Nach neuen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft hat der Pfleger Niels H. deutlich mehr Menschen getötet als bisher erwartet. Außerdem in der Presseschau: Erste Verurteilung nach Ausschreitungen in Hamburg und neue Klagen gegen Volkswagen.
Thema des Tages
StA Oldenburg – Patienten-Morde: Die Anzahl der Opfer von Niels H., der als Krankenpfleger mehreren Patienten tödliche Medikamente verabreicht hat, ist wahrscheinlich deutlich höher als erwartet. Der heute 40-Jährige wurde bereits wegen zweifachen Mordes, drei versuchter Morde sowie einer gefährlichen Körperverletzung zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, hatte jedoch vor Gericht deutlich mehr Taten gestanden. Daraufhin haben Polizei und Staatsanwaltschaft weitere Patientenakten gesichtet, Leichen exhuminiert und untersucht. Die Staatsanwaltschaft geht jetzt von mindestens 84 weiteren Tötungen aus, die zum Teil in einer Oldenburger Klinik durchgeführt wurden, an der der Pfleger vorher beschäftigt war. Obwohl früh Verdachtsmomente vorgelegen hätten, sei nicht eingeschritten worden. Über die größte Mordserie in der Kriminalgeschichte der Bundesrepublik schreiben Welt (Gisela Friedrichsen), SZ (Laura Hertreiter), FAZ (Reinhard Bingener) und taz (Benno Schirrmeister).
Heribert Prantl (SZ) sieht in dem "Wegdrängen" von Verdacht ein "mörderisches Organisationsverschulden". In den kommenden Strafprozessen gehe es vor allem darum, "wo und warum Kontrollen nicht funktioniert haben".
Rechtspolitik
Musterfeststellungsklage: Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) hat die Kritik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) an seinem Gesetzentwurf zur Einführung einer Musterfeststellungsklage zurückgewiesen. Nachdem SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz dem Bundeskanzleramt eine Blockadehaltung vorgeworfen hatte, hatte Merkel gesagt, der Gesetzentwurf sei noch mangelhaft gewesen. Über den Streit schreiben die FAZ (Hendrik Wieduwilt) und lto.de.
Machbarkeit der Wahlprogramme: zeit.de (Ferdinand Otto/Sven Stockrahm/Fabian Mohr) untersucht die Machbarkeit von Wahlprogrammen. Dabei wird auch auf die rechtliche Umsetzbarkeit von Forderungen eingegangen, wie etwa beim Einsatz der Bundeswehr im Innern oder dem Kommunalwahlrecht für Ausländer.
Justiz
BGH zu Umgangsrecht für Großeltern: Jost Müller-Neuhoff (Tsp) kommentiert den Beschluss des Bundesgerichtshofs, nach dem die Eltern eines Kindes einen "Erziehungsvorrang" haben und daher den Großeltern den Umgang verweigern könnten, wenn sonst "Loyalitätskonflikte" drohten. Das Ergebnis sei dürftig, da Großeltern oft die besseren Eltern seien.
OLG Celle zu Schleichwerbung im Netz: Das Oberlandesgericht Celle hat die Drogeriekette Rossmann verurteilt, weil das Unternehmen Werbung durch sogenannte "Influencer" in sozialen Medien nicht hinreichend gekennzeichnet habe. Der Hashtag "#ad" in einem Instagram-Beitrag reiche nicht aus, wenn nicht auf den ersten Blick erkennbar sei, dass es sich um Werbung handele. Die fehlende Kennzeichnung durch einen Instagram-Star müsse sich Rossmann auch zurechnen lassen. Die Hintergründe des Falls erklären das Hbl (Heike Anger) und heise.de (Joerg Heidrich).
AG Hamburg zu Ausschreitung bei G-20-Gipfel: Das Amtsgericht Hamburg hat in einem ersten Verfahren einen G-20-Gegner zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der 21-Jährige zwei leere Bierflaschen auf Polizeibeamte geworfen habe. Er habe sich des schweren Landfriedensbruchs, gefährlicher Körperverletzung und eines besonders schweren Angriffs auf Vollstreckungsbeamte strafbar gemacht. Mit dem Strafmaß ist das Gericht über die Forderung der Staatsanwaltschaft hinausgegangen. Dies wurde auch mit der Strafschärfung für Widerstandshandlungen begründet. Es berichten die taz (Katharina Schipkowski) und zeit.de.
