Wohin mit der kleinen Tochter, wenn in der Kita die Scharlach ausbricht? In deutschen Kanzleien mangelt es an Notfallplänen für Kinderbetreuung. Es wird zwar oft über Familienfreundlichkeit gesprochen, sie wird aber nur selten kreativ umgesetzt. Zwei Kanzleien fanden eine Lösung, die Anwälte mit Kindern unterstützt.
Die Holz-Eisenbahn auf dem kniehohen, weißen Tisch ist die Attraktion der Kanzlei. Eine blaue Lok mit zwei braunen Anhängern schlängelt sich über hölzerne Schienen, durchquert einen steingrauen Tunnel und wechselt an der Metrostation von der oberen auf die untere Ebene. "Die Kinder lieben diese Eisenbahn!", sagt Stefanie Müller und lacht.
Müller ist Personalleiterin bei der Stuttgarter Mittelstandskanzlei Menold Bezler und hat das Bahnparadies aus Holz persönlich ausgesucht. Es steht im Eltern-Kind-Büro der Kanzlei Ein Projekt, mit dem die Kanzlei ihre Familienfreundlichkeit untermauern will, und für das sie bereits mit einem Preis ausgezeichnet worden ist.
"Wir haben unsere Kollegen gefragt, wo der Schuh am meisten drückt", erzählt Müller. Die Eltern unter den Anwälten kämpfen mit den immer gleichen Herausforderungen: Was soll ich tun, wenn die Kita anruft und verlangt, ich solle mein Kind sobald wie möglich abholen, denn es sei Scharlach ausgebrochen? Wo bringe ich es unter, bis ich eine Alternativbetreuung organisiert habe oder es nach Hause bringen kann?
Trendbegriff Familienfreundlichkeit
Dringend werden diese Fragen vor allem dann, wenn die Eltern die Kanzlei aufgrund wichtiger Termine nicht verlassen können. "Die Betreuung ist in der Großstadt allgemein ganz gut. Problematisch wird es aber dann, wenn es Notfälle wie diese gibt", sagt Müller. "Wir haben also nach einer einfachen Lösung gesucht und uns gedacht: Moment, wir haben doch hier einen großen, leeren Raum. Lasst uns den nehmen!"
Und so kaufte Müller ein weißes Kinderbett mit Vogel-Print-Bettwäsche, Tigerkissen und Kuschelbären. Ein großer Sitzsack mit blauen, gelben und roten Punkten steht vor dem Bett. Daneben wartet ein gelbes Bobby-Car. Rote und blaue Holzkisten beherbergen Kuscheltiere, Puppen, und Brettspiele.
Familienfreundlichkeit ist ein Trendbegriff, um im Recruiting und Marketing zu glänzen, im Idealfall sollen die Maßnahmen aber die Mitarbeiter tatsächlich entlasten. Denn auch wenn allerorts über den Geburtenrückgang in Deutschland geklagt wird, so bekommen doch die meisten Familien Nachwuchs. Als Anwalt oder Anwältin stehen die frischgebackenen Eltern dann vor dem Spagat, das plötzlich erkrankte Kind zwischen Meetings, Telefonkonferenzen und Projektfristen angemessen zu betreuen. Gerade wenn sich beide Elternteile beruflich verwirklichen wollen, benötigen sie dabei Unterstützung vom Arbeitgeber.
Home-Office ist nicht immer die Lösung
Jedoch zeigen sich Kanzleien nur vereinzelt wirklich kreativ bei der Problemlösung. Die Standard-Antwort lautet: Home-Office oder Teilzeit-Arbeit. Doch das wollen oder können nicht alle Eltern. Und es ist zuallererst ein Mittel, um die Leistung der Mitarbeiter ortsunabhängig aufrecht zu erhalten – und nicht, um Familienfreundlichkeit herzustellen.
An der Tür des Eltern-Kind-Büros bei Menold Bezler hängt ein Zettel, auf dem man sich eintragen kann, um den Raum zu reservieren. Das Arbeits- und Spielzimmer ist mittlerweile durchschnittlich einmal pro Woche belegt. "Anfangs war der Raum nur alle zwei bis drei Wochen gebucht", erzählt Müller. "Aber wenn erst einmal jemand den ersten Schritt gemacht hat, vor allem auf Partnerebene, dann wird es auch von den anderen Kollegen gut angenommen."
Die Kanzlei-Mitarbeiter, Anwälte und Partner weihten das Eltern-Kind-Büro an einem Sonntag im Februar dieses Jahres ein. Rund 25 Eltern und Kinder waren dabei. Viele Familien haben gebrauchtes Spielzeug, Kuscheltiere, Puppen und vor allem Bücher gespendet. Aber wie arbeitet es sich eigentlich mit Kindern zusammen in einem Raum?
