Ein Mammut-Verfahren in der Türkei endet mit hundertfachen Verurteilungen zu langen Haftstrafen. Außerdem in der Presseschau: Neuigkeiten aus und zu Europa, Geheimdienstbeauftragter zur Überwachung der Überwacher, BGH zu Pflichtangeboten, falsche Geständnisse in Schweden und heftiges Schmusen am Waschbecken.
Türkei – Ergenekon: Nach fast fünf Jahren Prozessdauer hat ein türkisches Gericht am Montag unter schärfsten Sicherheitsvorkehrungen Urteile im Ergenekon-Verfahren gefällt. Laut Handelsblatt (Gerd Höhler) wurden von 275 Angeklagten 21 freigesprochen. Der weit überwiegende Rest, unter ihnen hochrangige Militärs, aber auch Politiker, Akademiker und Journalisten, sei zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Den mutmaßlichen Mitgliedern des Geheimbundes Ergenekon seien Umsturzpläne gegen die Regierung Erdogan vorgeworfen worden. Der Prozess gelte als Teil eines Machtkampfes zwischen der Regierung einer- und Militär und kemalistischer Elite andererseits.
Welt (Daniel Dylan Böhmer) beschreibt, dass auch die der Regierung fern stehende türkische Öffentlichkeit das Verfahren zunächst begrüßt als Chance habe, "die übermächtige und nicht immer durchsichtige Rolle der Armee" im Land zu untersuchen. Durch die Ausweitung der Ermittlungen habe sich jedoch der Eindruck verfestigt, dass ganz allgemein Kritiker der Regierungspartei AKP "ausgeschaltet" werden sollten.
Michael Martens (FAZ) kommentiert, dass erst der Europäische Gerichtshof, dessen Anrufung "gewiss" sei, entscheiden könne, ob das "epische Verfahren" rechtsstaatlichen Ansprüchen genüge.
Weitere Themen – Rechtspolitik
Europa: lto.de (Claudia Kornmeier) setzt die Reihe zu den Wahlprogrammen diesmal mit den "europäischen" Positionen der Parteien fort und lässt Vorschläge zur demokratischeren Ausgestaltung der EU, etwa durch einen Ausbau der europäischen Bürgerinitiative hin zu einem verbindlichen Volksentscheid, durch Europarechtsexperten bewerten.
Zukunft der EU: Im Juni tagte die Europaministerkonferenz in Potsdam. Einen aus diesem Anlass gehaltenen Vortrag mit dem Titel "Überlegungen zur Zukunft der EU" von Rechtsprofessor Christian Calliess veröffentlicht verfassungsblog.de.
Beihilferecht: Im Juli hat der Rat der Europäischen Union die Verfahrensverordnung für die Durchführung von Beihilfeuntersuchungen in der EU geändert. Rechtsanwältin Martina Maier stellt im Handelsblatt-Rechtsboard die bedeutsamsten Änderungen vor.
Ehe und Familie: Mit rechtlichen Aspekten staatlicher Ehe- und Familienpolitik setzt sich in einem Gastbeitrag Rechtsprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf (SZ) auseinander. Die Förderung von Ehen und Familien "nach dem Gießkannenprinzip" statt einer gezielten Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf würde dem Grundgesetz nicht gerecht. Zwar sei mit dem Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ein Schritt in die richtige Richtung getan, doch bestünden weiterhin durch nichts zu rechtfertigende finanzielle Negativanreize durch das Ehegattensplitting. Das Grundgesetz verpflichte die Politik zur Durchführung gleichstellungsorientierter Maßnahmen, unter diesem Gesichtspunkt müsse das gleichfalls zum 1. August eingeführte Betreuungsgeld als verfassungswidrig bezeichnet werden. Brosius-Gersdorf prognostiziert, dass die bisherige Linie der Politik auch weiterhin bewirken wird, dass Deutschland zu den kinderärmsten Ländern gehört.
Anwesenheitspflicht für Angeklagte: In einem Gastbeitrag für das Handelsblatt kommentiert der Rechtsprofessor und Strafverteidiger Klaus Volk die Anwesenheitspflicht des Angeklagten in Strafprozessen als "Anachronismus". Die Justiz solle Angeklagte, die sich nicht äußern wollten, durch die Pflicht zum täglichen Erscheinen auch in langwierigen Verfahren "nicht schikanieren." Selbst die Strafprozessordnung sehe die Möglichkeit vor, in Abwesenheit des Angeklagten zu verhandeln, wodurch die gängigen Begründungen für die Anwesenheitspflicht "dekuvriert" würden. Eine interessengerechte Lösung bestünde etwa darin, dem Gericht ein Ermessen über die Anordnung der persönlichen Anwesenheit des verteidigten Angeklagten einzuräumen.
