Beate Zschäpe inszeniert sich im NSU-Prozess als unwissende Mitläuferin. Außerdem in der Presseschau: unzulässige Revision von Gustl Mollath, mehr Nachtzuschlag bei Dauernachtarbeit und kein Versammlungsverstoß durch "Scharia-Polizei".
Thema des Tages
OLG München - NSU: Am 249. Verhandlung ist die lang erwartete Einlassung der Hauptangeklagten im NSU-Prozess, Beate Zschäpe, verlesen worden. Ihr neuer Verteidiger Mathias Grasel trug eine 53-seitige Erklärung vor. In dieser bestätigt Zschäpe, dass von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt die ihnen zugeschriebenen zehn Morde, 15 Raubüberfälle und zwei Sprengstoffanschläge verübt worden sind. Sie selbst sei jedoch nie daran beteiligt gewesen, sondern habe von den Taten immer erst hinterher erfahren. Da sie die Morde nicht habe verhindern können, fühle sie sich "moralisch schuldig" und entschuldige sich bei den Angehörigen der Opfer. Sie sei selbst "fassungslos" darüber gewesen, habe es jedoch nicht geschafft, etwas zu unternehmen oder sich von Böhnhardt und Mundlos zu lösen. Ausführlich wird dieses Verhältnis erläutert – Zschäpe sei aus Liebe mit den Männern in den Untergrund gegangen. Sie habe sich abhängig gefühlt und sei mit Selbstmorddrohungen emotional erpresst worden, deshalb habe sie weiter mit den Tätern zusammengelebt und nicht die Polizei eingeschaltet. Zudem habe sie Angst gehabt, ins Gefängnis zu müssen. Eine eigene politische Motivation verneint sie; Gründungsmitglied des NSU sei sie keinesfalls gewesen. Scharf kritisiert werden außerdem die Altverteidiger Heer, Sturm und Stahl und deren Entpflichtung wird beantragt. Sie hätten Zschäpe falsch beraten und sie dazu gebracht, wider ihre Interessen mehr als zwei Jahre lang zu schweigen. Zschäpe kündigte an, auf Fragen des Gerichts zu ihrer Einlassung nur schriftlich, auf Fragen der anderen Verfahrensbeteiligten überhaupt nicht antworten zu wollen. Es berichteten unter anderem spiegel.de (Wiebke Ramm), die SZ (Annette Ramelsberger, Tanjev Schultz), die taz (Konrad Litschko, Andreas Speit) und lto.de.
spiegel.de (Jörg Diehl) setzt sich mit einzelnen Punkten der Zschäpe-Aussage auseinander und weist auf Widersprüche mit anderen Ermittlungsergebnissen hin – etwa gebe es eine Vielzahl deutlicher Hinweise dafür, dass Zschäpes im NSU eine tragende Rolle gespielt hat. Mit der Rolle des neuen Verteidigers Mathias Grasel beschäftigt sich lto.de; über die Person des fünften Verteidigers, Hermann Borchert, schreibt die FAZ (Albert Schäfer). Reinhard Müller (FAZ) vermutet, dass die Einlassung die Anklage in den wesentlichen Punkten bestätigt habe. Denn die Nähe, die sie zu den Tätern schildert, mache es sehr unwahrscheinlich, dass Zschäpe keinen eigenen Tatbeitrag geleistet habe. Annette Ramelsberger (SZ) bezeichnet die Einlassung Zschäpes als unlogisch, unglaubwürdig und jämmerlich. Diese werde um die nicht mehr zu widerlegenden Fakten herumkonstruiert, zu denen die Rolle als unwissende Mitläuferin nicht passe, weshalb die gesamte Aussage nicht plausibel sei. Auch Wiebke Ramm (spiegel.de) bezweifelt, dass Zschäpes Strategie dieser zu einer milden Strafe verhelfen wird.
In einer Videokolumne erklärt Gisela Friedrichsen (spiegel.de), dass die Aussage für die Angehörigen der Opfer enttäuschend und zudem nicht glaubhaft sei. Nebenklageanwältin Gül Pinar bekräftigt in einem Interview in der taz (Andreas Speit), dass die brennenden Frage der Angehörigen in keiner Weise beantwortet wurden. Auch Jost Müller-Neuhof (Tsp) ist der Ansicht, Zschäpes Angaben nützten weder den Angehörigen noch ihr selbst. Patrick Gensing (tagesschau.de) meint, die Zschäpe-Einlassung bediene überdeutlich Klischees über Frauen, indem sie der Hauptangeklagten die Rolle des schwachen, unselbstständigen und emotionalen Anhängsels zweier Täter zuschreibt. Die Behauptung, nichts gewusst zu haben, und dass sie ohnehin nichts hätte dagegen unternehmen können, erinnere zudem an die Schuldverdrängung in der deutschen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg.
