Ein nicht allzu festliches Jubiläum gibt es am Montag vor dem OLG Stuttgart zu feiern. Dort jährt sich der erste Prozess nach dem Völkerstrafgesetzbuch zum vierten Mal. Von den ursprünglich 16 Anklagepunkten sind inzwischen nur noch fünf übrig. Rolf Merk schildert die Schwierigkeiten, komplexe Geschehnisse auf einem anderen Kontinent mit den Mitteln des deutschen Strafrechts zu ergründen.
Seit dem 4. Mai 2011 läuft vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht (OLG) das erste Verfahren nach dem 2002 in Kraft getretenen Völkerstrafgesetzbuch (VStGB). Den beiden ruandischen Angeklagten werden vom Generalbundesanwalt neben der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland nach § 129b Strafgesetzbuch (StGB) auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vorgeworfen. Im Einzelnen geht es um Vorkommnisse aus dem Jahre 2009 während kriegerischer Auseinandersetzungen in der Demokratischen Republik Kongo. Die Angeklagten sollen hierbei als Rebellenführer Verbrechen der FDLR (Forces Dé-mocratiques de Libération du Rwanda) nicht verhindert und sich somit nach § 4 VStGB (Vorgesetztenverantwortlichkeit) strafbar gemacht haben.
In der Öffentlichkeit ist der Prozess fast vergessen. Dabei ist das Verfahren nicht nur wegen seiner bislang fast 300 Hauptverhandlungstage und der fünfeinhalbjährigen Untersuchungshaft der Angeklagten beachtenswert. Ein Blick in den Stuttgarter Gerichtssaal lohnt sich auch wegen der durchaus interessanten prozessualen und materiellen Rechtsfragen. Nicht zuletzt bietet der Prozess einen guten Anschauungsunterricht für das bekannte Zitat des Strafverteidigers Dahs, Verteidigung sei Kampf - Kampf um die Rechte des Beschuldigten.
Das Problem des Tatnachweises
Der Hauptangeklagte ist der Präsident der FDLR. Er lebt seit 25 Jahren in Deutschland. Von seiner Wohnung in Mannheim aus soll er dem Militär über Telefon und E-Mail Befehle erteilt und Gräueltaten seiner Truppen gegen die Zivilbevölkerung im zentralafrikanischen Dschungel nicht verhindert haben. Bereits hieraus wird die Herkulesaufgabe der Anklage ersichtlich. Denn der Tatnachweis erfordert eine Reihe schwer zu belegender Umstände: Dass überhaupt Kriegsverbrechen stattgefunden haben, dass diese von der FDLR begangen wurden, dass dies der Angeklagte wusste und er darüber hinaus die Macht und den Einfluss hatte, diese Verbrechen zu verhindern.
In vielen Fällen ist die Beweisaufnahme schon an den ersten beiden Punkten gescheitert. So wird etwa der Anklagevorwurf, die FDLR habe auch Kindersoldaten eingesetzt, inzwischen nicht mehr weiterverfolgt. Von den ursprünglich 16 Anklagepunkten sind nur noch fünf übriggeblieben. Vor allem aber wird eines offensichtlich: Es ist nahezu unmöglich, in einem deutschen Gerichtssaal aufzuklären, was vor Jahren in den Wirren des Krieges im Kongo geschah. Eingeflogene Zeugen aus Ruanda, für deren Objektivität niemand bürgen kann, werden tagelang vernommen und lassen, auch aufgrund der Schwierigkeit einer korrekten Übersetzung der Sprache Kinyarwanda, das Gericht meist ratlos zurück.
Die fehlende Tatverhinderungsmacht
Wenn Zeugen doch einmal bekunden, die FDLR habe Kriegsverbrechen begangen, kommt das Gericht erst zu dem eigentlichen Problem, nämlich der Kenntnis des Angeklagten und seiner Möglichkeit der Einflussnahme auf das Geschehen. Wären seine von Deutschland aus erteilten Befehle, auch gegen den Willen der örtlichen Kommandierenden, befolgt worden? Hätten die Soldaten tatsächlich auf ihn gehört? Auf diese Problematik der hypothetischen Kausalität hatte die Verteidigerin Ricarda Lang bereits zu Beginn des Prozesses hingewiesen. Inzwischen hat auch das Gericht in einem rechtlichen Hinweis diese Tatverhinderungsmacht in Zweifel gestellt – gleichzeitig aber betont, es käme beim Haupangeklagten ein untauglicher Versuch des § 4 VStGB in Betracht, "soweit er als Vorgesetzter oder vermeintlicher Vorgesetzter irrtümlich annimmt, er könne den Untergebenen an der Tatbegehung hindern und trotzdem nichts unternimmt, wenn der Untergebene die Tat ausführt".