2/2: Die Industrie ist den Kanzleien weit voraus
Der Schreibtisch steht in einer Ecke gegenüber der Tür, von hier aus übersieht man den ganzen Raum. Der Arbeitsplatz ist nicht für stundenlanges Arbeiten ausgelegt, denn es ist nur die Grundausstattung vorhanden: PC, Telefon, Stuhl, Tisch. "Es bleibt eine Notfall-Option und soll keine regelmäßige Betreuung ersetzen", erklärt Müller. Der Rest des Zimmers ist angefüllt mit allerlei bunten Spielsachen, die sich auf dem dunkelblauen Teppich verteilen. "Die große Auswahl an Spielzeugen unterhält die Kinder erfahrungsgemäß für etwa zwei bis drei Stunden", sagt Müller.
Die Inspiration für das Eltern-Kind-Büro kam aus dem Projekt "kmu4family", inititiert von der MFG Innovationsagentur mit Sitz in Stuttgart. Diese hat sich, wie zahlreiche andere Netzwerke in der Region, zum Ziel gesetzt, Unternehmen dabei zu helfen, familienfreundlicher zu werden. So will man unter anderem dem zunehmenden Fachkräftemangel entgegenwirken. "In den Netzwerken holen wir uns viel Anregungen", erzählt Müller. "Die Industrie ist in dem Bereich der Personalentwicklung viel weiter als die Kanzleibranche. Diese ist leider in diesem Bereich sehr konservativ."
Konservativ bedeutet jedoch nicht, dass nicht über Lösungen für Kinderbetreuung nachgedacht wird. So buchen manche Kanzleien Belegplätze in büronahen Kitas. Das hilft aber wegen der begrenzten Platzanzahl nur wenigen Mitarbeitern. Außerdem möchten viele Eltern ihre Kinder wohnortsnah und nicht büronah betreuen lassen. Andernorts initiieren Eltern mit benachbarten Unternehmen eine eigene Kita.
Auch die Option, in den Kanzleiräumen selbst Betreuungsangebote einzurichten, wird häufig diskutiert. Doch mal stehen brandschutztechnische Vorschriften im Weg, mal sind die Kanzleiräume zu klein. In immer mehr Städten gibt es außerdem die Möglichkeit, einen Familienservice mit externen Betreuern in Anspruch zu nehmen. Und über allem schwebt natürlich die Frage nach den Kosten.
Nachfrage bestimmt das Angebot
Das 'Kinderzimmer' von P+P Pöllath ist ebenfalls eine Reaktion auf Betreuungsengpässe. Allerdings ist es im Münchner Standort der Kanzlei eher zufällig entstanden. Und den Begriff 'Kinderzimmer' gibt es hier eigentlich gar nicht offiziell. "Bei uns werden viele Kinder- und Familienevents gefeiert. Die Spiel- und Bastelsachen dafür werden bei uns gelagert. So hat sich das Kinderzimmer schleichend entwickelt", erzählt Dr. Eva Nase, Gesellschaftsrechtlerin und verantwortliche Partnerin für Personalfragen bei Pöllath. "Die Entscheidung war nicht strategisch." Das Zimmer könnte auch ein normales Büro sein: Darin stehen drei Tische, Regale und Möbel aus dem altem Büro vor dem Umzug. Der Raum ist nicht mit Kindermobiliar ausgestattet worden, die Spielsachen sind im Rahmen von Kinderfesten wie Osterbasteln, Halloweenaktionen oder Weihnachtsfeiern übrig geblieben oder wurden von Mitarbeitern gespendet.
"Die Kinder sind nicht tageweise da, sondern in der Regel für wenige Stunden. Damit geben wir den Eltern die Möglichkeit, Zeitengpässe zu überbrücken, wenn sie zum Beispiel einen Arzttermin haben", sagt Nase. Bei Pöllath passen dann Studenten auf die Kinder auf, ein Arbeitsplatz ist in dem Zimmer nicht eingerichtet. Die Nachfrage nach kanzlei-eigener Betreuung sei bei Pöllath überschaubar. "Es ist wie so oft: Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Viele unserer Kollegen nutzen vermehrt die Möglichkeit, in solchen Situationen von zu Hause zu arbeiten. Home-Office ist bei uns möglich, dann kann das Kind in seiner gewohnten Umgebung Kraft tanken."
Einen vergleichsweise großen Andrang auf das Zimmer wie bei Menold Bezler gibt es deshalb bei Pöllath nicht. Auch sei es nicht realistisch, mit Kindern in einem Raum konzentriert zu arbeiten. Nase findet: "Bei vielen fällt dann sehr schnell der Konzentrationsgrad. Entweder wird man zwischendurch angesprochen oder das Kind will Aufmerksamkeit. Zuhause aber ist das Kind in seiner gewohnten Umgebung und kann sich dort eher mal für eine Stunde selbst beschäftigen."
Kinder sind dennoch ein vertrautes Bild in der Kanzlei. Oft verbringen sie einige Zeit im Büro der Eltern oder in der kanzleieigenen Kantine. "Wir wollen den Bedürfnissen unserer Kollegen so gut wie möglich gerecht werden", sagt Nase. Familienfreundlichkeit kann also auch ohne Strategie oder umständliche Partnerentscheidungen realisiert werden.
Désirée Balthasar, Anwälte mit Kindern: Die Kanzlei, das Spieleparadies . In: Legal Tribune Online, 22.12.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14179/ (abgerufen am: 06.05.2024 )
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