Twittern aus dem Gerichtssaal: Die taz (Christian Rath) setzt sich damit auseinander, ob Twitter-Nachrichten während einer Verhandlung rechtlich problematisch ist. Da hierbei keine Übertragung von Originaltönen stattfindet, fielen diese nicht unter das Verbot von Bild- und Tonübertragungen aus Gerichtssälen. Die beschleunigte Möglichkeit der Informationsweitergabe verändere die Prozessberichterstattung dennoch erheblich.
Rechtspolitik
Geschlechtsbedingte Lohnunterschiede: Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem der nach wie vor bei 22 Prozent liegende Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen abgebaut werden soll, berichtet die Welt (Sabine Menkens). Insbesondere solle ein individueller Auskunftsanspruch geschaffen werden, mit dem konkrete Angaben über die Gehälter von männlichen Kollegen verlangt werden können. Zunächst betreffe dies nur rund 6.200 Unternehmen ab 500 Mitarbeitern und den öffentlichen Dienst des Bundes, die zusammen etwa 30 Prozent aller abhängig Beschäftigten ausmachen. Auch sollen diese Unternehmen darüber berichten, wie sich Frauenförderung und Gehalt entwickelten.
Flüchtlingsausweis: Das Bundeskabinett hat am Mittwoch die Einführung sogenannter Flüchtlingsausweise und eines zentralen Datenerfassungssystems beschlossen. Es sollen künftig bereits bei der Einreise ausführlichere Informationen erfasst werden, etwa zu Schulabschluss und Ausbildung, Religionszugehörigkeit, absolvierten Gesundheitsuntersuchungen und Impfungen sowie der Wohnadresse im Herkunftsland. Zudem solle durch die zentrale Speicherung die Weitergabe von Informationen zwischen Behörden und Polizeien vereinfacht werden. Ziel sei es, den aktuellen Verzögerungen bei der Registrierung zu begegnen sowie Mehrfachregistrierungen zu verhindern. Das meldet die SZ (Constanze von Bullion).
Digitale Grundrechte: In einem Gastbeitrag in der Zeit entwirft Justizminister Heiko Maas (SPD) einen Vorschlag für eine Charta der digitalen Grundrechte. Für eine solche hatte sich der Präsident des EU-Parlaments Martin Schulz zwei Wochen zuvor ausgesprochen. Die 13 Artikel, die Maas vorschlägt, beinhalten Regelungen zu Selbstbestimmung, Datenschutz, Meinungsfreiheit und Netzneutralität. Darüber hinaus befürwortet er ein Recht auf Internetzugang sowie Schutz vor Diskriminierung aufgrund der Entscheidung, das Internet nicht zu nutzen.
Justiz
BVerfG zu AfD-Inserat: Die AfD hat keinen Anspruch darauf, dass eine privatwirtschaftlich organisierte Zeitung ihre Anzeigen druckt, entschied nun das Bundesverfassungsgericht. Es lehnte den Antrag der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag als unbegründet ab, mit dem diese die Zeitungen der Mediengruppe Thüringen zur Veröffentlichung einer Werbeanzeige für eine Veranstaltung verpflichten lassen wollte. Dies meldet die SZ.
BGH zu Mollath-Revision: Der Bundesgerichtshof hat am Mittwoch die Revision Gustl Mollaths verworfen, wie lto.de meldet. Da er freigesprochen wurde, sei er durch das Urteil nicht beschwert. Dass die Urteilsgründe belastende Feststellungen enthielten, reiche nicht aus. In diesen hatte es das Landgericht Regensburg als erwiesen angesehen, dass Mollath seine frühere Ehefrau misshandelt habe. Der Freispruch beruhte darauf, dass eine Schuldunfähigkeit nicht auszuschließen gewesen sei.
