BGH schreibt Rechtsgeschichte: Strafbarkeit der Mitwirkung an Massenverbrechen im Fall Gröning. Außerdem in der Presseschau: Das Kopftuch der Erzieherin, Anzeige gegen Assad und Nebentätigkeiten von BGH-Richtern
Thema des Tages
BGH zu Schuldspruch gegen Gröning: Der Bundesgerichtshof hat in einem nun veröffentlichten Beschluss die Revision im Fall Oskar Gröning verworfen und damit den Schuldspruch gegen ihn bestätigt. Damit ist erstmals höchstrichterlich entschieden, dass sich SS-Angehörige, die in einem KZ organisatorisch am arbeitsteilig organisierten Massenmord beteiligt waren, der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht haben. Der Verurteilte hat mit seiner Tätigkeit als Buchhalter im KZ Auschwitz sowie als Aufpasser an der Rampe den Betrieb des Massenmordes ermöglicht. Das Landgericht Lüneburg hatte Gröning wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen zu vier Jahren Haft verurteilt. In Revision gingen sowohl der Verurteilte sowie die Nebenkläger, die eine Bestrafung wegen Mittäterschaft anstrebten. Die Staatsanwaltschaft werde nun prüfen, ob Gröning haftfähig ist, wird gemeldet. Die taz (Christian Rath) schreibt ausführlich über die Entscheidung und betont, der BGH habe nur allgemeine Grundsätze angewendet. Auch die FAZ (Alexander Haneke) bringt einen ausführlichen Bericht. In einem Artikel fasst die SZ (Wolfgang Janisch) die Entscheidung zusammen. In einem weiteren beschreibt die SZ (Robert Probst), warum die Rechtsprechung hier bislang keine Beihilfe angenommen habe und wie sich dies wendete. Auch lto.de (Marcel Schneider) berichtet.
Nach Wolfgang Janisch (SZ) habe der BGH endlich richtig auf eine zentrale Frage der deutschen Geschichte geantwortet und damit Rechtsgeschichte geschrieben. "Der BGH brandmarkt damit das bewusste Unterlassen der bundesdeutschen Justiz (...)" – und trage auch eigene Schuld ab, da auch Karlsruhe versäumt habe, die Rädchen im Getriebe zu ahnden. Klaus Hillenbrand (taz) spricht von einem "Meilenstein in der Geschichte der Strafverfolgung von Nazitätern", der allerdings Jahrzehnte zu spät komme. Die nun wohl folgenden Prozesse hätten strafrechtlich wenig Relevanz, dafür umso mehr symbolische Bedeutung. Er dankt dem BGH für "reichlich verspätete Gerechtigkeit". Gigi Deppe (swr.de) konstatiert: "Ganz offensichtlich ist in der Justiz die Erkenntnis gewachsen." Für die deutsche Gesellschaft sei es allerdings sehr beschämend, dass die Justiz viele Beteiligte des Völkermords nicht belangt hat. Jetzt gebe "es immerhin letzte Versuche, die Dinge gerade zu rücken". Ein "bitteres Gefühl" bleibe.
Im Gespräch mit der taz (Klaus Hillenbrand) schildert Jens Rommel, Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, was das Urteil für die Ermittlungen bedeutet.
Rechtspolitik
Videoüberwachung: Der Deutsche Anwaltverein kritisiert die Pläne von Innenminister de Maizière (CDU), die Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen zur Terrorbekämpfung ausweiten zu wollen: Es sei fraglich, ob mehr Überwachung mehr Sicherheit bringe. Body-Cams von Polizisten seien zudem verfassungsrechtlich fragwürdig, meldet die FAZ.
Maas' Gesetzesvorhaben: Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) will den legalen Zugang zu Waffen verschärfen. Er denkt etwa daran, vor dem Erstellen eines Waffenscheins eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz einzuführen. Anlass seines Vorbringens sei die steigende Gewaltbereitschaft der sogenannten Reichsbürger, meldet spiegel.de. Der innenpolitische Sprecher der Union Stephan Mayer (CSU) warnt vor einem Generalverdacht.
Laut taz (Valerie Höhne) will Heiko Maas im Rahmen des angekündigten Sicherheitspakets zudem Angriffe auf Polizisten stärker ahnden. Dafür wolle er noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf vorlegen. Strafrechtsprofessor Tobias Singelnstein moniert, das Strafrecht decke entsprechende Taten bereits ab. Das Gesetz könne daher ein "Schritt der Eskalation" sein und sich auf friedliche Demonstranten auswirken.
Jost Müller-Neuhof (Tsp) umreißt nach Maas' "Meldungs-Stakkato", warum der Justizminister mit seiner zunehmend polarisierenden und populistisch geführten Politik Gefahr laufe, Probleme zu verschärfen, statt sie zu lösen.
