Der EuGH verweigert EU-Ausländern Sozialleistungen. Außerdem in der Presseschau: EU-Kommission hält Vorratsdatenspeicherung für grundrechtswidrig, StA Verden ermittelt gegen "Examensschummler" und "Frauentausch" lässt Wohngeld platzen.
Thema des Tages
EuGH zu Anspruch auf Sozialleistungen: Deutschland darf arbeitssuchenden EU-Ausländern Sozialleistungen verweigern. Dies entschied der Europäische Gerichtshof und erklärte damit eine entsprechende Ausschlussklausel aus dem Sozialgesetzbuch II für konform mit EU-Recht; der Schutz der Sozialkassen rechtfertige eine Beeinträchtigung des unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots. Demnach haben EU-Bürger, die weniger als ein Jahr lang in Deutschland tätig waren, lediglich sechs Monate nach der Beendigung des letzten Arbeitsverhältnisses Anspruch auf Hartz IV. Arbeitssuchende EU-Ausländer, die bisher noch keine Anstellung gefunden haben, dürfen keine Sozialleistungen beziehen. Mit dem Urteil qualifizierten die Luxemburger Richter Hartz IV als Sozialleistung. FAZ (Joachim Jahn), SZ (Wolfgang Janisch – sz.de-Zusammenfassung) und taz (Christian Rath) befassen sich mit dem rechtskräftigen Grundsatzurteil und dem zugrundeliegenden Fall.
Wolfgang Janisch (SZ) hält die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für eine "Absage an ein soziales Europa". Da es "an den Kern der Menschenwürde rührt", Aufenthaltsberechtigten, die Arbeit suchen, das Existenzminimum zu verweigern, sei nun das Bundesverfassungsgericht gefragt. Joachim Jahn (FAZ) findet es begrüßenswert, dass der EuGH überraschenderweise davon abgesehen habe, die EU zu einer Transferunion auszuweiten. Die rechtlichen Unsicherheiten seien allerdings "noch nicht ausgestanden". Christian Rath (taz) hält fest, dass die Entscheidung des EuGH zwar die Freizügigkeit innerhalb der EU nicht fördere, Europa aber "immer noch ziemlich sozial" sei. Es sei nicht überraschend, dass der EuGH, angesichts der vielen nach Deutschland reisenden Flüchtlinge, arbeitssuchenden EU-Bürgern Sozialleistungen verweigert und so zusätzliche Bewegungen verhindere. Die Professorin für europäisches Arbeitsrecht Constanze Janda führt auf lto.de aus, weshalb das Urteil "absurde Ergebnisse" nach sich ziehe.
Rechtspolitik
Vorratsdatenspeicherung: Die EU-Kommission hat Bedenken gegen die geplante deutsche Vorratsdatenspeicherung vorgebracht und droht mit einem Vertragsverletzungsverfahren, sollten diese nicht berücksichtigt werden*. Die geplanten Regelungen stellten insbesondere einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte der Bürger dar. Die SZ (Heribert Prantl) kennt die Stellungnahme der EU-Kommissarin Elżbieta Bieńkowska. Update 16.09., 14:35 Uhr: Die Kommission hat einen Tag nach dem Artikel in der SZ dementiert, Deutschland mit einem Vertragsverletzungsverfahren gedroht zu haben.
EU-Flüchtlingspolitik: In einem Gastbeitrag erklärt die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) in der SZ, warum die EU-Flüchtlingsregelungen bereits vor Jahren gescheitert sind. Konkrete Verbesserungen des europäischen Flüchtlingsschutzes seien allerdings schnell möglich. Es brauche Einwanderungsgesetze und ein System, um die ankommenden Flüchtlinge in der EU aufzuteilen, zudem akute Hilfe für die EU-Grenzstaaten.
Flüchtlingspolitik: Heribert Prantl (SZ) weist darauf hin, dass auf die "historische Entscheidung" von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), ihre Richtlinienkompetenz zu gebrauchen und die Flüchtlinge aus Ungarn aufzunehmen, nun "historische Anstrengungen" des ganzen Landes folgen müssen.
Nach einem kurzen Einblick in die humanitäre Hilfe für Flüchtlinge bringt swr.de in einem Audio-Beitrag ein Interview mit Rechtsprofessor Jürgen Bast, welcher unter anderem den Reformbedarf des deutschen und europäischen Asylrechts erläutert. Zudem wird die Frage beleuchtet, ob es rechtlich zulässig ist, Geldleistungen für Asylbewerber zu kürzen – hier kommt auch der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Ferdinand Kirchhof zu Wort.
WLAN-Haftung: zeit.de kennt das Gutachten des Medienrechtlers Dieter Frey, welcher die Neuregelungen zur Haftung von WLAN-Betreibern und Host-Providern für ein "rechtliches und systematisches Chaos" hält.
