Die jüngste Reform des Wahlrechts verfehlt ihr politisches Ziel und missachtet den verfassungsrechtlichen Rahmen. Anstelle fehleranfälliger Feinkorrekturen ist ein Reset des Wahlrechts geboten, meint Matthias Rossi.
Nach der Sachverständigenanhörung im Bundestagsinnenausschuss zum GroKo-Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes war man sich eigentlich sicher: Diese "Reform" würde nicht in Kraft treten. Sie trägt nicht verlässlich zur Verkleinerung des Bundestages bei, überschreitet mit dem bewussten Verzicht auf den Ausgleich aller Überhangmandate die verfassungsgerichtlich nachgezogenen Grenzen und nimmt zudem die Möglichkeit negativer Stimmgewichte in Kauf, die durch das aktuelle Wahlrecht gerade ausgeschlossen ist. Zudem hat sie nicht alle Folgen ihrer Änderungen erfasst und etwa das Nachrücken in Überhangmandate nicht klar geregelt.
Die späte Einigung im Koalitionsausschuss Ende August 2020, ihre mit heißer Nadel gestrickte Umsetzung in Gesetzesform: Alles nur Show, um nach außen Reformwillen und sich selbst gegenüber Koalitionsfähigkeit zu präsentieren? Das mochte man nach der Anhörung im Innenausschuss gerne denken. Ein solches Theater auf institutioneller Bühne wäre schlimm genug, doch schlimmer wiegt, dass das Gesetz nur drei Tage später tatsächlich mit den Mehrheiten der CDU-/CSU- und SPD-Fraktion vom Bundestag beschlossen wurde.
Denn nun ist nicht nur unklar, wie groß der nächste Bundestag sein wird. Unklar ist vor allem auch, ob die Wahl überhaupt ihre legitimierende Funktion erfüllen kann. Dem steht nicht nur die materielle Verfassungswidrigkeit entgegen, sondern auch die Art und Weise, mit der die "Reform" beschlossen wurde.
Koalitionsausschuss statt parteiübergreifendem Konsens
Denn in der Sache gehen die Änderungen auf den sog. Koalitionsausschuss zurück, auf den Willen der (Regierungs-)Parteien mithin, nicht auf den des Parlaments. Das mag zwar in anderen Sachfragen üblich sein – auch hier bestimmt die Koalitionsvereinbarung ganz maßgeblich den Inhalt von Gesetzen. Doch das Wahlrecht unterscheidet sich von solchen Sachgesetzen, denn das Wahlrecht bestimmt nicht nur Spielzüge, sondern die Spielregeln.
Wahlrecht ist der Sache nach Verfassungsrecht. Es gestaltet das Demokratieprinzip aus, formt die Gewaltenteilung und prägt das gesamte Regierungssystem. Es entscheidet über Macht. Auch wenn das Grundgesetz (GG) die Ausgestaltung des Wahlrechts in die Hände der – einfachen! – Mehrheit des Gesetzgebers legt, wird dieser doch bei materieller Betrachtung als verfassungsgebende Gewalt tätig. Deshalb entsprach es ständiger Übung, das Wahlrecht wenn schon nicht mit einer förmlichen Zwei-Drittel-Mehrheit, so doch jedenfalls NUR mit breiter Zustimmung der im Bundestag vertretenen Parteien zu ändern.
Mit dieser Übung bricht die aktuelle Reform, und sie gefährdet schon deshalb die legitimierende Wirkung des Wahlrechts. Ihre Behandlung im Bundestag nach den üblichen Bestimmungen der Geschäftsordnung tut ihr Übriges. Rund eine halbe Stunde Befassung im Plenum – von Diskussion kann keine Rede sein – unter striktester Beachtung der Redezeiten ist der Bedeutung des Wahlrechts nicht angemessen. Schon bei der Wahlrechtsreform von 2011 war die anschließende mündliche Verhandlung beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) substanzieller und ergiebiger als die parlamentarische Diskussion. Eine freie Abstimmung im Parlament wäre insofern das Mindeste gewesen. So hat sich wohl nur Wolfgang Schäuble herausgenommen, sich entgegen der Fraktionsdisziplin jedenfalls zu enthalten.
Unsicherer Verfassungsmaßstab
Doch ist das Gesetz nun noch zu stoppen? Kann man, soll man hoffen, dass der Bundespräsident die Ausfertigung des Gesetzes verweigert? Dass das BVerfG seine Anwendung per einstweiliger Anordnung aussetzt? Oder in der Hauptsache sehr spät und nur mit Wirkung für die Zukunft entscheidet, damit die Handlungen des nächsten Bundestages jedenfalls rechtlich nicht in Frage stehen?
Dies steht und fällt mit der Beurteilung der materiellen Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Legt man insofern die bisherige Rechtsprechung des BVerfG zu Grunde, sind viele Aspekte der jüngsten Novelle verfassungswidrig. Aber wird das Gericht, noch dazu in veränderter personeller Zusammensetzung, an seinen Maßstäben festhalten?