Raubkunstgesetz: 2007 setzte die Bundesrepublik durch die Verabschiedung eines Kulturgüterrückgabegesetzes eine UNESCO-Konvention aus dem Jahr 1970 um. Ein längerer Artikel im Feuilleton der SZ (Tim Neshitov) beschreibt, warum dieses Gesetz nichts "taugt", erzählt von spektakulären Fällen von Kunst-Schmuggel und begrüßt die nun geplante Änderung des Gesetzes.
Geheimdienstbeauftragter: Als Konsequenz aus den jüngsten Datenüberwachungsskandalen fordert Heribert Prantl (SZ) die Einführung eines Geheimdienstbeauftragte. Analog dem Amt des Wehrdienstbeauftragten müsse eine "echte Kontrollbehörde" mit eigener Ermittlungslogistik und Zutritt zu allen Geheimdiensten geschaffen werden. Das parlamentarische Kontrollgremium, besetzt von Bundestagsabgeordneten "sozusagen im Nebenberuf" könne eine solche Aufgabe nicht meistern und schaffe es höchstens, "den Skandalen hinterherzulaufen."
Weitere Themen - Justiz
BGH zu Pflichtangebot: Die FAZ (Joachim Jahn) berichtet über ein am Montag veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichtshofs, nach dem Aktionäre einen Großinvestor nicht auf Schadensersatz verklagen können, wenn dieser das gesetzlich vorgeschriebene sogenannte Pflichtangebot unterlässt. Denn die entsprechenden Bestimmungen des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes sollten zuvörderst den Kapitalmarkt als solchen und nicht einzelne Anlieger schützen. Die der Aufsichtsbehörde BaFin eingeräumte Möglichkeit, zur Durchsetzung des Pflichtangebots ein Bußgeld zu verhängen, bliebe durch den Richterspruch unberührt.
LG Braunschweig zu Heimtücke-Mord: Im Verfahren um die Tötung einer Küsterin hat das Landgericht Braunschweig den Ehemann des Opfers wegen heimtückischen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Das Gericht sah es nach dem Bericht der FAZ als erwiesen an, dass der Täter seine Ehefrau nach einem Gottesdienst in der Sakristei erschossen habe, nachdem er zuvor erfahren habe, dass seine von ihm getrennt lebende Ehefrau sich nach 27-jähriger Ehe von ihm scheiden lassen wolle.
LG Lüneburg zu Castor-Kessel: Nach einem Bericht der taz (Malte Kreutzfeldt) hat das Landgericht Lüneburg entschieden, dass eine 12-stündige Einkesslung von circa 1.300 Atomkraftgegnern anlässlich eines Castor-Transports im November 2011 unrechtmäßig war. Die Polizei habe es laut Gericht versäumt, die Festgehaltenen unverzüglich einem Richter vorzuführen und auch gar nicht versucht, angesichts der zu erwartenden Demonstrationsgröße die hierfür notwendigen Kapazitäten zu schaffen.
LG Hamburg – HSH-Verfahren: Das Handelsblatt (Sven Prange/Felix Rohrbeck) porträtiert Marc Tully, Richter im derzeit vor dem Landgericht Hamburg laufenden Prozess gegen den ehemaligen HSH-Nordbank-Vorstand. Tully gelte als Gegner jeglicher Deals und sei als gelernter Banker ein ausgewiesener Experte der Materie, besitze gleichzeitig jedoch auch einen ausgeprägten Hang zur Selbstdarstellung. Dem Richter dürfte es nicht ungelegen kommen, mit dem als "Horrorverfahren" bezeichneten Prozess Rechtsgeschichte schreiben zu können.