Unterhaltsreform: Länder, Kommunen und die Union wehren sich gegen die Reform des Unterhaltsrechts, derzufolge Alleinerziehende ab 1. Januar 2017 bis zum 18. Lebensjahr ihrer Kinder Unterhaltsvorschuss beanspruchen könnten. Die Kommunalverwaltungen bräuchten mehr Zeit, um zu organisieren, wie sie den damit einhergehenden Mehraufwand bewältigten. Zudem brauche es eine Finanzierungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern, meldet die SZ (Constanze von Bullion).
Verschärfung der Abschiebung: Der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU) will die Abschieberegelungen für Menschen ohne Schutzstatus verschärfen. Sein Entwurf für die Innenministerkonferenz sieht etwa vor, Gründe für die Abschiebehaft auszuweiten, Sozialleistungen zu kürzen und ein Rückführungszentrum in Ägypten zu errichten. Seine weiteren Vorschläge und Kritik daran sammelt zeit.de.
Donata Riedel (Hbl) meint, Thomas Strobl könne seine Forderung "vor dem Badezimmerspiegel an sich selbst richten" und solle lieber die Polizei aufstocken, um Abschiebungen abgelehnter Asylsuchender zu gewährleisten. Die Sozialhilfe entspreche ohnehin schon dem Existenzminimum, Abschiebelager in Ägypten seien wegen der menschenrechtlichen Lage dort in absehbarer Zeit nicht möglich. Auch die taz (Benno Stieber) kritisiert das Vorhaben: Es schwanke zwischen "juristischen Selbstverständlichkeiten und verfassungsrechtlich fragwürdigen Vorschlägen".
Mehr Abgeordnete im Bundestag: Für 2017 rechnet das Meinungsforschungsinstitut INSA mit 698 Abgeordneten im Bundestag. focus.de (Verena Mengel) resümiert das Forschungsergebnis und verschiedene Vorschläge, wie die Anzahl der Mandate reduziert werden könnte.
Grundsteuer: Der kommunalpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Bernhard Daldrup erklärt in einem FAZ-Gastbeitrag, warum die derzeitige Grundsteuer nicht nur ungerecht, sondern auch verfassungswidrig sei. Es bestehe Handlungsdruck, da die Einnahmen aus der Grundsteuer die wichtigsten für die Kommunen seien und das Bundesverfassungsgericht die Steuer kippen könnte.
Justiz
BVerfG zu Kopftuch: Darf eine Muslimin als Ausdruck ihrer religiösen Selbstbestimmung Kopftuch bei ihrer Arbeit in der Kindertagesstätte tragen? Ja, meint das Bundesverfassungsgericht in einer nun veröffentlichten Entscheidung. Es gebe keinen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf, "von der Wahrnehmung anderer religiöser oder weltanschaulicher Bekenntnisse verschont zu bleiben", so die Karlsruher Richter. spiegel.de fasst den Fall zusammen.
Anzeige gegen Assad: Eine Gruppe deutscher Anwälte hat beim Generalbundesanwalt Anzeige gegen den syrischen Präsidenten Assad erstattet. Er habe sich nach dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Aleppo strafbar gemacht. Aleppo sei ein Völkermord in Zeitlupe, konstatiert einer der Anwälte. Die taz (Beate Seel) fasst die Argumentation der Juristen zusammen. zeit.de (Kristin Helberg) erläutert ausführlich, warum die Suche nach einem zuständigen Gericht schwerfällt und zeichnet die Verbrechen in Syrien nach.
Kristin Helberg (taz) findet die Straffreiheit Assads unerträglich: Es gebe genug Beweise; es fehle nur ein zuständiges Gericht. Sie betont, Deutschland sei der perfekte Ort für eine Anklage, weil viele syrische Flüchtlinge und somit genügend Zeugen für die Gräueltaten hier seien.
BRH über richterliche Nebentätigkeit: Bundesrichter führen zu viele Nebentätigkeiten aus, moniert der Bundesrechnungshof. Dies folge aus einer Prüfung, die sich insbesondere auf den Bundesgerichtshof bezog, wie die NJW (Joachim Jahn) schreibt. Um die Leistungsfähigkeit der Senate nicht zu gefährden, regt der BRH an, die Genehmigungen zu reduzieren. Der BGH gibt an, das Prüfungsergebnis und etwaigen Umsetzungsbedarf sorgfältig auswerten zu wollen.
Europäisches Patentgericht: Die britische Regierung will das Abkommen für ein einheitliches Patentgericht ratifizieren. Wie die FAZ (mj.) erläutert, stand mit der britischen Entscheidung das Vorhaben auf der Kippe, nachdem ein Teil des Gerichts auch in London sitzen soll. Das EPG soll zuständig sein für Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem ebenfalls neuen Europäischen Patent. Es könnte seine Arbeit nun ab 2017 beginnen.
