Der Mordparagraf stammt aus dem Jahr 1941, jetzt soll er reformiert werden. Außerdem in der Presseschau: Google und kein Ende, asymmetrische Entscheidungsanreize im Sorgerecht, Banker auf Hamburger Anklagebänken, Halbzeit im Mladic-Verfahren, USA, China und die Cyber-Spionage, europäische Mythen im Fakten-Check und neue Warnhinweise.
Thema des Tages
Reform der §§ 211 f. StGB: Am Dienstag tritt im Bundesjustizministerium zum ersten Mal eine Kommission aus Strafrechtswissenschaftlern und Strafrechtspraktikern zusammen, um über eine Reform der geltenden Rechtslage zu den Tötungsdelikten zu beraten. In seiner jetzigen Fassung stammt der § 211 StGB bis auf die Strafdrohung aus dem Jahr 1941, ihn zeichnet damit ein "braune Schleimspur" aus, zitiert die SZ (Heribert Prantl) den Richter am Bundesgerichtshof Thomas Fischer. Auch Justizminister Heiko Maas (SPD) hatte sich für eine Reform eingesetzt, die nun durch Mitabeit von Rechtsprofessoren und Praktikern aus Anwaltschaft, Justiz und Polizei vorangetrieben werden solle. Neben der Beschreibung eines Tätertypus und der hierzu verwendeten, problematischen Vokabeln der Strafnorm stehe auch das Problem des absoluten Strafausspruchs auf dem Prüfstand. Wie die weithin bekannten Fälle Haustyrannen- und Onkelmord belegt hätten, sei die lebenslängliche Haftstrafe nicht in jedem Mordfall schuldangemessen. Ein Vorschlag des Deutschen Anwaltvereins sehe daher einen Grundtatbestand des Totschlages und abgestufte Strafen bis zum Lebenslänglich vor.
Rechtspolitik
Google: Das Feuilleton der FAZ (Evgeny Morozov) befasst sich mit einer Äußerung des Google-Chefs Eric Schmidt, der nach dem gegen seine Firma gerichteten Urteil des Europäischen Gerichtshofs von einem Konflikt zwischen dem "Recht auf Vergessenwerden und dem Recht auf Wissen" gesprochen hatte. Der Beitrag identifiziert das letztgenannte Recht als vor allem für "Banken und Versicherungen" interessant, denn für diese Institutionen wären "alle Daten Kreditdaten." Googles Modell sei demgegenüber "nicht so furchtbar anders," betroffenen Bürgern müsse daher mit dem "Recht auf Vergessenwerden" die Möglichkeit gegeben werden, "die Dinge selbst in die Hand zu nehmen".
Bundesinnenmister Thomas de Maizére (CDU) quittierte das Urteil "mit einem inneren Schmunzeln". Er habe sich schon während seiner Amtszeit für ein "Recht auf Vergessen" ausgesprochen, zitiert ihn die Welt (M. Bewarder/U. Clauß/J. Gaugele). Nun müsse eine europäische Datenschutzgrundverordnung einen einheitlichen Rechtsrahmen schaffen.
Rente: Die Regierungskoalition hat sich auf eine Neuregelung verständigt, derzufolge Arbeitnehmer auch nach Erreichen der Regelaltersgrenze weiterarbeiten können. Heribert Prantl (SZ) begrüßt dies als "Selbstbestimmung im Alter". Der Staat sei "nicht der "Vormund seiner Bürger" und könne angesichts unterschiedlicher Lebens- und Erwerbsverläufe eine starre Altersgrenze nicht allgemeingültig bestimmen.
Länderfinanzausgleich: Vor dem Hintergrund der beim Bundesverfassungsgericht eingereichten Klage der Länder Bayern und Hessen gegen den Länderfinanzausgleich setzt sich der Ministerpräsident Sachsens, Stanislaw Tillich (CDU), in einem Gastbeitrag für die FAZ mit den Ursachen der mangelhaften Finanzausstattung der Nehmerländer auseinander. Der Autor sieht diese in der ungerechten Verteilung des Steueraufkommens. Föderale Unterschiede in der Steuerkraft würden durch die progressive Einkommensteuer zusätzlich verstärkt.