Zweifel sind etwa mit Blick auf die Grundsätze der Normenklarheit und -wahrheit angebracht, die auf Verständlichkeit des Wahlrechts zielen. Das BVerfG hebt ihre Bedeutung zwar hervor, wendet sie aber nicht als harten verfassungsrechtlichen Maßstab an, der über die Verfassungsmäßigkeit oder -widrigkeit entscheidet. Vielmehr stellt es letztlich doch auf die Auslegungsfähigkeit auch kompliziertester Regelungen des Wahlrechts ab.
Und auch hinsichtlich der Ausgleichspflicht von Überhangmandaten kann nicht prognostiziert werden, wie das Gericht entscheiden wird. Bislang hält es eine Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit durch unausgeglichene Überhangmandate jedenfalls dann für rechtfertigungsfähig, wenn sie sich als ungewollte und unausweichliche Nebenfolge eines Wahlsystems darstellen. Aber würde es auch künftig zwischen intendierten und in Kauf genommenen Mandaten unterscheiden?
Dem BVerfG kann jedenfalls nicht die Absicht unterstellt werden, dem für das Wahlrecht verantwortlichen Gesetzgeber immer engere Grenzen zu setzen. Aber es hat vielleicht früher als der Bundestag erkannt, dass unter den veränderten parteipolitischen Verhältnissen ein Festhalten am überkommenen Wahlsystem nicht möglich ist.
Wege zum Systemwechsel
Anstelle am geltenden System herumzudoktern und mit Feinkorrekturen immer mehr Fehlerpotential zu generieren, ist ein Systemwechsel angezeigt. Es bedarf einer offenen Diskussion: Über den Sinn der Direktwahl von Kandidaten, die ihren Wahlkreis von politischen Parteien zugewiesen bekommen. Über das Maß an föderaler Repräsentation. Über die Auswirkungen des Wahlrechts auf die Regierungsfähigkeit. Und natürlich vorab auf die Funktionsfähigkeit des Parlaments selbst. Zudem muss der Preis beziffert werden, den man für ein klares und verständliches Wahlsystem zu zahlen bereit ist – er wird vermutlich sehr hoch ausfallen.
Es genügt nicht, dass diese Fragen nur von den politischen Parteien oder sogar nur parteiintern in kleinster Runde erörtert werden. Sie müssen in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden. Für einen Systemwechsel bedarf es genau genommen sogar einer Art kleiner verfassungsgebender Versammlung. Im Idealfall entscheidet das Volk über ein oder mehrere Vorschläge in unmittelbarer Abstimmung.
Die geplante Beauftragung einer Kommission kann ein Schritt in die richtige Richtung sein, wenn sie denn das bisherige Trauerspiel nicht als Marionettentheater fortsetzt. Dass sie vom Parlament und also nur von den derzeit im Parlament vertretenen politischen Parteien entsprechend ihrem Stärkeverhältnis besetzt werden wird, relativiert ihre Offenheit freilich ein wenig. Denn das Wahlrecht muss als materielles Verfassungsrecht vom ausschließlichen Zugriff der politischen Parteien befreit werden. Sinnvoller wäre es deshalb, sie beim Bundespräsidenten anzusiedeln, auch wenn die politischen Parteien trotzdem an ihrer Besetzung beteiligt wären.
Parteien-Bashing nicht angezeigt
Doch ein grundsätzliches Parteien-Bashing ist auch mit Blick auf die vertane Chance der Wahlrechtsreform gar nicht angezeigt. Man kann den politischen Parteien nicht verdenken, dass sie ihr eigenes Interesse stärker berücksichtigen als das Gesamtinteresse, es jedenfalls nicht aus den Augen verlieren. Denn die politischen Parteien kostet es sicher keine Stimme, wenn sie sich einer Reform verweigern, während es sie Sitze kosten kann, wenn sie sich auf eine einlassen.
Es ist deshalb ein Verfahren zu finden, in dem die Parteien an der Novellierung des Wahlsystems beteiligt sind, an ihr mitwirken, wie Art. 21 GG es zum Ausdruck bringt. Sie sollten dann allerdings der Versuchung widerstehen, neue Wahlrechtsmodelle anhand der Ergebnisse der letzten Wahlen durchzurechnen. Die alles entscheidende und doch nicht berechenbare Variable ist das Wahlergebnis.
Das Wahlrecht muss deshalb immer unter dem Schleier des Ungewissen bestimmt werden, muss jegliches Wählerverhalten einkalkulieren. Es darf die Parteien nur als abstrakte Größen betrachten. Die konkreten Parteien müssen sich dann unter feststehenden Wettbewerbsbedingungen um jede Stimme bemühen, dürfen aber nicht die Wettbewerbsbedingungen verändern, um ein einmal erreichtes Stimmergebnis zu behalten.
Professor Dr. Matthias Rossi hat an der Universität Augsburg den Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht sowie Gesetzgebungslehre inne.
Reform des Wahlrechts: . In: Legal Tribune Online, 14.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43083 (abgerufen am: 06.11.2024 )
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