Auf einen Schriftsatz lässt sich eine Replik verfassen, ob er klug ist oder dumm. Welche Antwort bekommt aber ein Bundesrichter auf seine Assoziationen zum Thema Hunger? – Einen Versuch.
In Deutschland finden sich rund 13.500 in Vereinen organisierte Modell-Eisenbahner, verrät uns das offizielle Verzeichnis der beim Bundestag gemeldeten Lobby-Verbände. Das sind nicht viele Menschen, die ihre auf Spanholzplatte gebannte Weltherrschaft pflegen. Schon in den 1950-er Jahren gab es z.B. mehr Rechtsanwälte als Vereinsleute kleinstspuriger Eisenbahnbetriebe heute.
Wir erwähnen das, weil wir uns in jüngster Zeit häufiger beim Blick in die "StaZ" ertappen, einer 1922 gegründeten "Zeitschrift für das Standesamtswesen". Sollte etwa ein Modelleisenbahner auf den naheliegenden Gedanken kommen, seinem Kinde den Vornamen "Bahnchef" zu geben – Rundfunk und Fernsehen machten ihn ja recht populär –, würde der juristisch versierte Standesbeamte in diesem Blatt nachschlagen.
Als das Amtsgericht Darmstadt z.B. im Jahr 1936 verfügte, dass einem 1931 geborenen Kind der Vorname "Lenin" wieder zu entziehen sei, fand der Beschluss in der "StaZ" die gehörige Aufmerksamkeit.
Kinder sollten "Bundesrichter" heißen dürfen
Dass junge Eltern versuchen, ihrem Kinde den Vornamen eines mit Glaubenseifer verehrten Solitärmenschen anzuhängen, ist bekanntlich nie ganz aus der Mode gekommen. Dem Studentenführer Rudi Dutschke und seiner Gattin gefiel es beispielsweise, ihrem Sohn den Namen "Che" zu geben – nach Ernesto "Che" Guevara, einem argentinischen Guerillaführer, der sich auch sehr um die Sache der Homosexuellen auf Kuba bemüht hatte.
Nun mögen es zwar die 13.500 organisierten Modelleisenbahner nicht schaffen, einem ihrer Sprösslinge den schönen Vornamen "Bahnchef" angedeihen zu lassen. Anwälte z.B. sind viel zahlreicher, es finden sich schon über 160.000. Sollte da, unter uns Solitärmenschen, einer seinem Kinde das neue Vornamensangebot "Bundesrichter" machen wollen: Die "StaZ" würde sich der Rechtsfragen annehmen.
Hunger unter Strafe stellen? – Gute Idee!
Wenn wir die brav verlinkte Idee nicht hinreichend wiedergeben, bitten wir um Entschuldigung. Der Journalist an sich leidet ja manchmal unter einem kleinen Kopf. Allzu manieristisch-verzwickte Ausführungen passen dort einfach nicht hinein.
Ein Gedankenspiel, das für den Hunger in der Welt kausale Tun/Nichttun in juristischer Methode einem strafrechtsunterworfenen Subjekt zuzurechnen, findet aber unseren Beifall. Systematische Rechtsgutsverletzungen haben ja gute Chancen, abgeurteilt zu werden, wenn ihre Konjunktur nachlässt oder die Verbrecher aussterben.
Vorsicht ist verständlich, denn Gerichte haben keine Truppen, wie US-Präsident Andrew Jackson (1767–1845, Democratic Party) einst feststellte, als er wider seinen Supreme Court die Cherokee in den Hungertod treiben ließ.
Dem Bundesgerichtshof gefällt es wieder, mutmaßliche KZ-Mordgehilfen zu verurteilen, seit es keine mehr gibt. So ist das mit den großen Vorgängen der Weltläufte. Auch den Welthungerverantwortlichen könnte das Schicksal zunehmender Strafhaftung bei abnehmender Delinquentenzahl drohen – es bestehen nach Stand des "Welthunger-Index" durchaus Chancen, dass weniger Menschen hungern. Vielleicht dünnt das die Reihen der zurechenbar Verantwortlichen soweit aus, dass man sie irgendwann vor Gericht stellen kann.
