Bei den Deutschen ist die Krise auch Ende 2012 faktisch kaum angekommen, Angela Merkel erfreut sich bester Popularitätswerte, die Italiener sehnen sich gar nach Deutschlands Rechtsstaat. Dabei kann auch das Recht nicht wieder herstellen, was die Menschen wirklich wollen: Normalität. Dafür braucht es einen breiten Diskurs – und das Ende des schönen Scheins, glaubt Daniel Martienssen.
Das "deutsche Universum" als eine "Vision der Hoffnung". Italiener glauben nach einer Befragung des italienischen Goethe-Instituts, die Deutschen lebten in "sicheren Regeln und Gesetzen". Die Umfrage gipfelt in einer Sehnsucht der Italiener nach Deutschlands Rechtsstaat. Denn der Rechtsstaat schaffe Ruhe und Normalität, ein sicheres Leben in geordneten Bahnen. Gerade in der Eurokrise, in der sicher geglaubte Konventionen vom Kopf auf die Füße gestellt worden sind, ziehen sich die Bürger zunehmend in einen scheinbar normalen Alltag zurück.
Hinzu kommt, dass sich in Teilen Italiens die rechtsstaatlichen Strukturen immer weiter auflösen. Im kollektiven Gedächtnis bleiben die riesigen Müllberge in Neapel. Eine Kreislaufwirtschaft existiert nicht mehr, mafiöse Strukturen füllen seit geraumer Zeit dieses Verwaltungsvakuum. Kriminalität am helllichten Tag ist in Neapel die Regel geworden. In der Küstenstadt ist die Sehnsucht nach Ruhe und Normalität am größten.
Nun soll der Rechtsstaat diese Normalität schützen und bewahren. Wenn aber die Eurokrise eines schon geschafft hat, dann die Perspektive für das, was wir für normal halten, sukzessive zu verschieben.
Normalität 2012: ESM statt No Bail Out
Seit 2008 halten uns verschiedene Stufen der Finanz- und Wirtschaftskrise in Atem. Ordnungspolitisch war es damals undenkbar, mit milliardenschweren Eurorettungspaketen Griechenland oder anderen krisengeschüttelten Eurostaaten unter die Arme zu greifen. Bis 2010 galt ein hartes europäisches Regelwerk mit der No-Bail-Out-Klausel als unantastbarem Rechtsprinzip. Auch ein nur vorläufiger Rettungsschirm war bis dahin undenkbar.
Nur zwei Jahre später nehmen wir mit einem gewissen Gleichmut zur Kenntnis, dass der permanente institutionalisierte Rettungsschirm "ESM" am 8. Oktober 2012 seine operative Tätigkeit aufgenommen hat und nun bis zu 700 Milliarden Euro an Krisenstaaten auszahlen kann. No-Bail-Out war gestern.
In Deutschland ist die Schere zwischen der Eurokrise mit ihren ökonomischen Folgen und dem Wahrnehmbaren im Alltag fast schon surreal auseinandergeklafft. Die Bevölkerung in Deutschland ist bisher von der Krise weitestgehend verschont geblieben. Man kann sich gar als Krisengewinner begreifen. Die Arbeitslosenzahlen sind auf einem Rekordtief und angesichts der verheerenden Wirtschaftsdaten in Südeuropa steht Deutschland mit moderaten Wachstumsprognosen wie ein Musterschüler da. Die Bundesrepublik ist der Wirtschaftsmotor der Union.
Die wirtschaftlich guten Zahlen sind nun für viele junge Menschen aus Südeuropa ein wesentlicher Grund, nach Deutschland zu kommen. In Italien und Spanien haben Schulen für Deutschunterricht Hochkonjunktur, weil Fachkräfte sich hier Jobs erhoffen, von denen sie in ihrer Heimat nur träumen können.
Für sie soll auch eine funktionierende Rechtsordnung einen normalen Alltag garantieren. Dieser Denkansatz kann allerdings nur scheitern. Rechtsstaatlichkeit kann immer nur einen Rahmen für eine freiheitliche Gesellschaft bilden. Dessen Inhalt aber bestimmen andere Faktoren wie der soziale Zusammenhalt und eine ausgewogene Ressourcenverteilung. Überdies wird die innere Verfasstheit einer aufgeklärten Gesellschaft auch maßgeblich an ihrer Fähigkeit zum Diskurs gemessen. Dem Diskurs nicht zuletzt über ihre gesellschaftliche Ordnung.
