Das Bundesjustizministerium hat einen Entwurf für Verbandsklagen auf Abhilfe vorgelegt. Luidger Röckrath erläutert, wo der Entwurf sich für eine verbraucherfreundliche und wo für eine wirtschaftsfreundliche Umsetzung entschieden hat.
Eine-für-alle Klage nannte die ehemalige Bundesjustizministerin Katarina Barley die Musterfeststellungsklage. Doch dieses als Reaktion auf die massenhaften Dieselklagen gegen VW 2018 eingeführte Rechtsinstrument ermöglichte – wie der Name schon sagt – nur die Feststellung eines Rechtsverstoßes, nicht aber eine direkte Klage auf Leistung, wie etwa Schadensersatz. Die EU verlangte hingegen genau das.
Konkret zwingt die EU-Richtlinie 2020/1828 den deutschen Gesetzgeber bis Dezember 2022 zur Einführung einer auf Schadensersatz oder sonstigen Abhilfe gerichteten Verbandsklage. Die Richtlinie gibt nur einen Mindeststandard vor, weitergehende Regelungen sind also möglich. Wie dieser Umsetzungsspielraum ausgefüllt werden soll, wurde bisher überwiegend wissenschaftlich diskutiert, was die Ampel-Regierung wollte, blieb lange unklar.
Drei Monate vor Ablauf der Umsetzungsfrist wird nun klar, wie die neue "Eine-für-alle-Klage" aussehen soll. Das Bundesministeriums der Justiz hat einen Referentenentwurf zur Ressortabstimmung vorgelegt. Ein neues Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz (VDuG) soll die Vorgaben der Richtlinie insbesondere zur Einführung einer neuartigen Verbandsklage auf Leistung (also z.B. Schadensersatz, Nachlieferung etc., im folgenden kurz Abhilfeklage) umsetzen. Zugleich soll die Musterfeststellungsklage aus der ZPO gestrichen und in dieses neue Gesetz integriert werden.
Verbraucher muss selbst rechtzeitig aktiv werden (Opt-in)
Wenig überraschend soll auch für die Abhilfeklage – wie schon für die Musterfeststellungsklage – das Opt-in System gelten. Der Verbraucher muss seinen Anspruch spätestens am Tag vor der ersten mündlichen Verhandlung zum Verbandsklageregister anmelden. Ein Opt-out Modell nach Vorbild der US-amerikanischen Sammelklage (class action) schließt die Richtlinie zwar nur für grenzüberschreitende Verbandsklagen aus, es wurde aber in der bisherigen rechtspolitischen Diskussion kaum ernsthaft erwogen.
Offen diskutiert wurde hingegen der Zeitpunkt des Opt-in. Alternativ wurde ein später Opt-in, auch noch nach einem Vergleich oder Urteil, vorgeschlagen. Verbraucher könnten so abwarten, ob ihnen das Ergebnis zusagt und sich dann erst anschließen. Dem folgt der Referentenentwurf nicht. Andererseits ist die Verbandsklage als solche schon zulässig, wenn glaubhaft gemacht wird, dass 50 Verbraucher betroffen sind, diese müssen nicht tatsächlich den Opt-in erklären. Vom Ergebnis profitieren aber nur diejenigen Verbraucher, die rechtzeitig ihre Ansprüche anmelden.
Diese Systementscheidung für einen frühen Opt-in muss auch im Zusammenhang mit der Verjährungsthematik gesehen werden. Während die Unterlassungsverbandsklage für alle betroffenen Verbraucher die Verjährung auch ohne Anmeldung hemmt, also keinen Opt-in erfordert (was die Richtlinie vorgibt), gilt dies bei der Musterfeststellungs- und Abhilfeklage nur für die Verbraucher, die ihre Ansprüche rechtzeitig anmelden. Dies entspricht der derzeitigen Rechtslage bei der Musterfeststellungsklage. Die Anmeldung ist sehr niederschwellig ausgestaltet. Der Verbraucher kann sie selbst, d.h. ohne Anwalt, z.B. per E-Mail, gegenüber dem Bundesamt für Justiz erklären. Die Anmeldung ist kostenlos.
Der Referentenentwurf hat sich mit der Kombination von frühem Opt-in und Verjährungshemmung nur durch individuelle Anmeldung für ein Modell entschieden, dass für die beklagten Unternehmen das maximale Risiko recht gut abschätzbar macht und damit etwaige Vergleichslösungen erleichtert.
