Zu lange galt die Aufmerksamkeit jener Krümmung der Gurke, die juristisch und ökonomisch unbedarften Menschen dazu diente, die europäischen Institutionen zu schmähen. Eine Erinnerung an echte deutsche Gurkenrechtsfragen von Martin Rath.
Auf den ersten Blick scheint es fernliegend, in der Gurke einen juristisch interessanten Gegenstand zu entdecken. Dass die Gurke, fachsprachlich Cucumis sativus, in ihrer eingelegten und uneingelegten Form, gekrümmt wie ungekrümmt, der Aufmerksamkeit der Juristen nicht verborgen bleibt, entspricht zwar der natürlichen Ordnung des deutschen Rechts und seines Staats. Beidem entgeht ja kein Ding dieser Welt.
Doch nicht jedes Ding in dieser Welt reizt die Sinne so sehr wie die grüne Frucht: Bei näherer Betrachtung entdecken wir eine besondere Fixierung auf die Gurke im Bereich des Soldatenrechts sowie Abgründe in der beamten- und strafrechtlichen Auseinandersetzung mit Gurkenfällen. Dass die Gurke schließlich verdient, als "Pursuit of Happiness" für die dem Medienrecht unterworfenen Personen wiederentdeckt zu werden, dazu wird am Schluss plädiert.
Weil mit Feldsalat kein Krieg zu gewinnen ist
Ihrer festen Haut wegen wird die Frucht der Gurke fachsprachlich auch als Panzerbeere bezeichnet. Dass sie in Fragen des Wehrdisziplinarrechts unverhofft oft eine Rolle spielt, hängt freilich weniger mit dieser botanischen Kategorie zusammen – und zwar genau so wenig, wie die notorisch absurden Missstände im waffentechnischen Beschaffungswesen der Bundeswehr zum bösen Wort von der "Gurkentruppe" geführt haben dürften.
Vielmehr wird die Möglichkeit, Gurken zu konservieren und damit frontnah zur Speisung der Soldaten eingesetzt zu werden, ihre wehrwirtschaftliche und damit -juristische Bedeutung ausmachen. Mit Feldsalat ist im Ernstfall, trotz seines Namens, naturgemäß nicht gedient.
Noch in den 1980er Jahren, gastronomisch war in Deutschland – sieht man von den Brüdern und Schwestern jenseits von Mauer und Stacheldraht ab – längst das Zeitalter der Tiefkühlkost und Convenience angebrochen, gab der versuchte Diebstahl unter anderem eines 10-Liter-Eimers Gurken, verübt durch einen "Feldkochunteroffizier zur 1. Panzeraufklärungsbataillon", der Truppendienstgerichtsbarkeit Gelegenheit, darüber zu befinden, wie weit ein Offizier zu degradieren sei, der sich an Wirtschaftsgütern der Bundeswehr vergriffen hat.
Schlimme Erschleichung eines soldatischen Gurkenkredits
Kurz gesagt: Herabgestuft auf einen Mannschaftsdienstgrad gab es für ihn nichts mehr zu befehlen, nachdem der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts darüber geurteilt hatte, dass der Diebstahl von Eiern, Butter und eben Gurken gegen die soldatischen Pflichten zum "treuen Dienen" und zum "achtungs- und vertrauenswürdigen Verhalten im dienstlichen Bereich" nach §§ 7, 17 Abs. 2 Satz 1 Soldatengesetz verstoßen habe (Urt. v. 16.10.1986, Az. 2 WD 14/86).
Um hier nicht missverstanden zu werden: Dass staatliche Sanktionen gegen Gurkendiebe sein müssen, soll im Ergebnis nicht bestritten werden. Wie viel sprachliches Lametta das Soldatenrecht für eine Degradierung benötigt, ist aber doch ein bisschen amüsant.
Ungeahnte Verbindungen zwischen Truppe und Gurke tun sich bereits in Entscheidungen der 1960er Jahre auf. Die bemerkenswerte Verteidigung eines heutzutage eher virtuell gewordenen Rechtsguts zeigte sich etwa in einem Fall, über den der Wehrdienstsenat des damaligen Bundesdisziplinarhofs entschied:
Ein Stabsoffizier hatte einerseits bei der Abrechnung für außerkasernale Übernachtungen geschummelt, andererseits seinen Dienstausweis dazu genutzt, bei einem Lebensmittelhändler unter anderem Gurken auf Kredit zu kaufen, die statt der Truppe der Konfirmationsfeier einer befreundeten Familie zugeführt wurden.