Gisela Friedrichsen (welt.de) hält das Urteil nicht für überhart. Die Richterin werde sich schon ein Bild von den Umständen der Tat und der Person gemacht haben. Zu begrüßen sei zudem, "dass hier die Strafe auf dem Fuß folgte".
LG München I – Amoklauf: Vor dem Landgericht München I hat der Prozess gegen einen Mann begonnen, dem vorgeworfen wird, die Waffen für den Amoklauf vor etwa einem Jahr verschafft zu haben. Der Angeklagte räumte die Waffendeals ein und bat bei den Opfern des Amoklaufs um Entschuldigung, bestritt jedoch, von den Plänen gewusst zu haben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm fahrlässige Tötung in neun Fällen vor. Den Prozessauftakt schildern die FAZ (Constantin van Lijnden), die Welt (Bernhard Hiergeist) und die taz (Konrad Litschko).
Tom Sundermann (zeit.de) sieht in den Äußerungen des Angeklagten ein "zweifelhaftes Geständnis". Von echter Reue sei wenig zu spüren. Für Reinhard Müller (FAZ) zeigt der Amoklauf, wie einfach illegale Waffen zu besorgen seien. Der Prozess müsse jetzt aufklären, ob der Angeklagte das Blutbad vorhersehen konnte.
LG Stuttgart – Schlecker: Am kommenden Montag wird das Verfahren gegen den früheren Drogerieunternehmer Anton Schlecker fortgesetzt. Ihm wird vorgeworfen, 25 Millionen Euro zur Seite geschafft zu haben, als dem Unternehmen bereits die Zahlungsunfähigkeit drohte. Den bisherigen Verlauf des Prozesses schildert die FAZ (ols).
FG Düsseldorf – Steuerdaten für Zoll: Das Finanzgericht Düsseldorf hat dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob die Zollbehörden private Steuerdaten von den Beschäftigten von Unternehmen abfragen dürfen. Dies hat eine Zollrechtsreform von vergangenem Jahr ermöglicht, die bestimmten Unternehmen, die als zuverlässig gelten, Privilegien einräumt. Die Datenabfrage umfasst auch die Steuer-ID, mit der weitere Daten abgefragt werden können. Laut Zollbehörden geschehe dies jedoch nur, wenn sie von schweren oder wiederholten Verstößen gegen steuerrechtliche Vorschriften erführen. Das Finanzgericht Düsseldorf hat dennoch Bedenken, weil auf Daten zugegriffen werde, die ursprünglich für andere Zwecke erhoben worden seien. Die FAZ (Hendrik Wieduwilt) berichtet.
BAW – Rechte Gewaltplanungen: Die Bundesanwaltschaft hat Räumlichkeiten von zwei Personen durchsucht, die geplant haben sollen, linke Politiker zu internieren und umzubringen. Es handelt sich um einen Polizeibeamten und einen Rechtsanwalt. Sie sollen sich laut SZ (Hans Leyendecker/Georg Mascolo), taz (Andreas Speit) und focus.de (Joseph Hausner) in Chats über die aus ihrer Sicht verfehlte Flüchtlingspolitik ausgetauscht und auf den Fall einer erwarteten Krise vorbereitet haben.
ArbG Heilbronn – Audi-Ingenieur: Nach Informationen der SZ (Max Hägler/Klaus Ott) hat Volkswagen einem entlassenen Ingenieur, mit dem der Konzern sich in einem arbeitsrechtlichen Rechtsstreit befindet, den Entwurf für eine "Ruhensvereinbarung" zukommen lassen. Nach dieser soll das Verfahren bis Ende 2017 ruhen. Damit, so wird kritisiert, versuche der Konzern, das Bekanntwerden brisanter Informationen zu verhindern, bis etwaige Schadensersatzansprüche verjährt sind.
