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OLG Brandenburg entlässt Dealer aus U-Haft: Minis­ter­prä­si­dent "fas­sungslos", Rich­ter­bund sieht "Grenzen über­schritten"

von Annelie Kaufmann

15.08.2019

Dietmar Woidke

Bild: Adrian Fiedler, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0, Zuschnitt und Skalierung durch LTO

Das OLG entlässt einen Drogen-Dealer aus der U-Haft, der Ministerpräsident greift das Gericht an, der Richterbund den Ministerpräsidenten, das Justizministerium beschwichtigt – ein Einzelfall oder ein Zeichen für die Überlastung der Justiz?

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Nachdem das Brandenburgische Oberlandesgericht (OLG) einen mutmaßlichen Drogen-Dealer aus der Untersuchungshaft entlassen hat, weil das Verfahren sich ohne wichtigen Grund mehr als sechs Monate hinzog, kritisierte der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke die Entscheidung scharf: "Mich hat die Entlassung fassungslos gemacht", sagte Woidke am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur (dpa).

Rechtlich sei es nach der Strafprozessordnung möglich gewesen, die Untersuchungshaft fortzusetzen, so Woidke laut dpa. "Wenn das OLG zu einer anderen Entscheidung kam, dann ist es in seiner Unabhängigkeit verantwortlich dafür." Woidke forderte vom OLG, aber auch von Justizminister Stefan Ludwig (Linke) "vollständige Aufklärung" in einer Sondersitzung des Landtags-Rechtsausschusses, die bereits beantragt ist.

Richterbund: Ministerpräsident hat Grenzen überschritten

Dass ihm das seinerseits heftigen Gegenwind aus der Justiz einbringen würde, dürfte Woidke klar gewesen sein. "Der Ministerpräsident hat mit seiner Äußerung seine Grenzen überschritten", erwiderte die Vorsitzende des Brandenburger Richterbundes, Claudia Cerreto. "Es steht weder einem Ministerpräsidenten noch einer Landesregierung zu, gerichtliche Entscheidungen zu kommentieren."

Eine Einmischung der Verwaltung oder der Politik stelle einen Eingriff in die verfassungsrechtlich gewährleistete Unabhängigkeit der Justiz dar, so Cerreto weiter. Es sei "ein Unding", dass der Ministerpräsident nicht nur vom Justizminister, sondern auch vom Oberlandesgericht "vollständige Aufklärung" verlange. Cerreto sieht die Landesregierung in der Verantwortung: "Die Überlastung der Justiz und der Strafkammern ist eine Folge des viele Jahre andauernden, stetigen Personalabbaus", so Cerreto. "Die Landesregierung hat Raubbau an der Justiz betrieben. Dies rächt sich jetzt."

Der Deutsche Richterbund (DRB) – der Bundesverband der Richter und Staatsanwälte – warnte kürzlich, es müssten immer häufiger Tatverdächtige wegen zu langer Verfahrensdauer aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Nach Angaben des DRB gab es im vergangenen Jahr bundesweit mindestens 65 solcher Fälle. In Brandenburg musste Anfang des Jahres ein ehemaliger NPD-Politiker aus der Untersuchungshaft entlassen werden.

Justizministerium: "Gerichte prüfen akribisch und verantwortungsvoll"

Über den aktuellen Fall, bei dem es um einen mutmaßlichen Dealer ging, der knapp 60 Kilogramm Heroin in seinem Auto über die deutsche Grenze gebracht haben soll, berichtete zuerst der rbb. Der Fall sorgte für Aufsehen in den regionalen Medien, er fällt außerdem mitten in den Wahlkampf vor der Landtagswahl am 1. September. Die Oppositionsparteien CDU und FDP warfen der rot-roten Landeregierung Versagen vor. Gegenüber dem rbb warnte der Spitzenkandidat der Brandenburger CDU, Ingo Senftleben, mehr als 70 Tatverdächtige säßen bereits länger als sechs Monate ohne Verfahren in Untersuchungshaft, auch in diesen Fällen drohe eine baldige Freilassung.

Allerdings ist es nicht unüblich, dass Verfahren länger als sechs Monate andauern. "Dass sich einige dringend Tatverdächtige seit mehr als sechs Monaten in Untersuchungshaft befinden, heißt natürlich nicht, dass in diesen Fällen eine Freilassung kurz bevorsteht", so der Sprecher des Brandenburger Justizministers gegenüber LTO. "Es gibt viele Ursachen, die dazu führen, dass ein Verfahren länger dauert, denn nicht alle Strafverfahren können innerhalb von sechs Monaten abgeschlossen werden."

Das Justizministerium versucht im Streit um die Verantwortung für die Entlassung zu beschwichtigen:  "Die Gerichte prüfen rund achtzig Mal im Jahr, ob eine U-Haft weiter andauern kann und ich bin mir sicher, dass sie dies mit großer Akribie und Verantwortungsbewusstsein tun. Nur in wenigen Fällen kommt es dazu, dass ein Tatverdächtiger freigelassen wird, weil das Gericht keinen Grund für die Fortdauer der Untersuchungshaft sieht oder einen Verstoß gegen das strafprozessuale Beschleunigungsgebot annimmt."

OLG: Auf eine Überlastung des Gerichts kommt es nicht an

Letztlich lässt sich wohl kaum feststellen, ob eine überlange Verfahrensdauer auf eine generelle Überlastung des Gerichts oder schlicht auf eine vermeidbare Verzögerung im Einzelfall zurückzuführen ist. Darauf kommt es auch nicht an, ebenso wenig wie auf die Schwere der Tat oder die in Frage stehende Strafhöhe, erklärt das OLG in seinem Beschluss.

In dem aktuellen Fall datierte der Haftbefehl vom Januar dieses Jahres, die Hauptverhandlung vor dem Landgericht (LG) Frankfurt/Oder war aber erst für November festgelegt worden. Das LG hatte zunächst mitgeteilt, ein früherer Termin sei im Hinblick auf die noch nicht vollständig abgeschlossen Ermittlungen, weitere terminierte Haftsachen sowie aufgrund des Urlaubs der Berichterstatterin im August, des Vorsitzenden im Oktober und der beabsichtigten Terminierung einer weiteren Haftsache nicht möglich gewesen. Das geht aus dem Beschluss des OLG Brandenburg (v. 1. August 2019, Az. Ws 152/19) hervor.

Später teilten außerdem der Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende der Strafkammer sowie der Präsident des LG mit, der Verzug beruhe "nicht auf einer nur kurzfristigen und unvorhersehbaren Überlastung des zuständigen Spruchkörpers, die unvermeidbar wäre", sondern sei Folge der bekannten hohen Belastung der Großen Strafkammern des Landgerichts.

Auch eine generelle Überlastung des Gerichts falle nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts "in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft", so das OLG. Könne dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht Rechnung getragen werden, so hätten eben "die mit der Haftprüfung betrauten Gerichte die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zu ziehen, indem sie die Haftentscheidung aufheben". Ansonsten "verfehlen sie die ihnen obliegende Aufgabe, den Grundrechtsschutz der Betroffenen zu verwirklichen", betonten die OLG-Richter.  

Mit Material der dpa

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OLG Brandenburg entlässt Dealer aus U-Haft: Ministerpräsident "fassungslos", Richterbund sieht "Grenzen überschritten" . In: Legal Tribune Online, 15.08.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37071/ (abgerufen am: 29.03.2023 )

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