Die Gurke als Sexspielzeug
Bemerkenswert ist, dass allein in der Verführung des Kaufmanns, dem Unbekannten aufgrund des Dienstausweises Kredit zu gewähren, jene betrügerische Tat entdeckt wurde, die dem Disziplinarherren des Gurken erschleichenden Soldaten besonders verwerflich erschien (Urt. v. 11.11.1963, Az. WD 99/63). Fehlende Zahlungsabsicht wurde ihm dabei gar nicht einmal vorgeworfen. Man sieht, wie weit die Konsumgesellschaft seither die Sittenstrenge bei der Kreditgewährung gelockert hat.
Einen letzten soldatenrechtlichen Gurkenfall müssen wir noch erwähnen, bevor wir die Truppe verlassen: Zwischen 1982 und 1985 stahl ein Soldat – ein langjährig dienstverpflichteter "Panzerinstandsetzungsfeldwebel" – im nordhessischen Raum serienmäßig Büstenhalter verschiedener Eigentümerinnen, die er jeweils von der Wäscheleine entwendete.
Einigen der Bestohlenen schrieb er einen Brief, in dem er sich über die sexuelle Verwendungsmöglichkeit von Gurken ebenso ausließ wie über seine monströsen Vorstellungen von der weiblichen Brust. Im Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 6. Dezember 1988 (Az. 2 WD 11/88) sind diese schamlosen Ungeheuerlichkeiten ausführlich dokumentiert – man kann das aus Anstandsgründen hier gar nicht wiederholen.
Dass es in jüngster Zeit aber zwischen Richtern am Bundesgerichtshof zum Dissens darüber kommen konnte, wie weit ein BGH-Richter außerdienstlich über Brüste schreiben sollte , lässt sich mit Blick auf diese Sache nachvollziehen – schon die dienstliche Befassung kann sehr bestürzend sein. Eine Fischer-Kontroverse über Gurken-Missbräuche wollen wir uns daher gar nicht erst ausmalen.
2/2: Soldat und Zivilist(in) im Brust- und Gurkenwahn
Der Soldat im Brust- und Gurkenwahn wurde am Ende übrigens nur degradiert, nicht aus der Truppe entfernt. In der sogenannten freien Wirtschaft geht es da anders zu: Dem Leiter eines Schnellrestaurants im hessischen Reiskirchen nützte beispielsweise seine Behauptung vor dem Landesarbeitsgericht nichts, eine Mitarbeiterin des Restaurants hätte während einer Frischgemüse-Aktion eine Gurke dazu verwendet, an ihn adressierte obszöne Gesten zu machen:
"Es erschließt sich nicht, was der Kläger mit der Schilderung des Salatgurkenvorfalls bezweckt." Denn nachdem er die Mitarbeiterin "auf die Salatgurkenhandlung angesprochen und ihr gesagt habe, dass das nicht ginge", habe er selbst sexuell anzügliche Fragen gestellt – die wiederum in einer Serie von Übergriffen standen, die zu seiner streitbefangenen Entlassung führten (LAG Hessen, Urt. v. 27.8.2013, Az. 10 Sa 32/13).
Die Sachverhaltsdarstellung enthält übrigens das pralle Leben: Der um seinen mit 3.500 Euro monatlich dotierten Arbeitsplatz gebrachte Schnellgastronom fühlte sich unter anderem durch sogenannte erotische Fotos einer seiner Mitarbeiterinnen auf Facebook zu seinen Ungebührlichkeiten animiert.
Gut, dass der Bundestag in seiner einstimmigen Weisheit solche Vorgänge nunmehr nicht nur arbeits-, sondern auch der sexualstrafrechtlichen Sanktion zugeführt hat. In Zukunft heißt es: Winkt die Burgerfachkraft mit der Gurke, mahne sie nicht ab, zeige sie lieber an. Und je mehr Gemüsewochen es gibt, desto höher ist die Chance einer immer gendergerechten Verurteilungsquote nach dem neuen Sexualstrafrecht.
Bundesrichter strafen Gurkendieb
Doch einmal kurz zurück in die grauen alten Tage der Bundesrepublik, als Gurken noch Sachverhalte generierten, deren juristische Bearbeitung obszöner geriet als die Sache selbst. Ein bisschen merkwürdig ist etwa das Urteil des Bundesdisziplinarhofs vom 3. März 1965 (Az. I D 38/64). Im "Selbstbedienungsladen der Firma Schade & Füllgrabe in Frankfurt/Main, Schweizerplatz" entwendete ein Beamter der Bundesbahn unter anderem ein Glas Gurken und ein paar Süßigkeiten. Das war es aber auch.