"I see there has been a famine in the land"
Dass die Zurechenbarkeit hier aber ein schwieriges Problem ist, belegt schon ein berühmter Schlagabtausch zwischen Gilbert Keith Chesterton und George Bernard Shaw. Chesterton, ein Mann von barocker katholischer Leibesfülle, Shaw ein sozialistisch-irischer Hungerhaken zueinander: "Chesterton: I see there has been a famine in the land. – Shaw: And I see the cause of it."
In ihrem Buch "Politik des Schweigens" haben André Glucksmann und Thierry Wolton 1987 zu zeigen versucht, wie das sozialistische Regime in Äthiopien die Gelder aus der internationalen Hungerhilfe für eine dem Hunger förderliche, ja genozidale Politik in seinem Land verwendet haben soll.
Das Geld kam, gesammelt von eifrigen Pop-Musikern und von Kindern mit Spendendose auch in deutschen Fußgängerzonen, aus unseren Breitengraden. Bob Geldof, ein Fall für Den Haag? Wer ist schuld am Leid? Lebenslustige, fette Bürger oder sozialistisch-moralistische Hungerhaken?
Und, nicht zu vergessen: Gaben die für "Live Aid" zugunsten Äthiopiens Spenden sammelnden Kinder des Jahres 1984/85 ein Beispiel für ein ermessensfehlerhaftes Polizeihandeln? Hätte derlei nicht als Gefahr für die öffentliche Sicherheit der Menschheit verboten werden müssen?
2/2: Tröstet der BGH die Hungernden?
Wenig Trost finden wir in der Urteilspraxis des Bundesgerichtshofs, wenn es um hungernde Menschen geht.
Der 2. Strafsenat, unter Vorsitz des Senatspräsidenten Dr. Dagobert Moericke (1885–1961) – die "Wikipedia" schreibt ihm in unerschütterlicher lexikographischer Neutralität ein "berüchtigtes" antikommunistisches Verdikt zu – befand etwa mit Urteil vom 4. November 1952 (Az. 2 StR 449/52) über Vorsatzfragen in einem Fall des Hungertodes.
Die Stiefpflegemutter des zehnjährigen Horst aus dem Sprengel des Landgerichts Köln hatte den Jungen nach tatgerichtlichen Feststellungen zunächst aushungern lassen, er starb 1951 nach Verabreichung eines "barbituratsäurehaltigen Schlafmittels".
Dem 2. Strafsenat gefiel es, immerhin, das Schwurgericht dafür zu tadeln, nur wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung verurteilt zu haben, und gab die Sache zur Prüfung der "inneren Tatsache" zurück – ein bedingter Tötungsvorsatz sei doch möglich.
Ein für das Verhältnis von "hate speech" und "love speech" höchst interessantes Urteil fand der 5. BGH-Strafsenat am 10. Januar 1956 (Az. 5 StR 261/55).
Vorweg: Wir wissen heute, dass der NS-Staat tiefe Verheerungen, auch und gerade am deutschen Sprachgut hinterließ. Heinrich Himmler (1900–1945) hatte beispielsweise in seiner berüchtigten Posener Rede von 1944 das Wort "Anstand" dahingehend missbraucht, dass er die Gefühlskälte seines mordenden Personals zum Beleg für ebendiesen "Anstand" erklärte. Für Freunde des moralischen Sprechakts mag das heute fast eine seiner schlimmeren Taten gewesen sein.
Kinder, die nicht kauen, erfahren Liebe nach BGH-Art
Viel besser der BGH, schon 1956: Die im Oktober 1943 geborene Ute war "ein schwer erziehbares Kind. Sie nahm es mit der Wahrheit nicht genau. Außerdem aß sie schlecht", hält das Urteil fest: "Sie hatte insbesondere die Angewohnheit angenommen, Brot das sie essen sollte, zerkaut im Mund zu behalten."