BAG zum Nachtarbeitszuschlag: Bei dauerhafter Nachtarbeit haben Arbeitnehmer einen Anspruch auf einen Gehaltszuschlag von 30 Prozent, wie das Bundesarbeitsgericht nun urteilte. Damit nahm es eine Auslegung des Arbeitszeitgesetzes vor. Dieses spricht nur von einem "angemessenen" Zuschlag bei Nachtarbeit, wobei eine etwaige Regelung des Nachtarbeitsausgleichs im Tarifvertrag vorgeht. Bisher hatte das Gericht entschieden, dass ein Zuschlag von 25 Prozent regelmäßig angemessen ist. Die besondere Belastung durch eine regelmäßige Nachtarbeit führe allerdings generell zu einer anderen Beurteilung, berichtet die BadZ (Christian Rath).
BFH zu Steuergeheimnis: Die Finanzämter dürfen in der Regel keine Auskünfte von Dritten einholen, ohne sich zuvor an den Steuerpflichtigen gewandt zu haben, wie der Bundesfinanzhof nun entschied. Dies meldet lto.de. In der Abgabenordnung ist geregelt, dass Dritte befragt werden dürfen, wenn die Auskunft des Betroffenen unzureichend ist oder sie aus anderen Gründen nicht zum Ziel führt. Dies setze einen atypischen Fall voraus, zum Beispiel ein bis dato unkooperatives Verhalten des Steuerpflichtigen.
LG Wuppertal zur "Scharia-Polizei": Das Landgericht Wuppertal hat die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen acht Beteiligte der selbsternannten "Scharia-Polizei" weitgehend abgelehnt. Es teilte die Ansicht der Staatsanwaltschaft nicht, dass das Tragen von Warnwesten mit der Aufschrift "Shariah Police" gegen das versammlungsrechtliche Uniformierungsverbot verstoße. Die handelsüblichen Warnwesten seien nicht mit Uniformen vergleichbar gewesen und hätten zudem keine bedrohliche Wirkung ausgestrahlt. Das berichtet lto.de.
LG München zu Fahne als Waffe: Das Landgericht München hat den Schuldspruch des Amtsgerichts München gegen einen jungen Mann bestätigt, der auf einer Demonstration eine Fahne bei sich hatte, die als Waffe eingestuft wurde. Diese sei "schlagstockähnlich" gewesen, berichtet die SZ (Christian Rost).
AG Heilbronn zu "Spy-App": In Heilbronn ist ein 20-Jähriger verurteilt worden, der heimlich eine Spionage-Software auf dem Telefon seiner Freundin installiert und sie damit drei Monate lang überwacht hatte. Die App ermöglichte es, ihre SMS und Whatsapp-Chats zu lesen – dies stelle strafbares Ausspähen und Abfangen von Daten dar, berichtet die SZ (Josef Kelnberger).
VG Göttingen zu Abschiebung ins Kosovo: Fehlende Integrationsbereitschaft ist ein Grund dafür, zwei seit bereits 17 Jahren in Deutschland lebende Roma-Familien abzuschieben, hat das Verwaltungsgericht Göttingen nun entschieden. Diese hätten ihren Lebensunterhalt nie selbst sicherstellen können, der Schulbesuch der Kinder sei unregelmäßig gewesen, die Eltern hätten nach wie vor geringe Deutschkenntnisse und gegen die Väter der Familien seien Haftstrafen wegen Körperverletzung verhängt worden. Dies berichtet die taz.
Recht in der Welt
USA – VW-Skandal: Über die 450 Klagen und Sammelklagen gegen Volkswagen in den USA soll vor einem Bundesgericht in Kalifornien verhandelt werden, wie nun entschieden wurde. Mit dieser Entscheidung dürfe VW nicht besonders glücklich sein, da Kalifornien als vergleichsweise umwelt- und verbraucherfreundlich gilt; seitens des Konzerns war ein Verfahren in der "Autostadt" Detroit angeregt worden. 120 der Klagen gelten dem Tochterkonzern Audi, 22 Porsche und 19 der Zulieferfirma Bosch. Dies berichtet die SZ (Claus Hulverscheidt).