Vor dem Senat des Bundesdisziplinargerichts muss der kleine Bundesbahnbeamte mit seinen 60 Jahren einen erbarmungswürdigen Eindruck gemacht haben, "er litt unter einem vorzeitigen Altersabbau", war im Krieg am Kopf verwundet worden und nach der russischen in die tschechische Gefangenschaft geraten. Mit Frau und Kindern lebte er auch nicht mehr zusammen.
Die Bundesrichter ließen es sich nicht nehmen, dieser armen Kreatur in der Begründung der disziplinarrechtlichen Sanktion vorzuhalten, das Ansehen des Beamtenstandes dadurch gefährdet zu haben, dass der Beamte gerade erst mit seinem Widerspruch gegen den Strafbefehl in der Diebstahlssache öffentliche Aufmerksamkeit erreicht habe. Trotzdem wolle man mal nicht so hart zu ihm sein.
Der juristisch gebildete Kabarettist Matthias Beltz (1945–2002), der sich über seine Beinah-Kollegen oft so lustig machte, dass man es für Zynismus halten könnte, wohnte in der Nähe des Tatorts "Firma Schade & Füllgrabe". Graumäusiger Bundesbahnbeamter von Bundesrichtern in den Abgrund getadelt - ja, das wäre ein Fall für den viel zu früh verstorbenen Beltz gewesen.
Der Mundraub als Gewohnheitsverbrechen?
Zur Ehrenrettung des deutschen Bundesrichters der 1960er Jahre findet sich immerhin der Gurkenfall eines sogenannten gefährlichen Gewohnheitsverbrechers. Bis 1970 mussten die Gerichte bekanntlich über Strafverschärfungen urteilen, die § 20a Strafgesetzbuch seit 1934 für die dritte mit Freiheitsstrafe bedrohte Tat vorsah.
Die Entwendung eines kleinen Eimers mit Gurken im Zuge eines Einbruchdiebstahls trug 1969 das Urteil des Landgerichts Mainz über einen "gefährlichen Gewohnheitsverbrecher" – Gesamtfreiheitsstrafe fünf Jahre Zuchthaus. Der BGH hob den gesamten Strafausspruch, insbesondere mit Blick auf die Feststellungen zum Gurken-Problem, auf: "Die Tatsache, daß die Gurken erst im Verlaufe mehrerer Mahlzeiten verzehrt wurden, besagt, für sich gesehen, noch nichts gegen einen Vorsatz des Mundraubs."
Wer "Nahrungs- oder Genußmittel von unbedeutendem Werthe oder in geringer Menge zum alsbaldigen Verbrauche entwendet" beging nach § 370 Abs. 1 Nr. 5 StGB nur eine Übertretung. Möglicherweise blieb dem Mann die Zuchthausstrafe als Gewohnheitsverbrecher erspart. Der BGH verwies die Sache an das Landgericht Frankenthal zurück – mit der Maßgabe zu prüfen, ob die nicht sofort verzehrbar große Gurkenmenge nicht nur deshalb entwendet worden war, weil ein kleineres Transportbehältnis nicht zur Verfügung stand.
Saure-Gurken-Zeit: Pursuit of Happiness
Nun werden Sie sich, liebe Leserin, verehrter Leser, vielleicht fragen, ob die Gurke jene vollmundige Aussage am Anfang dieses Artikels trägt, eine Art "Pursuit of Happiness" für jene Berufe zu bilden, die dem Medienrecht unterworfen sind – zumal angesichts der zutiefst anstößigen juristischen Abgründe der grünen Panzerbeere.
Nun, jüngere Menschen unter den Lesern kennen das ja gar nicht mehr: Früher, bevor Zeitungen und Zeitschriften sich anschickten, jede kleine Aufregung "24/7" online hochzukochen, damals, als Nachrichten noch auf Papier gedruckt oder von öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernseh-Langweilern mit gerade einmal drei (in Ziffern: 3) verfügbaren TV-Programmen gesendet wurden – da gab es zwischen Juni und September jedes Jahres eine sogenannte Saure-Gurken-Zeit. Nichts, was in diesem Zeitraum veröffentlicht wurde, relevant oder irrelevant, regte irgendwen am Strand, in den Bergen oder im Freibad auf. Es galt die kaum wiederlegbare Vermutung: Die Meldung ist eine "saure Gurke", es ist ja Sommer.
Diese Haltung gegenüber Nachrichten, ob weltstürzend oder banal, hätte man heute gerne zurück. Zumindest zwischen Juni und September.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Solingen.
Martin Rath, Juristische Lebensmittelmetaphysik: Gurken vor Gericht . In: Legal Tribune Online, 07.08.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20221/ (abgerufen am: 29.04.2024 )
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