"Gleichartigkeit" der Verbraucheransprüche
Ein neue Voraussetzung für die Abhilfeklage ist das Merkmal der "Gleichartigkeit" der geltend gemachten Verbraucheransprüche. Die Richtlinie überlässt die Ausgestaltung insoweit dem nationalen Gesetzgeber. Bei der Musterfeststellungsklage gibt es ein solches Merkmal nicht, da mit dieser nicht unmittelbar Ansprüche gemacht werden, sondern nur bestimmte Voraussetzungen rechtlicher oder tatsächlicher Art für Ansprüche festgestellt werden sollen.
Nach der Begründung soll die Ähnlichkeit der Ansprüche so stark ausgeprägt sein, dass eine "schablonenhafte Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch das Gericht" möglich ist. Beispielhaft sei insoweit der Fall der Fluggastentschädigung mit Pauschalbetrag für Flugausfall oder -verspätung. Hier spielen individuelle Umstände bei Passagieren desselben Flugs keine Rolle. Die Begründung nennt auch Zinsen aus Sparverträgen, die nach bestimmten Formeln, wenn auch aus individuell verschiedenen Beträgen und Zeiträumen, errechnet werden können. Die Gleichartigkeit würde dagegen fehlen, wenn nur einzelne Produkte aus einer Serie fehlerhaft sind, was im Einzelfall zu klären sei, oder nur einzelne Ansprüche verjährt sind.
Keine Beschränkung auf Rechtsverstöße mit EU-Bezug
Nach der EU-Richtlinie muss das Verbandsklageverfahren nur bei Verletzung von bestimmten Verbraucherschutzbestimmungen des EU-Rechts (einschließlich der nationalen Umsetzungsnormen) zur Verfügung stehen. Der Entwurf sieht dagegen weitergehend vor, dass es auf alle Streitigkeiten zwischen Verbrauchern und Unternehmen Anwendung finden soll, und vermeidet damit Abgrenzungsschwierigkeiten.
Verbraucheransprüche aus nationalem Deliktsrecht könnten demnach grundsätzlich auch zum Gegenstand einer Verbandsabhilfeklage gemacht werden, vorausgesetzt die Gleichartigkeit ist zu bejahen.
Erstreckung auf kleine Unternehmen
Schon der Koalitionsvertrag sah die Erstreckung des Anwendungsbereichs auf kleine Unternehmen vor. Das heißt auch kleine Unternehmen sollen sich einer Verbandsklage anschließen können. Insoweit würde der deutsche Gesetzgeber über das hinausgehen, was die Richtlinie erfordert. Diese soll nach dem Entwurf allerdings nur möglich sein, wenn die Abhilfeklage von einem Verband für Verbraucher erhoben wird, aber kleine Unternehmen gleichermaßen betroffen sind.
Dies könnte bei kartellrechtlichen Schadensersatzklagen relevant werden, die die Gerichte seit Jahren ebenfalls in großer Zahl beschäftigen. Allerdings wäre dies dann wohl beschränkt auf Produkte, die von Verbrauchern und Unternehmern gleichermaßen nachgefragt werden. Auch insoweit stellt sich aber die Frage, ob Abnehmer verschiedener Marktstufen gleichermaßen betroffen sind, so dass überhaupt die zusätzlich geforderte Gleichartigkeit gegeben ist.
Der erste Schritt: die Entscheidung des Gerichts über die Verbandsabhilfeklage
Vorgesehen ist ein zweistufiges gerichtliche Verfahren. Zunächst stellt das Gericht in einem Abhilfegrundurteil die Berechtigung der Ansprüche grundsätzlich fest. Bejaht es Ansprüche, kann es die Parteien auffordern, möglichst einen Vergleich über die Umsetzung des Grundurteils zu erzielen. Kommt es nicht zum Vergleich, wird das Verfahren fortgesetzt und durch Abhilfeendurteil entschieden. Neu ist, dass das Gericht das Unternehmen auch zur Zahlung eines „kollektiven Gesamtbetrags“ zu Händen eines Sachwalters verurteilen kann. Dieser kollektive Gesamtbetrag kann vom Gericht auch geschätzt werden. Das ergibt sich schon aus § 287 ZPO, was an sich eine Selbstverständlichkeit ist.
Der zugesprochene kollektive Gesamtbetrag ist allerdings nicht endgültig. Er gibt dem beklagten Unternehmen nicht die Sicherheit, dass die Sache endgültig mit dessen Zahlung erledigt ist. Wenn der Betrag nicht ausreicht, kann er auf Antrag nachträglich erhöht werden. Zur Befriedigung der Verbraucheransprüche nicht erforderliche Restbeträge werden im Gegenzug nach Beendigung des Umsetzungsverfahrens zurückgezahlt. Ein vorläufig aufgrund des denkbaren Höchstbetrags festgesetzter Gesamtbetrag (was laut Begründung unter Würdigung aller Umstände zulässig sein soll) kann dennoch eine erhebliche Liquiditätsbelastung darstellen, so dass eine Schätzung aus Unternehmenssicht unter Berücksichtigung aller Umstände stets mit Augenmaß auf gesicherter Tatsachengrundlage erfolgen sollte.
