Wer ohne Helm Fahrrad fährt, hat deshalb noch keine Mitschuld an den Schäden eines Unfalls, entschied der BGH am gestrigen Dienstag. Außerdem in der Presseschau: das Kooperationsverbot bei der Hochschulfinanzierung soll weichen, kein Beweisverwertungsverbot beim Mithören durch Telefonlautsprecher, Norwegen will ein Bettelverbot einführen, und wie das Übergewicht beim Drogenschmuggel dienlich sein kann.
Thema des Tages
BGH zu Mitverschulden: Eine gesetzliche Pflicht zum Tragen von Fahrradhelmen gibt es nicht. Doch das Oberlandesgericht Schleswig hatte letztes Jahr den Schadensersatzanspruch einer Klägerin um 20 Prozent gekürzt, weil sie beim Unfall keinen Fahrradhelm getragen hatte. Auf die Revision hin, hat der Bundesgerichtshof am gestrigen Dienstag entschieden, dass eine Obliegenheit zum Tragen eines Helms derzeit nicht besteht, meldet spiegel.de.
Geklagt hatte eine Frau, die beim Zusammenstoß mit einer plötzlich vor ihr geöffneten Autortür vom Fahrrad gestürzt war und sich schwere Kopfverletzungen zugezogen hatte. Während das OLG Schleswig noch darauf abstellte, dass das Tragen eines Helms zu den üblichen Schutzmaßnahmen eines ordentlichen und vernünftigen Fahrradfahrers gehöre, lehnte der BGH diese Ansicht ab. Die Richter argumentierten, dass ein Mitverschulden sich weder aus einer gesetzlichen Pflicht noch aus einem allgemeinen Verkehrsbewusstsein ergebe. Dabei habe sich das Gericht auf Statistiken berufen, wonach lediglich elf Prozent aller Fahrradfahrer mit Helm unterwegs seien. Die SZ (Jan Bielicki), taz (Christian Rath) und FAZ (Joachim Jahn) stellen den Fall und das Urteil ausführlich dar. Die gesetzliche Einführung einer Helmpflicht sei zudem nicht geplant.
Alfred Scheidler fasst auf lto.de anlässlich des Urteils die bisherige Rechtssprechung der Oberlandesgerichte zusammen.
Malte Kreutzfeldt (taz) begrüßt, dass der BGH "auf die Einführung einer Helmpflicht durch die Hintertür verzichtet hat". Auch Jan Bielicki (SZ) und Holger Dambeck (spiegel.de) halten das Urteil für vernünftig, weil die Nutzung des Fahrrads insgesamt gesund und umweltfreundlich sei, und durch eine Obliegenheit bzw. indirekte Pflicht zum Tragen eines Helms nicht eingeschränkt werden sollte.
Rechtspolitik
EU-Kommissionspräsident: Professor Joachim Wieland beschäftigt sich auf lto.de mit der anstehenden Wahl des Präsidenten der EU-Kommission. Auch wenn formell keine Pflicht für den Europäischen Rat bestehe, das Ergebnis der Europawahlen zu berücksichtigen, hätten die Wahlen "eine so starke demokratische Legitimation geschaffen, dass die mittelbare nationale Legitimation der Ratsmitglieder nicht mehr ausreicht, um sich darüber hinweg zu setzen."
Hochschulfinanzierung: Die FAZ (Heike Schmoll), die Welt (Thomas Vitzthum) und die taz (Anna Lehmann) berichten von einem Referentenentwurf des Bundesbildungsministeriums, der eine Änderung von Art. 91b Grundgesetz vorsieht, um die Kooperation von Bund und Ländern bei der Finanzierung von Forschungseinrichtungen an den Universitäten zu erleichtern. Aufgrund der jetzigen Formulierung sei bisher nur die vorübergehende Förderung von Projekten problemlos möglich gewesen.