Neue Klagen gegen VW: Der ehemalige Bundesinnenminister und FDP-Politiker Gerhard Baum hat angekündigt, mit seinem Anwaltsbüro und einer Partnerkanzlei bis Jahresende für 5.000 VW-Kunden Klage gegen den Autokonzern einzureichen. Er wirft VW vor, sich durch eine Hinhaltetaktik in die Verjährung retten zu wollen. Bisher sind nach Angaben von Volkswagen bereits 5.000 Klagen anhängig. Zudem hätten 25.000 Kunden Schadensersatzansprüche an die Kanzlei Hausfeld abgetreten, die vor dem Landgericht Braunschweig klage, schreibt die SZ (Max Hägler/Klaus Ott).
Recht in der Welt
Polen – Justizreform: Polen hat die Frist zur Beseitigung der von der EU kritisierten rechtsstaatlichen Missstände verstreichen lassen. Stattdessen wirft die Regierung der EU-Kommission vor, ihre Kompetenzen zu überschreiten. Die Organisation der Gerichte liege in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Die Kommission hat unter anderem ein Gesetz kritisiert, das dem Justizminister die Befugnis einräumt, die Präsidenten von Gerichten aller Instanzen abzulösen. Die Kommission will jetzt weitere Schritte prüfen. Mit dem Streit befassen sich die FAZ (Reinhard Veser) und zeit.de.
Polen – Justizkrise: Die SZ (Florian Hassel) schildert den Fall des polnischen Transportunternehmers Marek Jarocki, der mit einer Klage gegen ein Knöllchen in die Justizkrise in Polen geraten ist. Gegen den Bußgeldbescheid zog der Unternehmer bis vor das Verfassungsgericht, wo er 2015 scheiterte. Jetzt verlangt er vor einem Warschauer Gericht Schadensersatz und argumentiert, dass das Gericht nicht richtig besetzt gewesen sei. Am 12. September will der Oberste Gerichtshof darüber entscheiden, ob Julia Przyłębska rechtmäßige Präsidentin des Verfassungsgerichts ist.
Guatemala – Ausweisung von UN-Juristen: Guatemalas Präsident Jimmy Morales ist mit dem Versuch gescheitert, den Leiter der UN-Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala, Iván Velásquez Gómez, auszuweisen. Das Verfassungsgericht hat die Anordnung des Präsidenten vorerst gestoppt, wie die FAZ (Matthias Rüb) und spiegel.de schreiben. Die taz (Andreas Behn) stellt den UN-Juristen vor, der sich bereits in seiner Heimat Kolumbien als engagierter Staatsanwalt einen Namen gemacht habe.
Sonstiges
Kirchhof und Bausback im Interview: Im Interview mit der FAZ (Reinhard Müller) äußern sich der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Ferdinand Kirchhof, und der bayerische Justizminister Winfried Bausback unter anderem zum Umgang mit Islam und Islamismus, dem Asylrecht und der eingeführten "Ehe für alle". Bausback spricht sich für ein Verbot der Vollverschleierung aus und gibt an, die gleichgeschlechtliche Ehe gutachterlich prüfen zu lassen. Kirchhof mahnt zur Zurückhaltung bei Änderungen des Grundgesetzes bezüglich der Religionsfreiheit und sieht im Asylrecht ein Vollzugsdefizit. In einem möglichen Verfahren zur "Ehe für alle" müsse sich das Bundesverfassungsgericht mit der Möglichkeit eines Verfassungswandels auseinandersetzen.
Fortbildungspflicht für Beiratsmitglieder: Rechtsanwalt Niels George kritisiert im Hbl die Anforderungen, die die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht an Beiräte von Unternehmen stellt. Diese müssten sich ständig fortbilden, um einer Haftung zu entgehen. Dadurch würde die bisherige Praxis unmöglich gemacht, Seniorchefs in den Beirat zu berufen.
Das Letzte zum Schluss
Polizeihund beißt Katze: Weil der Polizeihund "Chuck" den Familienkater "Tiger" nicht besonders mochte, muss das Land Niedersachsen 4.000 Euro Schadensersatz zahlen. Der Diensthund hatte den Kater beim Gassigehen gebissen. iurratio.de (Joelle Wyrwa) fasst das Urteil des Landgerichts Hildesheim zusammen.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/dw
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 29. August 2017: Mehr Patienten-Morde / Harte Strafe für G-20-Gegner / Neue Klagen gegen VW . In: Legal Tribune Online, 29.08.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24181/ (abgerufen am: 06.05.2024 )
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