Der zweite Schritt: die Verteilung im Umsetzungsverfahren
Der Sinn der Verbandsklage kann nur erfüllt werden, wenn der Verbraucher tatsächlich auch die Abhilfe erhält, also etwa den zugesprochenen Schadensersatz. Die Richtlinie gibt vor, dass dafür – anders als bei der Musterfeststellungsklage – keine gesonderte Klage des Verbrauchers gefordert werden darf. Der Entwurf sieht dazu ein Umsetzungsverfahren vor, dass detailliert geregelt wird. Das Gericht setzt einen Sachwalter ein, der die individuelle Anspruchsberechtigung prüft und berechtige Zahlungsansprüche durch Leistung aus dem Umsetzungsfonds befriedigt. Reicht der kollektive Gesamtbetrag nicht aus, wird anteilig gekürzt. Allerdings kann der klagende Verband, aber nicht der Sachwalter selbst– wie ausgeführt -, eine nachträgliche Erhöhung des kollektiven Gesamtbetrags verlangen, um alle berechtigten Ansprüche voll zu befriedigen.
Die Entscheidung, ob eine individuelle Anspruchsberechtigung besteht, trifft der Sachwalter abschließend, sie ist als solche nicht gerichtlich überprüfbar. Allerdings kann der Verbraucher seinen Anspruch mit einer Individualklage verfolgen, wenn er vom Sachwalter abgelehnt wurde. Im umgekehrten Fall kann der Unternehmer den an den Verbraucher ausgezahlten Betrag mit einer Individualklage zurückfordern.
Weitere Aspekte
Weitere wichtige Punkte des Referentenentwurfs seien an dieser Stelle kurz angerissen: Die Oberlandesgerichte sollen wie bei der Musterfeststellungsklage die Eingangsinstanz sein, was überzeugt. Die Klagebefugnis ist auf bestimmte Verbände beschränkt (der Entwurf übernimmt im Wesentlichen die Kriterien der Musterfeststellungsklage) und die Finanzierung der Klagen unterliegt bestimmten Beschränkungen, was auch der Vermeidung von Missbrauch dient. Im Beweisrecht ändert sich praktisch nichts. Für die Vorlage von Dokumenten gelten die allgemeinen Regeln der ZPO, die bekanntermaßen relativ restriktiv gefasst und gehandhabt werden. Die Vorlage von Dokumenten kann allerdings auch gegenüber den Parteien durch Festsetzung von Ordnungsgeld erzwungen werden, was bisher nur gegenüber Dritten möglich war.
Fazit
Der Referentenentwurf zur Umsetzung der Verbandsklagenrichtlinie nimmt den Auftrag der Richtlinie auf, den Verbraucherschutz zu stärken, aber Unternehmen gleichzeitig vor Missbrauch zu schützen und die wechselseitigen Interessen angemessen auszugleichen. Die Systementscheidung für einen frühen Opt-in für die Abhilfeklage und die an die individuelle Anspruchsanmeldung geknüpfte Verjährungshemmung dürfte vermutlich einer der Schwerpunkte der rechtspolitischen Diskussion werden. Hier geht der Entwurf einen eher wirtschaftsfreundlichen Weg. Das Alternativmodell des späten Opt-in bei umfassender Verjährungshemmung, ohne dass der einzelne Verbraucher aktiv werden müsste, würde im Ergebnis zu einer starken Annäherung an die US opt-out class action führen, und ist im Entwurf nicht vorgesehen.
Andererseits können Verbraucher, die sich nicht an der Verbandsklage durch Anmeldung ihrer Ansprüche beteiligen, selbstverständlich individuell klagen. Daher stellt sich die Frage, ob der gewünschte Effekt der Entlastung der Justiz von Massenverfahren eintreten wird.
Dr. Luidger Röckrath, LL.M. (Berkeley) ist Rechtsanwalt und Partner bei Gleiss Lutz in München. Er ist insbesondere im Bereich der Prozessführung tätig.
Referentenentwurf zur Verbandsklage vorgelegt: . In: Legal Tribune Online, 27.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49749 (abgerufen am: 12.10.2024 )
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