Tatsächlich wird nach bisher herrschender Meinung grundsätzlich auch der untaugliche Versuch eines Unterlassungsdelikts als strafbar angesehen. Indes musste sich bisher noch kein Gericht mit der Frage befassen, ob eine Bestrafung auch dann in Betracht kommt, wenn sich jemand nur vorstellt, er habe Tatverhinderungsmacht. Ganz zu schweigen von der Frage, wie so etwas bewiesen werden kann.
2/2: Die politische Dimension des Verfahrens
So kann es gut sein, dass bei den Angeklagten am Ende des Verfahrens "nur" eine Bestrafung wegen Mitgliedschaft bzw. Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung übrigbleibt. Über die Problematik dieser Vorschrift ist schon viel diskutiert worden, und sie wird anschaulich, wenn der Angeklagte vorträgt, die FDLR sei eine Partei und keine Terrorgruppe – und er sei kein Terrorist, sondern ein ruandischer Oppositionspolitiker.
Wäre die FDLR heute an der Macht, säße jetzt der ruandische Präsident Kagame auf der Anklagebank, führt die Verteidigung aus. Und weist darauf hin, dass Kagame 2008 Deutschland besuchte, wenig später die Kommunikation der Angeklagten observiert und 2009 die Haftbefehle erlassen wurden. Um Licht in die politische Dimension des Verfahrens zu bringen, hat die Verteidigung bereits 2011 die damalige Generalbundesanwältin Monika Harms im Selbstladeverfahren geladen. Über die Hintergründe erfuhr man nichts, wohl aber, dass es sich bei dem Verfahren um eine "Grüne-Kreuz-Sache" handele, der Generalbundesanwalt also verpflichtet ist, direkt dem Bundesjustizministerium Bericht zu erstatten.
Das Ende ist greifbar
Das Zwischenfazit der meisten Prozessbeobachter lautet, es laufe gut für die Angeklagten. Mittlerweile wurden von den 16 Anklagepunkten elf eingestellt und die vollendete Vorgesetztenverantwortlichkeit vom Gericht in Frage gestellt. Im Dezember 2011 hat der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag die Anklage gegen den ehemaligen FDLR-Exekutivsekretär unter ähnlichen Erwägungen gar nicht erst zugelassen. Und die vielen Widersprüchlichkeiten bei den Zeugenaussagen, die Ungenauigkeiten bei der Übersetzung und die intransparente Zeugenauswahl verstärken den Verdacht, dass ein deutscher Gerichtssaal vielleicht der falsche Ort ist, um die Geschehnisse in Kipopo, Busurungi und Butolonga aufzuklären.
Solange die Angeklagten aber weiterhin in U-Haft sitzen, werden sie dem bisherigen Prozessverlauf wenig Positives entnehmen können. Ein Freispruch erscheint unwahrscheinlich, aber völlig offen ist, ob es tatsächlich zum ersten Mal zu einer Verurteilung wegen einer Norm aus dem VStGB kommt. Zurzeit bescheidet der Senat die offenen Beweisanträge der Verteidigung aus den Jahren 2011 bis 2015.
Erwartet wird, dass das Verfahren noch in diesem Jahr zum Abschluss gelangt, inklusive der womöglich mehrere Tage währenden Schlussplädoyers. Das Urteil des OLG Stuttgart wird aber ohnehin nur die erste Etappe sein - darüber sind sich alle Prozessbeteiligten im Klaren. Denn dieser Fall wird nicht nur in den deutschen Rechtsgeschichtsbüchern, sondern auch – sofern nicht der Bundesgerichtshof oder das Bundesverfassungsgericht Abhilfe verschafft – vor dem EGMR in Straßburg landen.
Der Autor Rolf Merk war früher Strafverteidiger und ist jetzt Referatsleiter im Hessischen Ministerium der Justiz. Er verfolgt das Strafverfahren vor dem OLG Stuttgart seit dem Beginn im Mai 2011.
Rolf Merk, Erster Prozess nach dem Völkerstrafgesetzbuch: Entwirren des Krieges . In: Legal Tribune Online, 04.05.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15429/ (abgerufen am: 01.10.2023 )
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