Justiz
OLG München – NSU-Prozess: Der ehemalige Chef von "Blood and Honour" Thüringen, Marcel D., soll eine "zuverlässige Quelle" des thüringischen Verfassungsschutzes gewesen sein, so die Aussage seines damaligen V-Mann-Führers Jürgen Z.. D. selbst bestritt bei seinen Zeugenvernehmungen vor dem Oberlandesgericht München, als V-Mann für den Verfassungsschutz tätig gewesen zu sein. spiegel.de (Wiebke Ramm) schildert ausführlich Z.s Aussage und Widersprüche in seinen Angaben.
OLG Celle – IS-Unterstützer: Im Verfahren vor dem Oberlandesgericht Celle gegen zwei mutmaßliche IS-Unterstützer liegt der Fokus derzeit auf dem "merkwürdigen Verhalten der deutschen Sicherheitsbehörden". So solle der Staatsschutz der Wolfsburger Polizei bereits im Jahr 2011 Kenntnisse über islamistische Bestrebungen in Wolfsburg gehabt haben. Die eigens eingerichtet Ermittlungsgruppe des LKA weist dies allerdings zurück. Der FDP-Abgeordnete Stefan Birkner meint, die Behörden hätten entweder "geschlampt" oder "gewusst, aber geschehen lassen", teilt die FAZ (Reinhard Bingener) mit.
LG München I – Deutsche Bank: Der Vorsitzende Richter im Deutsche Bank-Verfahren vor dem Landgericht München I, Peter Noll, fordert, die Staatsanwaltschaft müsse eine "Kausalität zwischen Täuschung, Irrtum und Schaden" darstellen. Die SZ (Stephan Radomsky) berichtet von der "kaum verhohlenen Kritik" des Richters gegenüber der Anklage. Über weitere umfangreiche Beweisanträge der Staatsanwaltschaft hat das Gericht noch nicht entschieden.
LG Freiburg – Kindesmisshandlung: Im Strafverfahren vor dem Landgericht Freiburg wegen Totschlags und schwerer Misshandlung eines Schutzbefohlenen hat der Angeklagte gestanden, seinen Stiefsohn an dem Tag des Todes zwei bis drei Mal mit der Faust in den Bauch geschlagen zu haben. Der Stiefvater soll das Opfer bereits seit 2013 misshandelt haben. spiegel.de (Julia Jüttner) und FAZ (Rüdiger Soldt) schreiben über das Verfahren und Versäumnisse des Jugendamtes.
LG Verden – verhungerte Frau: Vor dem Landgericht Verden läuft ein Strafprozess wegen gemeinschaftlichen Mordes durch Unterlassen aus Grausamkeit und niedrigen Beweggründen gegen Ehemann und Tochter einer 49-Jährigen. Die Anklage verdächtigt sie, das Opfer verhungern lassen zu haben – die Frau war wegen eines Hüftbruchs bettlägerig und konnte sich daher nicht selbst versorgen. Die Staatsanwaltschaft vermutet "Hass und Rache" als Motiv, da die Verstorbene Alkoholikerin gewesen sei und sich nicht um die Familie gekümmert habe, so die SZ (Peter Burghardt).
StA Verden – gekaufte Examensklausuren: Die Staatsanwaltschaft Verden hat acht Juristen vor den Amtsgerichten Celle und Lüneburg angeklagt. Sie sollen Examensaufgaben und Lösungshinweise von dem ehemaligen Richter Jörg L. erhalten haben. Der Verdacht richte sich in vier Fällen auf Bestechung, in drei Fällen auf Beihilfe zum Geheimnisverrat und in einem Fall auf Anstiftung zum Geheimnisverrat. Zudem wird gegen fünf weitere Juristen ermittelt. strafakte.de (Mirko Laudon) informiert.
Interview mit Hans Richter: Im Interview mit dem Handelsblatt (Massimo Bognanni) spricht der "legendäre Strafverfolger" der Stuttgarter Staatsanwalt Hans Richter unter anderem über den Porsche-Prozess und seine Ermittlungen gegen die LBBW. Er beleuchtet seine eigene Arbeit und Vorgehensweise und beantwortet auch persönliche Fragen. Richter zeigt zudem Defizite der Wirtschaftsstrafjustiz, aber auch der entsprechenden Gesetzgebung auf.