Verfassungsrichterin: Der Wahlausschuss des Bundestages wird aller Voraussicht nach am Mittwoch die Präsidentin der Bucerius Law School in Hamburg, Doris König, zur Richterin am Bundesverfassungsgericht wählen, meldet die taz (Christian Rath). Die Völkerrechtlerin tritt die Nachfolge von Gertrude Lübbe-Wolff an. Sie wurde von der SPD vorgeschlagen.
Medienrecht: Über Bestrebungen zu einer umfassenden Reform des Medienrechts schreibt die taz (Wilfried Urbe). Derzeit würden an einem im Sommer vorliegenden Gutachten zu einem neuen Medienstaatsvertrag gearbeitet. Besonders reformbedürftig erscheine die bisherige Trennung von Internet- und Fernsehangeboten.
Justiz
BVerfG zu Sorgerecht: In seiner Kolumne verweist Maximilian Steinbeis (verfassungsblog.de) auf mehrere Kammerbeschlüsse des Bundesverfassungsgerichts, nach denen auch der vorläufige Entzug des Sorgerechts als irreversibler Eingriff in das Erziehungsrecht der Eltern und das Recht der Kinder, nicht von ihren Eltern getrennt zu werden, nur bei massiven und gegenwärtigen Gefährdungen für das Kind in Betracht kommt. Gleichwohl seien nach dem Autor "asymmetrische Entscheidungsanreize" für zuständige Jugendamts-Mitarbeiter und Richter beachtlich. Angesichts des enormen öffentlichen Drucks wolle niemand den "nächsten Fall Kevin" verantworten und bevorzuge deshalb sicherlich die Aufhebung "in Karlsruhe".
OLG München – NSU-Prozess: Im vor dem Oberlandesgericht München laufenden Verfahren gegen Beate Zschäpe wurde ein Zeuge vernommen, der dem Trio Hilfe nach dessen Untertauchen zukommen ließ. Spiegel.de (Gisela Friedrichsen) berichtet.
LSG zu Hartz IV: Das Landessozialgericht Schleswig-Holstein hat das Konzept der Landeshauptstadt Kiel zur Berechnung von Mietobergrenzen für die Empfänger von Hartz IV im Grundsatz gebilligt. Nach der Muster-Entscheidung müssten die Jobcenter für einen Einpersonenhaushalt monatlich lediglich 4,50 Euro mehr bezahlen, meldet lto.de.
LG Hamburg – Wölbern: Über den Prozessauftakt im Untreue-Verfahren gegen den früheren Chef der Firma Wölbern Invest vor dem Landgericht Hamburg berichten SZ (Christoph Giesen/Marc Widmann) und spiegel.de (Christoph Rottwilm). Der Angeklagte soll fast 150 Millionen Euro aus geschlossenen Immobilienfonds seiner Firma abgezweigt haben, zum einen um Fehlbeträge in anderen Fonds zu decken, zum anderen für private Zwecke. Seine Verteidiger haben nun für den Dienstag eine allgemeine Erklärung angekündigt. Der Angeklagte befindet sich seit dem letzten September in Untersuchungshaft.
LG Hamburg – HSH Nordbank: Vor dem Landgericht Hamburg muss sich der komplette frühere Vorstand der HSH Nordbank wegen schwerer Untreue durch ein 2007 abgeschlossenes Kreislaufgeschäft in Milliardenhöhe verantworten. Während die meisten der Angeklagten bereits im März in persönlichen Erklärungen die mit dem Geschäft verbundenen Risiken als "vertretbar" bezeichneten, stritt der Ex-Vorstandschef Dirk Nonnenmacher nach dem Bericht des Handelsblatts (Dani Parthum) nun eine Mitwirkung an der Transaktion ab. Seine Unterschrift habe lediglich seine Kenntnisnahme zum Ausdruck gebracht.
