Das AG Dresden hat beantragt, die Immunität des neuen Ministerpräsidenten Thüringens, Bodo Ramelow, aufheben zu lassen. Er habe 2010 eine Nazi-Versammlung blockiert, so der Vorwurf. Linke Politiker und Medien sprechen vom "Verfolgungsdrang" einer vermeintlich politisierten Justiz. Dabei werden falsche Fronten gezogen und Fragen vermischt, die miteinander nichts zu tun haben, meint Christoph Smets.
Das Amtsgericht (AG) Dresden hatte am 3. Dezember die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Bodo Ramelow (LINKE) beantragt, zwei Tage vor dessen Wahl zum Ministerpräsidenten Thüringens. Der Richter beabsichtigt, ein Verfahren wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz (VersG) gegen ihn weiterzuführen. Ramelow soll nach Auffassung der Dresdner Staatsanwaltschaft im Jahr 2010 die friedliche Blockade eines genehmigten Umzugs der rechten 'Jungen Landsmannschaft Ostpreußen' "maßgeblich mitinitiiert" haben. Der Prozess war zunächst im Frühjahr eingestellt worden, soll nun jedoch weitergeführt werden.
Die Linke hatte nach dem Antrag auf Aufhebung der Immunität Ramelows schwere Vorwürfe gegen die sächsische Justiz erhoben. "Dieser Verfolgungsdrang ist an Absurdität nicht zu überbieten. Damit soll die Zivilgesellschaft eingeschüchtert werden", sagte Ramelow der Deutschen Presse-Agentur in Erfurt. "Die Kriminalisierung friedlicher Anti-Nazi-Proteste ist empörend. Zivilcourage ist kein Verbrechen", sagte die Bundesvorsitzende Kipping dem Berliner Tagesspiegel.
Nach Bekanntwerden des Antrags am 9. Dezember dauerte es nicht lange, bis sich auch in den Medien die ersten kritischen Stimmen zu Wort meldeten. Christian Bomarius von der BZ erkennt im Vorgehen des AG zu diesem Zeitpunkt eine Blamage und meldet Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz an. Heribert Prantl von der SZ wird noch vollmundiger: Bereits das Ausgangsverfahren sei "mutwillig inszeniert" und eine "Bosheit". Außerdem spricht er davon, dass "[d]ie Sicherheitsbehörden in Dresden […] couragierte Leute, die sich Aufmärschen der Neonazis in den Weg stellen", sekkierten und kriminalisierten.
Augenscheinlich gehen bei den meisten Kommentaren zwei völlig unterschiedliche Aspekte Hand in Hand, deren Kombination zumeist die Grundlage für den öffentlichen Furor bildet: Zum einen die Frage, warum die Aufhebung der Immunität zu gerade diesem Zeitpunkt beantragt wurde und zum anderen jene nach der Legalität und Legitimität von Versammlungsblockaden schlechthin. Rechtliche Grundprinzipien wie etwa das Legalitätsprinzip und, spezieller, der § 21 VersG werden hingegen großzügig übergangen.
Ramelow hat das Verfahren selbst initiiert
Schon beim Blick auf den Verfahrensgang kann wohl kaum von einem "Verfolgungsdrang" die Rede sein. 2012 hatte das AG einen Strafbefehl über 20 Tagessätze zu je 170 Euro erlassen, gegen den Ramelow Einspruch eingelegt hatte. Im Grunde wäre dann der Abschluss des Strafbefehlsverfahrens nötig gewesen. Stattdessen hatte das Gericht das Verfahren im Mai dieses Jahres wegen Geringfügigkeit wohl nach § 153 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO) eingestellt. Dabei war es aber nicht auf Ramelows Bedingung eingegangen, dass die Justizkasse die Anwaltskosten übernimmt.
Das Gericht kann nämlich bei einer Einstellung nach Ermessen davon absehen, die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse aufzuerlegen, § 467 Abs. 4 StPO. Es ist nicht klar, ob Ramelow in der Folge nur den Beschluss über die notwendigen Auslagen oder den Einstellungsbeschluss selbst angegriffen hat. Letzteres wäre nach § 153 Abs. 2 S. 4 StPO bei wirksamen Einstellungen gar nicht möglich.
An einer solchen fehlte es allerdings vorliegend, weil die bedingte Zustimmung Ramelows als fehlende zu deuten war. Als Prozesserklärung ist die Zustimmung nämlich bedingungsfeindlich, sodass der Angeschuldigte sie gerade nicht von der Übernahme seiner Anwaltskosten abhängig machen konnte. Das Verfahren hätte also gar nicht eingestellt werden können.
Wahrscheinlicher ist also, dass Ramelow das Verfahren mit der einfachen Beschwerde gem. § 304 StPO angegriffen hat, weil eine der prozessualen Voraussetzungen der Einstellung gefehlt hat.
Das Amtsgericht, an welches das LG zurückverwiesen hatte, musste nun aufgrund des erneuten Verfahrens und weil in der Zwischenzeit eine neue Legislatur begonnen hatte, einen Antrag auf Immunitätsaufhebung stellen. Es steht in seinem freien Ermessen, ob es nunmehr die Hauptverhandlung eröffnet oder erneut einstellt, ob mit oder ohne Übernahme der Anwaltskosten.
Warum gerade jetzt?
So weit, so unspektakulär. Bleibt der Zeitpunkt des justiziellen Geschehens.
Das AG Dresden wusste seit Juni, dass ein erneutes Verfahren notwendig werden würde. Zwar ist ein halbes Jahr bei der Arbeitsbelastung eines durchschnittlichen Gerichts keine unerklärlich lange Zeitspanne. Da die Angelegenheit aber politisch delikat ist, hätte das Gericht sicherlich schon im Sommer den Antrag auf Aufhebung der Immunität stellen können. Linke-Bundestagsfraktionschef Gregor Gysi warf dem zuständigen Richter deshalb politische Motivation vor. "Er hätte das monatelang tun können und wird nun erst zur Wahl zum Ministerpräsidenten tätig", beklagte er in der Welt.
Diese Vorwürfe sind jedoch unbegründet. Der Antrag kann zwei Tage vor der Wahl Ramelows wohl kaum Auswirkungen auf diese gehabt haben. So wurde er überhaupt erst am 9. Dezember bekannt, die Wahl fand aber bereits am 5. Dezember statt. Offensichtlich ist auch nichts vorher "durchgesickert", sodass weder das Parlament noch die Öffentlichkeit vor der Wahl informiert waren.
Im Gegenteil: Wäre der Antrag früher, nämlich mitten im Wahlkampf ergangen, hätte er diesen wohl eher beeinflussen können und hätte der Justiz erst Recht den Vorwurf der Parteinahme eingebracht. DIE LINKE Thüringen gab jedoch selber an, der Wahlkampf sei bereits im Juli in "die heiße Phase" gegangen. Umgekehrt wäre ein weiteres Zuwarten schwerlich möglich, denn im Januar droht bereits die Verjährung des Tatvorwurfs. So blieb dem AG eigentlich kaum ein "richtiger" Zeitpunkt.
2/2: "Friedliche" Versammlungsblockade?
Herr Ramelow gibt an, selbst nur als Vermittler zwischen Demonstranten und Polizei aufgetreten zu sein. Die Anklage hingegen geht offenbar davon aus, dass er die Blockade des Aufzugs maßgeblich mitinitiiert habe. Was zutrifft, könnte etwa im Prozess geklärt werden. Geht man von der Version der Staatsanwaltschaft aus, so sind die Klagen darüber, dass hier Zivilcourage und friedliche Proteste gegen Nazis kriminalisiert werden sollten, jedenfalls fehl am Platze.
Denn sie übersehen, dass eine Blockade zwar nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu § 240 Strafgesetzbuch (StGB) keine Gewalt im Rechtssinne darstellt, deswegen aber noch kein "friedlicher" Protest sein muss. Im Gegenteil übt eine Blockade Zwang auf die blockierte Versammlung aus, weil deren Teilnehmer nicht einfach über die Protestler hinweg laufen können.
Dieser Zwang braucht auch nicht erst kriminalisiert zu werden, denn er es ist es bereits in § 21 VersG. Danach macht sich strafbar, wer in der Absicht, nichtverbotene Versammlungen zu sprengen, "grobe Störungen" verursacht. Gewalt muss danach nicht einmal angewendet werden. Gerade eine Blockade kann daneben auch tateinheitlich den Straftatbestand der Nötigung (§ 240 StGB) erfüllen.
Demokratie muss mit allen Meinungen umgehen können
Die Strafbarkeit hat auch gute Gründe. Denn sie will eigentlich jenes Gut schützen, das die Gegendemonstranten hier für sich vereinnahmen: die Demokratie.
Eine Meinungskundgabe zu verhindern, ist zutiefst undemokratisch. Der Grundgesetzgeber hat sich für einen freien und offenen Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes entschieden. Die für die freiheitliche Demokratie konstituierende Meinungsfreiheit ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung. Diese zu zensieren, steht weder dem Staat noch dem Privaten in einer Volksherrschaft zu. Es steht den Gegendemonstranten natürlich jederzeit frei, anschließend oder gleichzeitig ihre Meinung kundzugeben, um dadurch einer abgelehnten Meinung ein Gegengewicht zu geben.
Bei allem Verständnis für den Wunsch, etwas gegen Neonazis zu unternehmen: es ist sehr einfach, nur Versammlungen zu begrüßen, die das wiedergeben, was man selbst auch denkt. Die Auffassung, man habe das Recht, die Äußerung unliebsamer Meinungen zu verhindern, weil man sie nicht mag oder nicht hören will, zeugt nicht von einer demokratischen Gesinnung dessen, der sie vertritt.
Wer Mut hat, hat es nicht nötig, jemandem den Mund zu verbieten
Der Demokratietest liegt an anderer Stelle. Das BVerfG betont seit jeher, dass nicht die angenehme Mehrheitsmeinung den Schutz der Meinungsfreiheit besonders braucht, sondern gerade die provokative, vielleicht verachtenswert erscheinende „unabhängig davon, ob die Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird“ (Beschl. v. 10.10.1995, Az. 1 BvR 1476 – Soldaten sind Mörder; Beschl. v. 23.03.1971, Az. 1 BvL 25/61 und 3/62 – Jugendgefährdende Schriften). Die Versammlungsfreiheit umfasst zudem die Wahl von Ort und Zeit einer Versammlung (BVerfG, Beschl. v. 14.05.1985, Az. 1 BvR 233, 341/81 – Brokdorf).
Dieses Gebot ist derartig fundamental für die rechtsstaatliche Demokratie, dass der Gesetzgeber es als nötig ansah, die ultima ratio des Strafrechts auf diejenigen anzuwenden, die eine Versammlung verhindern oder sprengen wollen. Dass der Großteil der Gesellschaft die üblicherweise als neonazistisch bewerteten Inhalte ablehnt, gar verabscheut, ist ein gutes Zeichen – ihre Kundgabe verhindern darf man gleichwohl nicht.
Daher zeigt der Fall Ramelow mit Sicherheit keinen Verfolgungsdrang, sondern vielmehr eine falsch verstandene Art der Zivilcourage. Wer Mut hat, hat es nicht nötig, jemandem den Mund zu verbieten. Subjektive Demokratie bedeutet, andere ihre Meinungen sagen zu lassen, um anschließend mit lauter Stimme und breiter Unterstützung die eigene dagegen zu stellen. Die verachtete Ansicht zu ertragen, um sich anschließend gegen ihren Inhalt zu stellen, das ist Zivilcourage. Speziell Angehörigen der Partei DIE LINKE mag dies bekannt sein: "Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden. […] weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt […]."
Der Autor Christoph Smets ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre der Universität Düsseldorf.
Christoph Smets, Sitzblockaden und der "Fall Ramelow": Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden . In: Legal Tribune Online, 16.12.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14117/ (abgerufen am: 24.04.2024 )
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