Statt nun der Empfehlung eines Arztes zu folgen, ihr Kind einfach so lange hungern zu lassen, bis es von selbst esse, ging die Mutter wie folgt vor: "Die sogenannte Löffelmethode bestand darin, daß die Angeklagte dem Kind, nachdem sie es auf einem Stuhl hatte Platz nehmen lassen, die Nase zuhielt, beim Öffnen der Lippen infolge Luftmangels mit dem Stielende eines hölzernen Kochlöffels gegen die noch zusammengepreßten Zähne klopfte, nach dem Öffnen der Zahnreihen den Löffelstiel zwischen diese zwängte und mit ihm bei etwaigem erneuten Zusammenpressen der Zähne Hebelbewegungen ausführte, bis sie das Brot mit dem Löffelstiel an das Zäpfchen schieben konnte, so daß Ute zum Schlucken gezwungen wurde."
Der 5. Strafsenat hob das Urteil des Landgerichts Hamburg wegen Kindesmisshandlung auf, weil es das Züchtigungsrecht der Mutter falsch bewertet habe. Die Hamburger hatten der Angeklagten vorgehalten, die Löffelmethode nicht mit Anstand, also mit hinreichend gemütsruhiger Hand, ausgeführt zu haben. Dazu der BGH: "Erregung, Wut, Rücksicht auf höhnische, kritische Äußerungen anderer und mangelnde Selbstbeherrschung schließen ein Handeln zu Erziehungszwecken nicht aus, Züchtigungen in Erregung und Wut sind sogar oft von größerer erzieherischer Wirkung als solche, die mit kalter Sachlichkeit vorgenommen werden. Außerdem kann hinter Erregung und Wut sehr wohl durch Liebe begründete Sorge um das Wohl des Kindes stehen, die dieses trotz aller Erregung und Wut des Züchtigenden durchaus spürt."
Dies für die Angeklagte freundliche Verdikt kam unter Bundesrichter Professor Dr. Werner Sarstedt (1909–1985) zustande, der als Weltkriegsteilnehmer und Kriegsgefangener in Italien gewiss am eigenen Leib erfahren hatte, was Nahrungsmangel bedeutet. Wut und Liebe in der Misshandlung eines Kindes konnten aus dieser Kenntnis heraus wohl "anständiger" erscheinen als die kühle Professionalität eines Arztes, der empfohlen hatte, einfach auf den Hunger des Kindes zu warten.
Wer im Glashaus sitzt, erhält Brot statt Steine
Über die zahlreichen Fälle der Kindstötung und -misshandlung, begangen durch Aushungern, über die der BGH seit jenen Jahren nachzurichten hatte, diese grässlichen Geschichten, in denen es fast ausschließlich um seelisch verkrüppelte Menschen geht, soll hier der Mantel des Schweigens gebreitet bleiben.
Da wir uns hier in einem assoziativen Feuilletonbeitrag befinden, liebe Leserin, geschätzter Leser, können Sie sich entscheiden, ob Sie als Fazit ein "Schuster, bleib bei deinen Leisten" ziehen wollen oder doch lieber: "Wer sein Glashaus nicht liebt, mag Steine werfen, aber doch eher Brot finden (unter dem Aktenzeichen 5 StR 261/55)."
Zum Schluss daher nur eine von Bundesrichter Thomas Fischer inspirierte Pointe. Er berichtet davon, dass ihm mitunter danach zumute sei, Rednerinnen und Rednern von allzu frommer und/oder selbstverliebter Denkungsart die lamettahaltige Stimmung zu verderben, indem er ihnen vorrechne, wie viele Menschen auf der Welt in der Zeit ihres Vortrags verhungert seien.
Wir rechnen uns das seit circa 1984 immer einmal wieder vor, allerdings eher als Übung zum Erwerb von Demut in eigener Sache. Den vorliegenden Text haben Sie in vielleicht 12 Minuten gelesen, Fischer'scher Bodycount: 200 Seelen unter zwölf Jahren.
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs. Das grauenhafte "Wir" im Text soll nicht darüber in die Irre führen, dass es sich um Auffassungen des Autors handelt.
Martin Rath, Feuilleton: "I see there has been a famine in the land" . In: Legal Tribune Online, 06.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21064/ (abgerufen am: 29.04.2024 )
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