BVerfG – Vorratsdatenspeicherung: Ein Bündnis von Bürgerrechtlern, Datenschützern und Politikern hat Verfassungsbeschwerde gegen das neue Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung eingelegt, meldet die taz. Sie waren bereits gegen das vorherige Gesetz vorgegangen, das Karlsruhe 2010 als weitgehend verfassungswidrig einstufte.
LG Hamburg zu Adblocker: Das Landgericht Hamburg hat die Klage von SpiegelOnline gegen den AdBlock Plus-Betreiber Eyeo abgewiesen. Das Online-Magazin hatte beanstandet, das Unternehmen verletze Wettbewerbs- und Kartellrecht, indem es Werbeanzeigen verhindere, allerdings gegen Zahlung und nach bestimmten Kriterien Seitenbetreiber auf eine "weiße Liste" setze und so doch ihre Werbung anzeigen lasse. Die Urteilsbegründung steht noch aus, meldet lto.de.
AG Bautzen zu Brand in Flüchtlingsunterkunft: Das Amtsgericht Bautzen hat zwei Heranwachsende zu Jugendstrafen von zwei Jahren und sechs Monaten sowie drei Jahren ohne Bewährung wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte verurteilt. Sie waren bei dem Brand einer Bautzener Flüchtlingsunterkunft mehreren Platzverweisen nicht gefolgt und behinderten damit die Löscharbeiten. Die beiden 21-Jährigen sind vorbestraft. Gegen den dritten Angeklagten erließ das Gericht einen Haftbefehl; er erschien nicht zur Verhandlung, meldet zeit.de.
LG Bochum – Werner Mauss: Werner Mauss hat im Steuerstrafverfahren vor dem Landgericht Bochum erstmals den Namen der Person genannt, die einen Geheimfonds zur Zahlung von Mauss errichtet haben soll – der Ex-Vizepräsident des Bundeskriminalamts Gerhard Boeden. Dieser habe dem ehemaligen V-Mann strikt untersagt, das Finanzamt von dem Geld in Kenntnis zu setzen. Das Gericht hege erhebliche Zweifel an Mauss' Darstellung, schreibt die SZ (Ralf Wiegand). Boeden ist 2010 verstorben.
LG Traunstein – Bad Aibling: Nachdem der Fahrdienstleiter des in Bad Aibling verunglückten Zugs bereits gestanden hatte, ein Spiel auf seinem Handy gespielt zu haben, hat nun ein Mitarbeiter des Games-Unternehmens ausgesagt, der Angeklagte habe auch mehrfach mit seinen Mitspielern gechattet. Ein Gutachten dazu, wie sehr ihn das Spiel abgelenkt hat, steht noch aus, berichtet die FAZ (Karin Truscheit).
Elektronisches Anwaltspostfach: Das besondere elektronische Anwaltspostfach ist in Betrieb gegangen. Darauf weist blog.beck.de (Thomas Lapp) hin.
Recht in der Welt
Ukraine – Maidanprozess: Im Prozess gegen fünf Männer (teils Polizisten) vor einem Kiewer Gericht wegen des Verdachts der Tötung und Verletzung von Demonstranten bei den Maidan-Protesten im Februar 2014 hat der ehemalige ukrainische Präsident Janukowitsch seine Verantwortung bestritten. Er habe keinen Schießbefehl erteilt. Seine damaligen Gegner hätten die Schüsse auf die Demonstranten veranlasst, um ihn zu stürzen, resümiert die FAZ (Konrad Schuller) seine Aussage aus dem Exil.
EuGH – Uber: Am heutigen Dienstag beginnt vor dem Europäischen Gerichtshof das Verfahren um den Mobilitätsdienst Uber. Die Luxemburger Richter werden darüber zu entscheiden haben, ob es sich um einen reinen Vermittler oder um den Betreiber eines Transportservices handelt. Besonders umstritten ist das Angebot Uber-Pop, bei dem Privatleute als Chauffeur tätig werden. Geklagt hatte ein spanischer Taxiverband, so die Welt (Philipp Vetter).
Sonstiges
BND-Geburtstag: "Operation Geburtstag" – die SZ (Stefan Braun) hat die Feier zum 60-jährigen Jubiläum des Bundesnachrichtendienstes begleitet.
Gekaufte Politikergespräche: "Wussten die Politiker vielleicht doch von zweifelhaften Geschäftspraktiken? Falls ja, von welchen?" – Jost Müller-Neuhof (Tsp) meint, dass es um die bezahlten Gespräche mit SPD-Politikern weiterhin mehr Fragen als Antworten gebe. Juristisch sei an allem wenig auszusetzen, da eine GmbH kassiert habe, nicht die Partei. Müller-Neuhof findet es allerdings sinnvoll, das Thema Sponsoring umfassend im Parteiengesetz zu regeln.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/vb
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 29. November 2016: Historisches NS-Urteil / Kopftuch für Erzieherin / Anzeige gegen Assad . In: Legal Tribune Online, 29.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21260/ (abgerufen am: 04.05.2024 )
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