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Unschuldiger Terrorverdächtigter gewinnt in Straßburg: EGMR verurteilt Schweiz wegen Menschenrechtsverletzung

von Dipl. Jur. Matthias Lippold

14.09.2012

Schweizer Alpen

© vencav - Fotolia.com

Er ist krank, er ist unschuldig, aber er stand auf einer Terrorliste des UN-Sicherheitsrats. Sechs Jahre lang ließ die Schweiz den Italiener Nada aus einer winzigen Exklave selbst für medizinische Behandlungen weder ein- noch durchreisen. Der EGMR entschied nun, dass die Menschenrechtskonvention auch bei der Umsetzung von Sicherheitsresolutionen gilt. Matthias Lippold über eine Geschichte, die an Kafkas "Der Prozess" erinnert.

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Campione d'Italia ist eine italienische Exklave in der Schweiz. Seit gut vierzig Jahren lebt dort der 1931 in Ägypten geborene Italiener Y. M. Nada. In den Jahren von 2003 bis 2009 wurde das nur etwa 1,6 km2 große Gebiet für ihn zu einer Art Gefängnis, das er nicht mehr verlassen durfte. Die umgebende Schweiz verweigerte ihm die Genehmigung der Ein- und Durchreise. Die Begründung: sein Name war auf Vorschlag der USA auf eine Terrorliste des Sicherheitsrats gesetzt worden.

Als Reaktion auf die Bedrohungen durch internationalen Terrorismus hatte der Sicherheitsrat gezielte Sanktionen gegen Individuen (so genannte targeted sanctions) beschlossen. Erst nur gegen Osama bin Laden und Al-Qaida, später auch gegen solche Personen, die nach Ansicht eines Sanktionskomitees des Sicherheitsrats mit Al-Qaida assoziiert waren. Die Resolutionen sahen unter anderem vor, dass die Staaten die Konten gelisteter juristischer oder natürlicher Personen einfrieren sowie deren Freizügigkeit einschränken.

Keine Ausreise, keine Begründung, kein Rechtsschutz

Nada war am 10. September 2003 in London festgenommen und nach Italien verbracht worden. Einen Monat später widerrief die Schweiz seine Genehmigung zum Grenzübergang. Für sechs Jahren saß der Italiener fortan in der Exklave fest. Obwohl er mit nur noch einer Niere lebt und neben Arthritis im Nacken und Bluten im Auge an einer behandlungsbedürftigen Armfraktur litt, lehnten die Schweizer Behörden auch seinen Antrag ab, ein- und durchreisen zu dürfen, um sich operieren zu lassen.

Dabei waren die Ermittlungen gegen Nada bereits eingestellt. Sein Name aber blieb weiter auf der Terrorliste. Sein Versuch, dies auf UN-Ebene und in der Schweiz zu ändern, blieb lange ohne Erfolg. Eine im Dezember 2006 vom Sicherheitsrat eingerichtete Stelle lehnte seinen Löschantrag ab und verweigerte die Mittelung der konkreten Vorwürfe.

Das Schweizer Bundesgericht sah deshalb seine Hände gebunden: Solange der Name auf der Liste bleibe, sei man zur Umsetzung der Resolution verpflichtet. Gemäß Artikel 25 der UN-Charta sind die Mitgliedsstaaten verpflichtet, Beschlüsse des Sicherheitsrats im Einklang mit der Charta umzusetzen. Diese Pflicht geht gemäß Artikel 103 der Charta anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen vor, zu denen auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) zählt. Nada blieb auf der Liste - ohne zu wissen warum und ohne Rechtsschutzmöglichkeit. Seine Situation ähnelte der von Josef K. in Kafkas Prozess.

Allerdings gab das Schweizer Bundesgericht der Regierung auf, sich diplomatisch für Nada einzusetzen. Nachdem die Schweiz erklärt hatte, fortan nicht mehr bedingungslos Sicherheitsratsresolutionen umzusetzen, wurde Nadas Name schließlich am 23. Oktober 2009 von der Liste genommen.