Euro-Stabilitätspakt: Nach Darstellung der SZ (Cerstin Gammelin/Claus Hulverscheidt) sind die Regierungen von Frankreich und Italien bestrebt, die Regelungen des Euro-Stabilitätspaktes aufzuweichen. Die kreditfinanzierten Investitionen in "Wachstum und Beschäftigung" sollen künftig nicht auf das Budgetdefizit angerechnet werden. Bei dem Vorstoß werden sie von Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) unterstützt. Dies wiederum sei weitgehend auf Ablehnung beim Koalitionspartner gestoßen, so die FAZ (Manfred Schäfers/Christopher Schwarz) und das Handelsblatt (Jan Hildebrand/Klaus Stratmann).
Regierungsvorhaben und WM: Auch focus.de (Julian Rohrer) fragt sich, ob die Regierung die Fußballweltmeisterschaft der Männer ausnutze, "um unpopuläre Projekte durchzudrücken". Der Autor führt die anstehenden Themen an: geplant sei unter anderem die Vorstellung der Pkw-Maut, eine Bundestagsdebatte zum Drohnen-Einsatz und die Reform der Lebensversicherung.
Rockerbanden: In einem Gastbeitrag in der SZ befasst sich der Vorsitzende des Bundesverbands Deutscher Kriminalbeamter André Schulz mit den Rockerstrukturen, die in den Deliktsfeldern der organisierten Kriminalität mittlerweile eine bedeutende Rolle einnehmen würden. Er plädiert für eine Ausweitung der Ermittlungsbefugnisse von Kriminalbeamten und Gesetzesreformen "gerade im Bereich der Vermögensabschöpfung und der Geldwäsche", um der neuen Bedrohung Herr zu werden.
Justiz
BVerwG zum Asylverfahren: Wie lto.de meldet, hat das Bundesverwaltungsgericht am gestrigen Dienstag entschieden, dass ein Flüchtling, der bereits in einem anderen EU-Land Flüchtlingsschutz genießt, keinen Anspruch auf Asyl in Deutschland hat. Ein erneuter Asylantrag sei unzulässig, weil bereits ein Abschiebungsschutz im Hinblick auf das Herkunftsland bestehe.
OLG Koblenz zum Beweisverwertungsverbot: Wie lawblog.de (Udo Vetter) meldet, hat das Oberlandesgericht Koblenz im Januar dieses Jahres entschieden, dass ein Zeuge vernommen werden kann, wenn er bei einem Telefonat als Dritter im Raum anwesend war und der Lautsprecher des Telefons ohne konkreten Hinweis auf seine Anwesenheit angeschaltet wurde. Der Gesprächspartner im vorliegenden Fall habe lediglich darauf hingewiesen, dass er das Telefon "laut stellen" werde, die dritte Person aber nicht erwähnt. Der Hinweis impliziere ohne Weiteres die Anwesenheit einer dritten Person, sodass das Gespräch mit Zustimmung mitgehört worden sei, so das Gericht.
VGH NRW – Dienstbezüge: Die FAZ (Reiner Burger) bringt einen Vorbericht zur mündlichen Verhandlung im Normenkontrollverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalen gegen das "Gesetz zur Anpassung der Dienst- und Versorgungsbezüge". Dieses sieht eine abgestufte Erhöhung der Beamtenbezüge vor, und nimmt die höheren Besoldungsgruppen von einer Erhöhung ganz aus, was gegen die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums verstoßen könnte. Der Autor stellt aktuelle Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Beamtenbesoldung vor, die für die Verhandlung entscheidend sein könnten.
StA Gera – Mord aus NSU-Umfeld? Wie die SZ (Annette Ramelsberger/Tanjev Schultz) und FAZ (Karin Truscheit) berichten, hat die Staatsanwaltschaft Gera die Ermittlungen in einem Fall von Kindstötung aus den 90er Jahren wieder aufgenommen. Die Spur führe zu einem mutmaßlichen Unterstützer des NSU, der bereits damals als Zeuge vernommen worden war. Auch die aktuellen Vernehmungen in der rechten Szene hätten weitere Hinweise auf die Person gegeben, allerdings habe die Staatsanwaltschaft einen konkreten Verdacht bisher verneint.
