Man muss sich also einstweilen mit dem etwas unscharfen Bild auf dem Buchumschlag zufriedengeben.
2/2: Auch die Politik hat ihre Phantasiegestalten
Wer Freunde hat wie Julius Knack, braucht nicht mehr viel Gesellschaft, könnte man meinen. Indes war Knack 1933 mit seiner Frau nach Argentinien ausgewandert – und Skype sollte erst Jahrzehnte später erfunden werden.
Da war der sozialdemokratische Politiker Jakob Maria Mierscheid gerade erst geboren. Bis er für Nagelmann zum ernsthaften Gesprächspartner werden konnte, sollte also noch einige Zeit vergehen.
Mierscheid, von seiner Partei liebevoll gepflegt (mindestens ein Steg über die Spree in Berlin und ein Wanderweg in der Eifel sind nach ihm benannt, vom Mierscheid-Gesetz ganz zu schweigen), feierte 2013 seinen 80. Geburtstag. Genauer gesagt: Er ließ ihn feiern – und glänzte durch Abwesenheit.
Und dann ist da noch der Diplomat Edmund Friedemann Dräcker, geboren 1888 (Todesdatum unbekannt), der als Zeitgenosse zuallererst für eine Skatrunde mit Nagelmann in Betracht gekommen wäre. Sein von diplomatischen Sondereinsätzen geprägter Lebenslauf nimmt agentenhafte Züge an. Ein Vergleich mit James Bond verbietet sich jedoch, denn der betrat die Bühne deutlich später. Dräcker war indes noch im hohen Alter für spektakuläre Überraschungen gut. Er ist als einziger unter den hier Vorgestellten durch eine Verfilmung seines Lebens gewürdigt worden: Das Phantom von Bonn, 1996.
Und die Mädels?
Schmerzhaft fällt auf, dass das gerade entfaltete Paralleluniversum keine Frauen zu enthalten scheint. Zwar sind Nagelmann und Mierscheid verheiratet, aber ihre Ehefrauen bleiben skizzenhaft – vorsichtig formuliert. Hier besteht dringender Nachholbedarf. Es kann nicht angehen, dass es in dieser besseren Welt sogar eine Fauna gibt – man denke an die hinlänglich bekannte Steinlaus, deren Existenz angesichts zahlreicher lexikalischer Belege schwerlich zu bezweifeln sein wird –, aber keine Frauen.
Bei genauerer Suche findet sich dann aber doch eine, und zwar eine richtige Karrierefrau: Henriette Heinbostel, geb. Schwarz, auch bekannt als "Die OLG-Präsidentin" (1911 – 2004), die mit Nagelmann 1940 eine uneheliche Tochter Renate hatte, über deren Verbleib nichts bekannt geworden ist. Die ihr gewidmete Gedenkschrift bringt die nötige feministische Perspektive – und ist bereits in zweiter Auflage erschienen. Damit stirbt dann ganz nebenher auch die Hoffnung auf eine Parallelwelt ohne Gleichstellungsbeauftragte.
Wissenschaftsscherze und Juristenhumor
Warum es von diesen merkwürdigen Gestalten überhaupt zu berichten lohnt? Aus mindestens einem Grund. Der Juristenhumor, wie er landläufig verbreitet und wahrgenommen wird, ist ja oft ein armselig Ding. Wer darüber forschen wollte, käme ständig in sumpfiges oder vermintes Gelände. Was man im Buchhandel als wohlfeiles Verlegenheitsgeschenk für die Geburtstagsfeste von Kollegen kaufen kann, gehört meist in die Abteilung "nichtlustig".
Immer wieder einmal werden gereimte Urteile und Schriftsätze kolportiert. Na gut. Geradezu erholsam sind da schon amerikanische Juristenwitze, die mit schöner Regelmäßigkeit die Profitgier als Wesenszug der anwaltlichen Psyche aufs Korn nehmen (und deren Vater vermutlich Shakespeare ist, der schon 1623 knochentrocken formulierte "The first thing we do, let’s kill all the lawyers").
Gemessen an diesem Maßstab ist die Erfindung eines Paralleluniversums voll possierlicher Existenzen wie Nagelmann, Knack, Heinbostel, Dräcker und Mierscheid doch eigentlich ganz liebenswürdig. Und beinahe ein bisschen lustig, oder?
Zur Vertiefung:
Dieter Umbach et al. (Hrsg.): Das wahre Verfassungsrecht: Zwischen Lust und Leistung – Gedächtnisschrift für F.G. Nagelmann, Baden-Baden 1984 (noch erhältlich: der Nachdruck von 1991)
Christof Gramm / Wolfgang Demmler / Joachim Vogel: Kleine Fehlerlehre für Juristen nach Dr. Julius Knack, Baden-Baden 1989 (vergriffen, auch antiquarisch nur schwer erhältlich, aber unbedingt lesenswert)
Konstanze Görres-Ohde / Monika Nöhre / Anne-José Paulsen (Hrsg.): Die OLG-Präsidentin: Gedenkschrift für Henriette Heinbostel, Berlin 2007, Nachdruck 2010
Roland Schimmel, Phantomjuristen: Fiktiv und doch sehr lebendig . In: Legal Tribune Online, 28.09.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9695/ (abgerufen am: 03.05.2024 )
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