Nada im Recht auf Privatleben und Rechtsschutz verletzt

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, Urt. v. 12.09.2012, Az. 10593/08) hat nun festgestellt, dass in der Zeit bis zur Aufhebung der Sanktionen gegen Nada dessen Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) und auf wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK) verletzt wurden. 30.000 Euro "gerechte Entschädigung" nach Art. 41 der Konvention sprachen die Straßburger Richter dem zu Unrecht Verdächtigten am Mittwoch zu.

Grundsätzlich müssten Sicherheitsratsresolutionen und die EMRK widerspruchsfrei zueinander ausgelegt werden, um Konflikte zu vermeiden. Doch stellten die Straßburger Richter fest, dass die grundsätzliche Vermutung, wonach Sicherheitsratsresolutionen menschenrechtliche Garantien nicht verletzen wollen, im Falle der Terrorlisten widerlegt sei. Würde das Gericht nun den Anwendungsvorrang der Charta in Frage stellen? Der EGMR umschifft diese Frage und stellt dennoch einen Konventionsverstoß fest.

Trotz der völkerrechtlichen Pflicht zur Umsetzung der Sicherheitsratsresolutionen übe die Schweiz weiterhin Hoheitsgewalt aus. Bei den Umständen der Umsetzung stehe den Staaten grundsätzlich ein Ermessensspielraum zur Verfügung, innerhalb dessen sie die Menschenrechtskonvention berücksichtigen müssen, so die Große Kammer des Gerichtshofs.

Schweiz hätte der persönlichen Situation Rechnung tragen müssen

Die Schweiz hat es laut Gericht unterlassen, alle ihr möglichen Maßnahmen zu ergreifen, damit das Sanktionsregime der persönlichen Situation Nadas Rechnung trägt. Dabei hätten die besonderen Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden müssen:

Nadas Nationalstaat Italien hätte zur Ausübung diplomatischen Schutzes motiviert werden können. Die Schweiz hätte Nada darin unterstützen können, vor dem Sanktionskomitee eine Ausnahmeregelung zu erwirken, um die Sanktionen angesichts des medizinischen Zustands und der besonderen geographischen Situation zu mildern. Hierzu hätte es laut Gericht auch im Rahmen der Umsetzung der Resolutionen Spielraum gegeben. Auf diese Weise hätte der persönlichen Situation Nadas stärker Rechnung getragen werden können.

Die Umsetzung der gezielten Sanktionen haben schon viele Gerichte beschäftigt. Am weitesten ging der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache Kadi: Ungeachtet des Artikel 103 der UN-Charta setzen sich nach Auffassung der Luxemburger Richterinnen und Richter Unionsgrundrechte im Zweifel durch.

Die Lösung des EGMR stellt einen neuen Ansatz dar, der sich weniger stark vom UN-Recht abgrenzt als die Rechtsprechung aus Luxemburg. Gleichzeitig trägt sie den Interessen des Individuums Rechnung, indem sie die verbleibende Verantwortung der Konventionsstaaten betont. Die Staaten können sich also nicht hinter dem Sicherheitsrat verstecken. Sie müssen jederzeit und soweit wie möglich auf die Durchsetzung der Menschenrechte hinwirken.

Der Autor Dipl. Jur. Matthias Lippold ist wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Völkerrecht und Europarecht der Georg-August Universität Göttingen. Er beschäftigt sich unter anderem mit der Rechtsprechung zur Umsetzung der Terrorlisten.

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Dipl. Jur. Matthias Lippold, Unschuldiger Terrorverdächtigter gewinnt in Straßburg: EGMR verurteilt Schweiz wegen Menschenrechtsverletzung . In: Legal Tribune Online, 14.09.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7081/ (abgerufen am: 30.09.2023 )

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