LG Essen – Thomas Middelhoff: Das Handelsblatt (Christoph Schlautmann) schreibt über das Verfahren gegen den ehemaligen Arcandor-Chef Thomas Middelhoff vor dem Landgericht Essen. Der wegen Untreue Angeklagte habe erklärt, die ihm zur Last gelegten privaten Charterflüge nur auf Drängen der Mehrheitsaktionärin Madeleine Schickedanz unternommen zu haben. Nachdem es auf einem von ihm genutzten Linienflug zu einer Bombendrohung gekommen sei, habe ihm Schickedanz faktisch verboten, noch öffentlich zu fliegen. In der Mittagspause der Verhandlung übergab eine Gerichtsvollzieherin dem Manager eine von einem Insolvenzverwalter stammende Forderung über knapp 3,5 Millionen Euro. Die Forderung betreffe Bonus-Zahlungen aus der Zeit als Arcandor-Chef, schreibt die Zeitung (Sönke Iwersen) in einem weiteren Beitrag.
AnwG Düsseldorf zu Zustellung: In der vergangenen Woche entschied das Anwaltsgericht Düsseldorf, dass auch die Berufspflicht einen Anwalt nicht zur Entgegennahme formaler Zustellungen des Gegenanwalts entgegen der Weisungen des eigenen Mandanten verpflichtet. In einem Gastbeitrag für lawblog.de erklärt Christian Franz, der das Verfahren durch eine Selbstanzeige in Gang gebracht hatte, die Rechtslage und fordert, die wirksame Vollziehung einer Zustellung "an einen objektiven Akt zu knüpfen, der außerhalb der Einflusssphäre des Schuldners liegt".
StA Berlin zu NPD-Wahlplakat: Die Berliner Staatsanwaltschaft hat ein Ermittlungsverfahren gegen die NPD wegen Volksverhetzung eingestellt. Der Wahl-Slogan "Geld für die Oma statt für Sinti & Roma" stelle sich "zwar als geschmacklos, jedoch nicht als strafrechtlich relevant dar," zitiert die taz-Berlin (Markus Mayr) aus dem Einstellungsbescheid und stellt auch die Anzeigenstellerin vor.
Recht in der Welt
IStGH – Kriegsverbrechen: Die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs hat ein Vorermittlungsverfahren gegen britische Soldaten wegen mutmaßlicher Misshandlungen irakischer Gefangener eingeleitet. Der wissenschaftliche Mitarbeiter Alexander Heinze erklärt für lto.de den Fall und den Unterschied zu einem förmlichen Ermittlungsverfahren. Letzteres könne nur bei einem unwahrscheinlichen Nachweis nicht ausreichender innerbritischer Ermittlungen eingeleitet werden. Bei einem begrenzten Budget müsse sich das Gericht jedoch ohnehin darauf beschränken, Zeichen gegen schwerste völkerrechtliche Verbrechen zu setzen. Diese Funktion sei durch die aktuellen Vorermittlungen erfüllt.
ICTY – Ratko Mladic: Die SZ (Ronen Steinke) berichtet über das Verfahren gegen Ratko Mladic vor dem UN-Tribunal für das frühere Jugoslawien. Dort beginnt nun die "zweite Halbzeit," in der die Verteidigung das Wort hat und ihre Zeugen präsentiert. Den Beginn machte ein Offizier aus der Truppe des Angeklagten. Durch Karten habe der Zeuge nachweisen wollen, dass der Mladic zur Last gelegte Beschuss einer Schule in Sarajevo nicht von dessen Einheit verübt werden konnte.
USA – Richterin Sotomayor: Auch Juliane Mendelsohn (verfassungsblog.de) stellt Sonia Sotomayor, Richterin am Supreme Court der USA, anlässlich der Vorstellung ihrer nun in Deutsch vorliegenden Biographie vor. Der Beitrag kontrastiert das Wirken der Richterin mit jenem von Clarence Thomas, dem anderen nicht-weißen Richter am höchsten Gericht der USA.