Recht in der Welt
Bahrain – Folter: 33 UN-Staaten verurteilen Menschenrechtsverletzungen in Bahrain – Inhaftierte würden in Haftanstalten misshandelt und gefoltert. Einer der Hauptverantwortlichen sei der Generalstaatsanwalt Ali Bin Fadhul al-Buainain, welcher sich derzeit in der Schweiz befindet. Der Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck fordert auf blog.zeit.de, dass Schweizer Staatsanwälte ihrer Pflicht aus der UN-Folterkonvention nachkommen und gegen al-Buainain strafrechtlich vorgehen sollen. Kalecks Organisation, der ECCHR, hat mit anderen Organisationen Strafanzeige gegen den bahrainischen Generalstaatsanwalt erstattet.
Türkei – Ermittlungen gegen Dogan Media: Die türkische Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die Herausgeberin der Zeitung "Hürriyet", die Mediengruppe Dogan Media, meldet zeit.de. Ihr wird "terroristische Propaganda" vorgeworfen, nachdem Dogan-Medien Fotos von Soldaten veröffentlichten, die von der PKK getötet worden waren. Die Bilder hätten Terrorismus glorifiziert, so ein Sprecher des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Kritiker werfen Erdoğan vor, die Meinungs- und Pressefreiheit einzuschränken.
Sonstiges
Maas gegen Facebook: Thorsten Denkler (SZ) hat bereits erwartet, dass Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) sich mit der Forderung, Hasskommentare zu löschen, nicht gegen Facebook durchsetzen kann. Grund dafür sei – abgesehen davon, dass es sich für das Unternehmen wirtschaftlich nicht auszahle – die Rechtslage in den USA. Die US-amerikanischen Regelungen für Datenschutz und Meinungsfreiheit weichen von denen in Deutschland ab. Hasskommentaren müsse daher mit Argumenten und Strafanzeigen begegnet werden.
"Wer anderen eine Plattform für menschenverachtende Sprüche und Aufwiegelung bietet, der ist ein Fall für Polizei und Justiz", konstatiert Reinhard Müller (FAZ). Er moniert, dass dies im Falle von Facebook nicht entsprechend gehandhabt werde. Das Unternehmen erhebe sich nicht nur in Sachen Hasskommentare über den Staat, sondern auch mit seinen Datenschutzbestimmungen.
Arbeitsrecht und Krankheit: Die SZ (Catrin Gesellensetter) erläutert, mit welchen rechtlichen Konsequenzen Arbeitnehmer zu rechnen haben, wenn sie für eine längere Zeit krankheitsbedingt nicht arbeiten können.
"AGG-Hopping": Die Fachanwältin für Arbeitsrecht Ina-Kristin Hubert weist in einem Gastbeitrag für die FAZ darauf hin, dass Gerichte beginnen, gegen "AGG-Hopper" vorzugehen und resümiert entsprechende Fälle.
Baurecht und Flüchtlingsheime: Der Fachanwalt für Verwaltungsrecht Stefan Tysper erklärt auf lto.de, warum das geltende Baurecht ausreiche, "um eine Willkommens- und Integrationskultur baurechtlich umzusetzen". Die "Flüchtlingsnovelle" im Baurecht vom November 2014 ermöglicht es, bedarfsgerecht und zeitnah Flüchtlingsunterkünfte zu schaffen. Zwar bestünden rechtliche Hindernisse, etwa durch Eilanträge von Nachbarn, allerdings würde es ausreichen, wenn Verwaltung und Rechtsprechung die Regelungen stringenter anwendeten.
Fischer zu Beweiserhebung: In seiner Kolumne auf zeit.de widmet sich Thomas Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, umfassend der Beweisaufnahme im Strafprozess.
Das Letzte zum Schluss
"Frauentausch" lässt Wohngeld platzen: Auch Behördenmitarbeiter sehen fern. Das hätte eine Berlinerin wohl berücksichtigen sollen, als sie sich in der Sendung "Frauentausch" mit ihrem Partner zeigte, der zugleich auch ihr Vermieter ist. Ihren Antrag auf Wohngeld lehnte das Wohngeldamt wegen Missbrauchs ab, da die zuständige Mitarbeiterin die Antragstellerin in der "Frauentausch"-Folge wiedererkannt hatte. Das Verwaltungsgericht Berlin bestätigte die Entscheidung der Behörde – es sei missbräuchlich, Wohngeld zu beantragen, wenn man in einer Beziehung mit dem Vermieter ist. Die Berlinerin hatte sich damit verteidigt, sie seien eigentlich nur gut befreundet und hätten ihre Liaison in der Sendung nur gespielt. Das sahen die Richter allerdings nach Inaugenscheinnahme anders, meldet unter anderem kanzlei-blaufelder.com.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/vb
(Hinweis für Journalisten) Hinweis für Journalisten
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 16. September 2015: EuGH kappt Sozialleistungen – Vertragsverletzungsverfahren wegen Vorratsdatenspeicherun . In: Legal Tribune Online, 16.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16905/ (abgerufen am: 18.05.2024 )
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