Beschädigte Verfassungsorgane warnten vor einer Verfassungskrise
Hinzu kommt, dass sich die deutschen Verfassungsorgane im Sommer 2012 nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben. Als Bundespräsident Joachim Gauck gewillt war, ESM und Fiskalpakt bereits nach der Abstimmung im Bundestag und Bundesrat direkt zu unterzeichnen, dröhnte es aus Karlsruhe, wenn Gauck vor Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) unterzeichne, drohe eine Verfassungskrise. Gauck machte bekanntlich einen Rückzieher und die Karlsruher Verfassungsrichter prüften während des ganzen Sommers ESM und Fiskalpakt in einem Prozess zwischen Eilrechtsschutz und Hauptsacheverfahren.
Am 12. September 2012 gab das BVerfG für den ESM und den Fiskalpakt schließlich vorläufig grünes Licht. Nachdem die Europäische Zentralbank seit Herbst 2012 Staatsanleihen krisengeschüttelter Eurostaaten aufkauft, hat der Stabilitätsmechanismus aber an Bedeutung schon eingebüßt, noch bevor er seine operative Arbeit aufnehmen konnte.
Umso ärgerlicher, dass nach diesem Drahtseilakt um den ESM vor allem beschädigte Verfassungsorgane zurückbleiben. Bundesregierung und Verfassungsrichter haben sich in der Eurorettung mehr oder weniger überworfen und versuchen nun notgedrungen, zerschlagenes Porzellan aufzukehren.
Während Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) im Sommer 2012 öffentlich mit einem Verfassungsreferendum und der damit einhergehenden Entmachtung des höchsten deutschen Gerichts drohte, musste Karlsruhe dem Bundestag seit 2009 mehrmals in Sachen europäische Mitwirkungsrechte zu Lasten der Bundesregierung auf die Sprünge helfen. Das täuscht allerdings nicht darüber hinweg, dass auch die Karlsruher Korrekturen nicht ändern konnten, dass sich die Kräfteverhältnisse von der Legislative zur Exekutive verschoben haben.
Abschied vom schönen Schein statt Ruf nach dem Recht
Der Bundestag hinkt nämlich in der Eurorettung regelmäßig hinterher. Eine Debatte findet praktisch nicht statt. Das liegt vor allem daran, dass die komplexen Rettungsinstrumente für einen durchschnittlichen Abgeordneten schlicht nicht mehr zu begreifen sind und der eingeschlagene Weg aus der Krise kaum mehr umkehrbar ist. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat sich mit ihrer Regierung auf ihren Rettungskurs längst festgelegt. Wenn aber das Parlament nicht mehr der Ort des repräsentativen Diskurses ist- wo sonst sollte dieser Diskurs geführt werden?
Die Mehrheit der Deutschen, so scheint es, setzt lieber auf eine starke Bundesregierung, die wiederum alles tut, in der Eurokrise zumindest den Schein eines normalen Alltags aufrechtzuerhalten. Dieser Schein strahlt auch nach Südeuropa und vermittelt den Eindruck von Recht und Ordnung, Ruhe und Normalität. Je mehr die Eurokrise an Fahrt aufnimmt, desto größer ist die Gefahr, dass hinter der Fassade auch unsere rechtsstaatlichen Strukturen aufzuweichen beginnen.
Anders aber als der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof in einem Beitrag "Verfassungsnot!" für die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Sommer 2012 argumentierte, wird es nicht ausreichen, einfach das gesetzte Recht auf Biegen und Brechen wieder einzuhalten.
Das Recht allein bewirkt gar nichts. Vor allem gegenüber ökonomischen und gesellschaftlichen Umwälzungen ist es machtlos. Das Recht gibt die Regeln vor, es regelt die gesellschaftliche Ordnung, nach der wir leben wollen. Wie diese Ordnung aber auszusehen hat, wird anderswo entschieden. Es wird darauf ankommen, gesamteuropäisch in den Diskurs über unsere gegenwärtige und zukünftige Ordnung zu treten. Und sich vom schönen Schein von Ruhe und Normalität zu verabschieden.
Der Autor Daniel Martienssen ist Rechtsanwalt und freier Journalist. Er schreibt u.a. für die Online-Ausgabe des Magazins Cicero und lebt in Berlin.
Daniel Martienssen, Der Rechtsstaat in der Eurokrise: Normalität war gestern . In: Legal Tribune Online, 27.12.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7866/ (abgerufen am: 04.05.2024 )
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