EGMR – Leihmutterschaft: Am gestrigen Mittwoch hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte darüber verhandelt, wie mit Kindern umgegangen werden soll, die im Ausland von einer Leihmutter ausgetragen wurden, wenn im Land der Wunscheltern die Leihmutterschaft verboten ist. Im konkreten Fall hatte eine Frau in Russland ein Kind für ein italienisches Paar ausgetragen, die dann in der russischen Geburtsurkunde als Eltern ausgewiesen wurden. Die Behörden in Italien sahen darin jedoch einen Verstoß gegen das italienische Adoptionsrecht und verbrachten das Kind in eine Pflegefamilie. Der Gerichtshof hat schon mehrfach über ähnliche Fälle entschieden. Stets war dabei jedoch ein Elternteil biologischer Erzeuger des Kindes, was im gestern verhandelten Fall nicht zutrifft und eine neue Entscheidung notwendig macht. Das erläutert die SZ (Wolfgang Janisch).
Polen – Präsident gegen Verfassungsgericht: Polens Präsident Duda weigert sich, Entscheidungen des Verfassungsgerichts umzusetzen, wie die SZ (Florian Hassel) berichtet. Gegenstand des Streits ist ein Urteil, mit dem die Wahl dreier Verfassungsrichter bestätigt, die Wahl zweier weiterer jedoch für unzulässig erklärt wurde. Ministerpräsidentin Beata Szydło (Pis) hatte dem Regierungszentrum für Gesetzgebung (RCL) untersagt, das Urteil im Gesetzblatt zu veröffentlichen – nun bestätigt auch Präsident Andrzej Duda, das Urteil ignorieren und die rechtmäßig gewählten Verfassungsrichter nicht vereidigen zu wollen.
Aserbaidschan – Inhaftierte Menschenrechtsaktivistin: Aufgrund des sich verschlechternden Gesundheitszustands hat ein Berufungsgericht in Aserbaidschan die Freilassung der Menschenrechtsaktivistin Leila Junus angeordnet, wie die taz berichtet. Sie war im vergangenen August wegen Wirtschaftsverbrechen zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden.
USA und Folter: Auf seinem Blog auf zeit.de beschäftigt sich Anwalt Wolfgang Kaleck mit den Maßnahmen der USA gegen Folter. Es seien hier einige kleine Fortschritte erzielt worden, der Prozess gehe jedoch zu langsam voran.
Sonstiges
Bundeswehreinsatz in Syrien: Rechtsprofessor Claus Kreß beschäftigt sich in einem FAZ-Gastbeitrag mit der Vereinbarkeit des Syrien-Einsatzes der Bundeswehr mit dem Grundgesetz. Als verfassungsrechtliche Grundlage sieht er nicht Artikel 24 Absatz 2 des Grundgesetzes, denn solche müssten im Rahmen und nach den Regeln eines kollektiven Sicherheitssystems erfolgen, was beim Syrien-Einsatz nicht zutreffe, weil der Europäische Bündnisfall nicht ausgerufen worden sei. Allerdings sei der Einsatz als Reaktion auf das Hilfeersuchen des Iraks vom kollektiven Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen gedeckt und daher als Verteidigungshandlung im Sinne von Artikel 87 a Absatz 2 Grundgesetz zulässig. Kreß spricht sich dafür aus, das Grundgesetz deutlicher zu fassen.
Der JuWissBlog (Ralph Janik) setzt sich ausführlich mit den völkerrechtlichen Schwierigkeiten des Einsatzes auseinander. Im Ergebnis sei ein Verstoß gegen das Völkerrecht nicht gegeben.
Pegida: Dresdens Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP) prüft zur Zeit ein Verbot der Pegida-Demonstrationen, meldet focus.de. Fraglich sei, ob sich polizeiliche Ermittlungen wegen Volksverhetzung aufgrund von Demonstrationsbeiträgen auf die versammlungsrechtliche Zulässigkeit auswirkten.
Zeugin mit Burka: Der bayerische Justizminister Winfried Bausback äußert in einem FAZ-Gastbeitrag die Meinung, die Gesichtsverschleierung einer Zeugin vor Gericht sei mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht zu vereinbaren. Denn der Schleier verdecke nicht nur das Gesicht, sondern möglicherweise auch einen Teil der Wahrheit.
Chaos am Lageso: Heribert Prantl (SZ) beschreibt in einem Kommentar die desaströsen Zustände im Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales Lageso, das auch für die Registrerung von Flüchtlingen zuständig ist, und bezeichnet es als "schlechteste Behörde Deutschlands".
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/lil
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 10. Dezember 2015: Zschäpes Aussage/ BGH gegen Mollath-Revision / BAG zu Nachtarbeitszuschlag . In: Legal Tribune Online, 10.12.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17811/ (abgerufen am: 05.05.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag