Ein "Wohlfühlprogramm für Vergewaltiger und Kinderschänder" nannte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann die Vorschläge des Bundesjustizministeriums zur Reform der Sicherungsverwahrung, andere kritisierten sie als "Minimalpapier". Dabei spielt die Sicherheit eine große Rolle in den Eckpunkten - und deren wahre Macher sitzen in Karlsruhe.
"Sieben Gebote" nennt das Bundesjustizministerium (BMJ) das in der vergangenen Woche vorgelegte Eckpunktepapier, mit dem das so genannte Abstandsgebot umgesetzt werden soll. Nicht nur der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, sondern am 4. Mai dieses Jahres auch das Bundesverfassungsgericht (BVerG) in Karlsruhe hatten die deutsche Sicherungsverwahrung vor allem deshalb für rechtswidrig erklärt, weil sie nicht weit genug entfernt ist vom Strafvollzug.
Binnen zwei Jahren müssen der Bund, der laut den Verfassungsrichtern die "wesentlichen Leitlinien" vorgeben muss, und die Länder nun neue Regelungen schaffen und dafür sorgen, dass die Voraussetzungen in der Praxis nicht umgangen werden können.
Kaum aber hat nun Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger die ersten Vorschläge vorgelegt, hagelt es Kritik von allen Seiten.
Von "zu wenig" bis "Wohlfühlprogramm"
Nordrhein-Westfalens Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) bemängelte, das BMJ habe "nur ein Minimalpapier" vorgelegt und äußerte sich dabei noch vergleichsweise moderat. Anders der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU): Er nannte das Konzept ein "Wohlfühlprogramm für Vergewaltiger und Kinderschänder".
Rainer Wendt, Chef der deutschen Polizeigewerkschaft, befürchtete im Gespräch mit der BILD-Zeitung gar "Gefangenenrevolten". Grund ist der Vorschlag aus den Eckpunkten, den verurteilten Straftätern schon während der Haft, die der Sicherungsverwahrung vorausgeht, eine individuelle und intensive Betreuung anzubieten. "Die schlimmsten Verbrecher kriegen im Knast die beste Behandlung. Das werden sich andere Häftlinge nicht gefallen lassen", kommentierte Wendt dieses Vorhaben gegenüber der BILD.
Für Empörung sorgt auch, dass die Betroffenen so untergebracht werden sollen, dass ihre Lebensverhältnisse nicht nur anders sind als die im Strafvollzug, sondern vielmehr dem Leben in Freiheit so ähnlich wie möglich.
Betreuung, Lockerung, Entlassung
Die Eckpunkte wollen noch mehr: Die regelmäßige Höchstdauer der Sicherungsverwahrung liegt nun wieder bei zehn Jahren, ihre Fortdauer muss in mindestens jährlichen Abständen gerichtlich überprüft werden. Tendenz: Mit der Zeit steigend.
Die Untergebrachten sollen einen Anspruch auf einen Verteidiger erhalten und Beschwerde einlegen können gegen gerichtliche Entscheidungen zu ihrer Sicherungsverwahrung.
Schließlich ist geplant, so früh wie möglich Vollzugslockerungen zu gewähren und die Straftäter mit Hilfe staatlicher und freier Träger in Freiheit nachsorgend zu betreuen. Höhepunkt des liberalen Manifests: Die Sicherungsverwahrung soll nicht verhältnismäßig sein, wenn dem Straftäter die Betreuung nicht nach einem bestimmten Zeitraum angeboten worden ist. Die Konsequenz der Unverhältnismäßigkeit wäre die Entlassung aus dem Vollzug.
Schluss mit "Wegschließen, und zwar für immer"
Dem BMJ unter seiner liberalen Führung ist durchaus bewusst, dass gerade diese Möglichkeit, den Untergebrachten bei nicht ausreichender Betreuung zu entlassen, nicht nur für Diskussions- sondern auch für Zündstoff sorgt.
Mit dem deutschen Konzept im Umgang mit Schwerststraftätern mindestens des letzten Jahrzehnts haben die Eckpunkte der Bundesjustizministerin jedenfalls nicht mehr viel gemeinsam. Frei nach dem Motto des Ex-Bundeskanzlers Gerhard Schröder "Wegschließen, und zwar für immer" wurde jeder Schwerststraftäter so lang wie nur irgend möglich inhaftiert. Damit ist nun Schluss.
Jetzt geht es darum, die Sicherungsverwahrung zu vermeiden, wenn es nur irgendwie geht. Sie ist das letzte Mittel, zu dem der Staat greifen darf. Immerhin hat der Täter, gegen den diese Art der freiheitsentziehenden Maßregel verhängt wird, für gewöhnlich seine Strafe bereits abgesessen. Allein die Strafe aber ist tat- und schuldangemessen, nur sie hat der Täter "verdient". Die anschließende Sicherungsverwahrung hingegen dient nur noch der Sicherheit der Allgemeinheit vor der Gefährlichkeit des Täters. Jede zukünftige Regelung der Sicherungsverwahrung muss das berücksichtigen.
Das ist nur der Anfang
Aber es gilt, die Kirche im Dorf zu lassen. Nicht nur den durch Politiker medienwirksam kommentierten, sondern auch den medial kolportierten Informationen muss man nur wenig hinzufügen, um sie in einem gänzlich anderen Licht erscheinen zu lassen.
Die vorgelegten Eckpunkte regeln in der Tat nicht, für welche Straftaten die Sicherungsverwahrung anzuordnen sein wird. Ebenso wenig erklärt das Dokument, woher das zusätzliche Personal kommen soll, das die Straftäter betreuen und die Einhaltung der Vorgaben kontrollieren soll.
Das bedeutet allerdings nicht, dass nun "nur ein Minimalpapier" zu kritisieren wäre. Im Gegenteil sind die Eckpunkte ausdrücklich betitelt mit "Erste Vorschläge", es folgt der Untertitel "hier: Bundesrechtliche Umsetzung des Abstandsgebots ('sieben Gebote')". Ganz behutsam nähert sich das Papier mit vielen Konjunktiven und Formulierungen wie "es wird zu diskutieren sein".
Deutlicher kann man kaum machen, dass es qualitativ eine Diskusssionsgrundlage und quantitativ nur ein Anfang sein soll.
Voraussetzung und Ziel: Die Sicherheit der Allgemeinheit
Auch inhaltlich dürfte es bei Weitem nicht so schlimm kommen wie die Sicherheitsexperten befürchten. Die intensive Betreuung der Straftäter während der Strafhaft und anschließenden Sicherungsverwahrung wird sicherlich auch in Zukunft nicht zu einem "Wohlfühlprogramm" für die Verurteilten führen.
Die Betreuungsangebote sind vielmehr häufig Maßnahmen, die große Anstrengung der Gefangenen und ihre intensive Mitarbeit erfordern. Sie setzen ihr Interesse an einer Freilassung und der Integration in die Zivilgesellschaft voraus. Es geht nicht um einen Fernseher in der Gefängniszelle oder hochwertigere Gefängniskost für besonders schwere Straftäter, wie markige Sprüche etwa des Polizeigewerkschafts-Chefs Wendt nahe legen.
Vor allem aber ist die individuelle und intensive Betreuung der Straftäter kein Selbstzweck. Natürlich soll sie dazu führen, dass die Untergebrachten irgendwann wieder entlassen werden können. Die Entlassung aber ist nur die Konsequenz des Therapieerfolgs – der Fähigkeit eines ehemaligen Straftäters, sozial zu leben und keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit darzustellen. Dieses Ziel dürfte in jeder Hinsicht und ohne Widerspruch konsensfähig sein.
Selbst die Entlassung aus der Sicherungsverwahrung für den Fall, dass die intensive und individuelle Betreuung des Straftäters nicht gewährleistet werden kann, führt nicht zum "Kinderschänder in der Nachbarschaft", den die Boulevardpresse so fürchtet. Wer aus diesem Grund entlassen wird oder die Sicherungsverwahrung gar nicht erst antreten muss, wird unter Führungsaufsicht gestellt.
Gänzlich unzweideutig legen die Eckpunkte auch fest, dass die Verwahrten nur dann "möglichst wenig belastend" und "den allgemeinen Lebensverhältnissen angepasst" untergebracht werden können, wenn Sicherheitsbelange nicht entgegenstehen. Und das ohne Regel-Ausnahme-Verhältnis: Ist der Straftäter zu gefährlich für die Allgemeinheit, kommt eine Unterbringung nah dran am Leben in Freiheit schlicht nicht in Frage.
Die Verteidigung kam vor dem Angriff
Am Ende ist es aber nicht nur dieser zweite Blick auf den Inhalt des Eckpunktepapiers, der die öffentliche Kritik daran als mindestens polemisch erscheinen lässt. Denn die eigentlichen Verfasser der liberalen Proklamation, die die Bundesjustizministerin vorgelegt hat, sitzen in Karlsruhe.
Die Reformvorschläge könnten sich kaum enger an die Vorgaben des BVerfG halten. Es ist selbst bei dem flüchtigen Blick, den Presse und Politik gerade in Sicherheitsfragen gern auf Vorschläge aus dem liberalen Ministerium werfen, kaum möglich zu überlesen, dass die Spielräume, die die Verfassung lässt, eng begrenzt sind.
Wer Wohlfühlprogamme monieren und Gefangenenrevolten prognostizieren wollte, hätte das allerspätestens im Mai dieses Jahres tun können - und müssen. Die empörten Kritiker der Eckpunkte müssen sich fragen lassen, ob sie nicht in der Lage oder gewillt sind, wenigstens Urteile des höchsten deutschen Gerichts zu lesen.
Das BMJ setzt fast ausschließlich um, was die Bundesverfassungsrichter vorgegeben haben. Vielleicht ist das der einzige Vorwurf, den man dem Eckpunktepapier machen kann. Schon seine Aufmachung betont die extreme Nähe zur Karlsruher Entscheidung. Die einzelnen Vorschläge zur Reform der Vorschriften finden sich jeweils neben ihrem Korrelat aus dem Urteil der Verfassungsrichter.
Fast wirkt es, als rechtfertigten die Vorschläge sich mit den Original-Tönen aus Karlsruhe. Dabei ist bekanntlich nicht Verteidigung die beste Verteidigung. Aber vielleicht geht es auch nicht anders, wenn statt Urteilen nur noch Pressemitteilungen gelesen und statt sachlicher Information nur noch Schlagwörter kolportiert werden.
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EGMR zur Sicherungsverwahrung: "Es geht eben nicht nachträglich!"
Pia Lorenz, Reform der Sicherungsverwahrung: . In: Legal Tribune Online, 01.08.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3909 (abgerufen am: 13.12.2024 )
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