LG München – Hoeneß: Rechtsanwalt Karsten Randt (FAZ) erörtert im Geldanlagen-Teil der Zeitung die im Zusammenhang der von der Staatsanwaltschaft München II beim Landgericht München erhobenen Anklage gegen Uli Hoeneß stehenden Rechtsfragen. So müsse vom Gericht geklärt werden, ob die Selbstanzeige des FC Bayern-Präsidenten rechtzeitig erfolgt sei oder die Steuerfahndung München durch die Anfrage eines Journalisten bereits zuvor vom Sachverhalt Kenntnis erlangt habe.
Weitere Themen – Recht in der Welt
USA – Michael Ratner: Das Handelsblatt (Moritz Koch) interviewt Michael Ratner, Rechtsbeistand des Wikileaks-Aktivisten Julian Assange. Der amerikanische Anwalt spricht über seine Erfahrungen als Verteidiger von Guantanamo-Häftlingen und meint, dass sich kein Whistleblower in die Hände der US-Justiz begeben sollte. Sowohl Edward Snowden als auch sein Mandant Assange dürften sich keine Hoffnungen auf ein faires Verfahren machen. Es sei eine "schreiende Ungerechtigkeit", dass der Informant Bradley Manning für viele Jahre hinter Gitter muss, während es "keine Rechenschaft über die Schandtaten der US-Regierung, vor allem der Bush-Regierung" gebe.
Schweden – falsche Geständnisse: Über den "größten Justizskandal" Schwedens schreibt die Welt (Helmut Steuer). Anfang der 1990er Jahre wurde ein damals 40-jähriger Mann wegen verschiedener Vorwürfe in eine geschlossene psychiatrische Anstalt eingewiesen. Dort mit neuartigen Medikamenten behandelt, habe er begonnen, die Begehung bis dahin ungeklärter Morde zu gestehen. Von den Fällen habe er aus der Zeitung erfahren, ihm sei bei der Rekonstruktion der insgesamt über 30 Fälle aber auch von Ermittlungsbeamten und der Staatsanwaltschaft geholfen worden. Vor einigen Jahren hätten Recherchen eines Fernsehjournalisten eine Aufarbeitung bewirkt, nach mehreren Wiederaufnahmeverfahren erfolgte in der vergangenen Woche der letzte Freispruch. In der psychiatrischen Anstalt sitzt der Mann dennoch weiterhin, eine von der Justizministerin des Landes einberufene Kommission solle derweil strukturelle Ursachen der Fehlurteile untersuchen.
Sonstiges
Geschäftsklima für Anwälte: Einer für das Handelsblatt (Heike Anger/Axel Schrinner) vorgenommenen Sonderauswertung des Ifo-Geschäftsklimas für das Dienstleistungsgewerbe zufolge laufen die Geschäfte von Anwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern derzeit glänzend. Der Bericht zitiert den Hauptgeschäftsführer des Deutschen Anwaltvereins, nach dem die Anwaltschaft von der Konjunkturkrise nicht so erfasst worden sei wie andere Branchen.
Bestpreisklauseln: Das Bundeskartellamt hat das Hotel-Buchungsportal HRS im vergangenen Monat wegen der Verwendung sogenannter Bestpreisklauseln bereits zum zweiten Mal abgemahnt. Die Klauseln verpflichten gelistete Hotels dazu, die günstigsten Konditionen anzubieten. Die Kartellrechts-Anwälte Nicolas Kredel und Jan Kresken erläutern auf lto.de die Rechtsansicht des Bundeskartellamts. Die Autoren sind der Ansicht, dass die z.B. auch von Amazon verwendeten Klauseln unter bestimmten Voraussetzungen nicht dem Kartellverbot unterfallen.
Das Letzte zum Schluss
Leidenschaft entschädigt: Die schmerzhafte und behandlungsbedürftige Verletzung einer jungen Israelin ist jetzt mit einem Betrag von umgerechnet 85.000 Euro entschädigt worden. Wie die taz schreibt, verletzte sich die Frau beim "heftigen Schmusen" mit ihrem Freund, als das Waschbecken, an das sie sich gelehnt hatte, brach. Die beklagte Baufirma konnte sich mit ihrem Vortrag, das Paar habe durch "wilden Sex" den Bruch des Beckens bewirkt, nicht durchsetzen, die Beteiligten einigten sich nun vor einem Berufungsgericht.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 6. August 2013: Mammut-Urteil in der Türkei – BGH zu Pflichtangeboten – Falsche Geständnisse . In: Legal Tribune Online, 06.08.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9292/ (abgerufen am: 29.04.2024 )
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