USA/China – Cyber-Spionage: Vor einem Gericht in Pittsburgh/USA sind Angehörige einer chinesischen Militäreinheit wegen Spionage angeklagt worden. Die Angeklagten sollen versucht haben, amerikanische Unternehmen auszuspionieren. Der Bericht der SZ (Nicolas Richter) gibt den Justizminister des Landes, Eric Holder, mit der Aussage wieder, dass die USA nun zum ersten Mal "gegen staatliche Akteure strafrechtliche Vorwürfe" wegen Cyber-Spionage erheben würden. Nach dem Bericht der FAZ (Patrick Welter) haben die Anklagen "weitgehend symbolischen Charakter". China würde die Angeklagten nicht ausliefern. Die Volksrepublik solle jedoch zur Einstellung von Industriespionage bewegt werden und dazu, "geistiges Eigentum besser zu achten".
Sonstiges
Europa: Die Europäische Union gilt gemeinhin als regulierungswütige Überbehörde. Das einige der hierfür angeführten Fälle auf unzutreffenden Informationen beruhen, belegt die taz (Jost Maurin) mit Beispielen. So habe sich die Kommission trotz Forderungen von Branchenverbänden und Gewerkschaften bislang tatsächlich geweigert, die Rutschfestigkeit der Fußböden in Friseursalons zu regeln. Auch zeit.de (Claus Hecking) bietet einen "EU-Mythen-Check".
Edward Snowden: Die taz (Johannes Gernert) befragt den ehemaligen technischen Direktor der NSA, William Binnen, zu den Möglichkeiten des Whistleblowers Edward Snowden, vor dem Bundestags-Untersuchungsausschuss auszusagen, dessen Gefahren bei einem Aufenthalt in Deutschland, den Aussichten auf einen fairen Prozess in den USA und aktuellen Spionage-Tätigkeiten des Geheimdienstes.
BND-Überwachung: Ein von Rechtsprofessor Matthias Bäcker für den NSA-Untersuchungsausschuss angefertigtes Rechtsgutachten kommt zu dem Schluss, dass nach der geltenden Rechtslage der Bundesnachrichtendienst berechtigt sein könnte, den Internet-Verkehr von und nach Deutschland nahezu vollständig mitzuschneiden. Dies berichtet netzpolitik.org (Ulf Buermeyer) anhand einer vorab vorliegenden Stellungnahme.
Verbraucherrechte-Richtlinie: Im kommenden Monat tritt eine neue Verbraucherrechte-Richtlinie mit zahlreichen für die Betreiber von Online-Shops relevanten Änderungen in Kraft. Thomas Stadler (internet-law.de) fasst die Neuerungen bei den Informationspflichten zusammen.
Das Letzte zum Schluss
Warnhinweise: Der Versuch, politisch unkorrekte Inhalte zu ächten, treibt gerade in den USA mitunter seltsame Blüten. Auch der jetzigen Diskussion an Universitäten des Landes, Studienausgaben von Literaturklassikern mit Warnhinweisen zu versehen, dürfte Häme gewiss sein. Dabei stützt sich die Argumentation auf durchaus beachtliche, medizinische Befunde: Darstellungen von Selbstmorden, rassistischen Diskriminierungen oder sexueller Gewalt können als sogenannte "Trigger" zur Gefährdung der psychischen Gesundheit führen. In einem Kommentar weist Wieland Freund (Welt) zudem auf ein historisches Vorbild hin. Im ausgehenden 18. Jahrhundert untersagte der Leipziger Stadtrat die Verbreitung des Goetheschen "Werther," weil der "eine Empfehlung des Selbst Mordes" enthalte.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 20. Mai 2014: Reform des § 211 StGB - Banker auf der Anklagebank - Cyber-Spionage vor Gericht . In: Legal Tribune Online, 20.05.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12024/ (abgerufen am: 18.05.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag