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Grüne und FDP fordern Video-Dokumentation im Strafverfahren: "Deut­sch­land im EU-Ver­g­leich trau­riges Schluss­licht"

von Annelie Kaufmann

01.10.2019

Videokamera

Zarya Maxim - stock.adobe.com

Union und SPD wollen das Strafverfahren modernisieren. Eins soll aber beim Alten bleiben: Der Richter schreibt mit, es gibt keine Aufzeichnung der Hauptverhandlung. Nicht gerade zeitgemäß, kritisieren unter anderem FDP und Grüne.

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Die große Koalition hat aus den aktuellen Plänen für eine Modernisierung des Strafverfahrens eine seit Jahren umstrittenen Frage einfach ausgeklammert: Ist es noch zeitgemäß, dass die Hauptverhandlung an deutschen Strafgerichten in aller Regel nicht dokumentiert wird?

Doch der Druck auf Union und SPD, auch diese Frage zu klären, steigt: Am vergangenen Donnerstag haben die Grünen einen Antrag in den Bundestag eingebracht und fordern, schon zu Beginn des Jahres 2021 eine Tonaufzeichnung für alle erstinstanzlichen Hauptverhandlungen in Strafverfahren vor den Land- und Oberlandesgerichten einzuführen. Ab 2023 soll die dann letztlich durch eine Videodokumentation ersetzt werden.

"Dass die Bundesregierung bei diesem Hauptaspekt der Modernisierung des Strafverfahrens mit der Begründung, dies sei im Koalitionsvertrag nicht vereinbart, nichts voranbringt, ist schon skandalös", kritisiert die zuständige Abgeordnete der Grünen, Canan Bayram. "Mindestens  schrittweise Ermöglichung der audiovisuellen Dokumentation bei erstinstanzlichen Strafverfahren vor den Land- und Oberlandesgerichten ist angezeigt." Um erste Erfahrungen zu sammeln, schlagen die Grünen vor, mit der Bild-Ton-Aufzeichnung von Völkerstrafverfahren 2021 zu beginnen und die Medienausstattung bei den dafür zuständigen Staatsschutzsenaten aus dem Bundeshaushalt mitzufinanzieren.

Auch die FDP betont in einem ebenfalls vergangene Woche von der Fraktion beschlossenen Antrag zur Reform des Strafprozesses, dass zur Modernisierung des Strafverfahrens auch die audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung gehört: "Wir müssen vor allem die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen und endlich die audiovisuelle Dokumentation des Strafverfahrens einführen", so der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der FDP im Bundestag, Stephan Thomae. "Hier ist Deutschland im europäischen Vergleich trauriges Schlusslicht." Schon im Juni hatte die FDP dazu einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Bild-Ton-Aufzeichnung in erstinstanzlichen Strafverfahren vor den Land- und Oberlandesgerichten vorsieht.

Dokumentation ist in den meisten EU-Ländern Standard

Tatsächlich ist eine umfassende Dokumentation der Hauptverhandlung - per Wortprotokoll, Tonaufzeichnung oder Video - in den meisten EU-Mitgliedstaaten Standard. In Deutschland wird dagegen nicht protokolliert, was genau etwa der Angeklagte oder ein Zeuge in der Hauptverhandlung gesagt haben. Die Richter verlassen sich bei der Beweiswürdigung und der Begründung des Urteils auf ihre eigenen Mitschriften.

Das wird insbesondere von Strafverteidigern seit Jahren kritisiert. Und auch die verlieren langsam die Geduld: "Es geht nicht bloß um ein 'nice to have'. Wir haben ein Rechtsstaatsdefizit", sagte Dr. Margarete von Galen, Strafverteidigerin und Vizepräsidentin des Council of Bars and Law Societies of Europe (CCBE) kürzlich auf einer Veranstaltung des Deutschen Anwaltvereins in Berlin.

Sie stellte dort einen Vergleich der Situation in den EU-Mitgliedstaaten vor und kam zu dem Schluss: "Wenn Deutschland heute in die EU aufgenommen würde, würde das deutsche Justizsystem untersucht, beanstandet und Deutschland würde aufgefordert, spätestens nach der Aufnahme in die EU ein System der Protokollierung der Hauptverhandlung vor den Landgerichten und Oberlandesgerichten einzuführen." Auch internationale Institutionen wie die Weltbank und die Venedig-Kommission weisen regelmäßig darauf hin, wie wichtig eine zuverlässige Dokumentation im Strafverfahren ist.

In der Justiz stoßen solche Pläne allerdings - ebenfalls seit Jahren - auf erheblichen Widerstand. Dort fürchtet man nicht nur einen erheblichen Aufwand und technische Schwierigkeiten, sondern auch, dass das Rechtsmittelsystem über den Haufen geworfen würde, wenn in Revisionsverfahren möglicherweise eine Ton- oder Videoaufnahme herangezogen werden müsste.

Doch auch an den Gerichten gibt es mittlerweile prominente Fürsprecher einer Aufzeichnung. So schlägt Prof. Dr. Andreas Mosbacher, Richter am Bundesgerichtshof, eine Tonaufzeichnung zusammen mit einer technischen Transkription vor. Das erleichtere Richtern eine schnelle Übersicht, während die Aufzeichnung zur Überprüfung herangezogen werden könnte.

Strafrichter können bereits aufzeichnen lassen - wenn sie wollen

Tatsächlich können Strafrichter für interne Zwecke schon jetzt Tonaufnahmen der Hauptverhandlung aufzeichnen lassen. Einer der wenigen, die das regelmäßig eingesetzt haben, ist der ehemalige Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf, Otmar Breidling. Er hat viele umfangreiche Terrorismus-Prozesse geführt, unter anderem gegen Mitglieder von Al Qaida und gegen die islamistische "Sauerland-Gruppe".

Breidling sagt gegenüber LTO, er habe stets auch eine eigene Mitschrift geführt. Bei umfangreichen Prozessen sei eine Tonaufzeichnung aber eine wichtige Erinnerungsstütze. "Wenn man einen ganzen Verhandlungstag lang mitschreibt, kann es durchaus passieren, dass man mal einen Aussetzer hat. Mit einem Mitschnitt ist das kein Problem, dann weiß man, dass man das nachhören kann."

Bei kleineren Strafverfahren, in denen unter Umständen auch gleich nach der Verhandlung ein Urteil verkündet wird, sei eine Tonaufzeichnung dagegen nicht nötig, findet Breidling. "Grundsätzlich halte ich eine Audioaufzeichnung in der Hauptverhandlung nur in sogenannten Umfangsverfahren für geeignet und machbar."

Gerade für solche Umfangsverfahren könnte die audiovisuelle Dokumentation möglicherweise auch noch ein anderes Problem lösen: Ein (vorher gesetzlich zu bestimmender) Ergänzungsrichter müsste dann nicht der gesamten Hauptverhandlung beiwohnen, sondern könnte sich anhand der Aufzeichnung in das Verfahren einarbeiten.

Auch wenn sich Union und SPD derzeit noch ausgesprochen zurückhaltend geben: Im Bundesjustizministerium gibt es durchaus schon recht konkrete Überlegungen zur Einführung einer Dokumentationspflicht, etwa mit Pilotprojekten an einzelnen Strafgerichten. Bis Genaueres bekannt wird, will man sich dort aber noch etwas Zeit lassen.

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Grüne und FDP fordern Video-Dokumentation im Strafverfahren: "Deutschland im EU-Vergleich trauriges Schlusslicht" . In: Legal Tribune Online, 01.10.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37933/ (abgerufen am: 05.06.2023 )

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