Polizeieinsätze gegen Fußballfans: Der wissenschaftliche Mitarbeiter Christian Ernst thematisiert auf juwiss.de die Einsätze der Polizei gegen Fußballfans anhand von zwei aktuellen Beispielen. Die Strittigkeit der gesetzlichen Grundlage und das harte Durchgreifen der Polizei ließen vermuten, dass es in solchen Fällen eher um eine Demonstration der Stärke gehe.
EuGH/EGMR: Anlässlich der Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zum EMRK-Beitritt der EU befasst sich Thomas Streinz auf verfassungsblog.de mit dem strittigen Verhältnis des EuGH zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Das von Kritikern befürchtete "forum shopping" ließe sich seiner Meinung nach mithilfe des Unionsrechts lösen und stehe dem Beitritt nicht entgegen.
Recht in der Welt
USA/Argentinien – Schulden: Der Supreme Court der USA hat am Montag bestätigt, dass Argentinien zwei Hedgefonds aus den USA den gesamten Forderungsbetrag der Schuldverschreibungen auszahlen muss. Nach dem Staatsbankrott von 2001/2002 habe das Land den Gläubigern reduzierte Angebote unterbreitet, die von beiden aber abgelehnt worden seien. Unter anderem die SZ (Peter Burghardt), die taz (Jürgen Vogt) und die Welt (Daniel Eckert/Holger Zschäpitz) beschäftigen sich mit den möglichen Folgen der Zahlungsverpflichtung für das Land. Claus Hulverscheidt (SZ) fordert ein weltweit geltendes Insolvenzrecht, damit im Vorhinein klar sei, "was im Fall einer Zahlungsunfähigkeit des Schuldners geschieht".
Norwegen – Bettelverbot: Die taz (Reinhard Wolf) berichtet von einem geplanten Bettelverbot in Norwegen, das ab 2015 auf nationaler Ebene gelten soll. Es sei mit zweifelhaften Statistiken begründet worden und die Debatte um das Gesetz habe gezeigt, dass es sich gegen ethnisch definierte Minderheiten richte. Bei Verstößen drohen Bußgelder und Haftstrafen.
Großbritannien – Überwachung: Einige Nichtregierungsorganisationen haben vor dem regierungsunabhängigen Investigatory Powers Tribunal in Großbritannien Beschwerde gegen die Überwachungstätigkeit der britischen Geheimdienste eingelegt. netzpolitik.org (Kilian Vieth) stellt die Stellungnahme von Charles Farr, dem Leiter der Sicherheits- und Antiterrorbehörde im Innenministerium, vor. Er habe jede Kommunikation zu einer externen erklärt, wenn die genutzte "Plattform" (wie bei Facebook, Twitter und Google) eine ausländische sei, so dass der Richtervorbehalt nicht gelte und die Überwachung zulässig sei.
Sonstiges
65 Jahre Grundgesetz: In einem ausführlichen Essay im Handelsblatt bespricht der Rechtsprofessor und ehemaliger Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof aktuelle grundrechtsrelevante Fragestellungen im Zusammenhang mit modernen technischen Entwicklungen. Die Themen sind unter anderem: geistiges Eigentum, Datenschutz, neue Finanzmarktformen und das Verhältnis zu anderen Rechtsordnungen.
Das Letzte zum Schluss
Körpergewicht hilft beim Drogenschmuggel: spiegel.de berichtet von einem einfallsreichen Drogenschmuggler aus den USA. Er habe seinen eigenen Körper als Versteck genutzt und mehrere Gramm Marihuana und Kokain zwischen seinen Hautfalten untergebracht. Aufgeflogen sei er bei einer Verkehrskontrolle, weil er nicht angeschnallt gewesen war.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Am Freitag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/ms
(Hinweis für Journalisten)
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 18. Juni 2014: Keine Helmpflicht durch die Hintertür – Grundgesetzänderung zur Hochschulfinanzierung – Bettelverbot in Norwegen . In: Legal Tribune Online, 18.06.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12288/ (abgerufen am: 14.05.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag